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Die Kirschprinzessin von Christina Leicht

Die Erdbeeren sind spät dran dies Jahr. Wie, noch keine Erdbeeren, sagen die Leute. Lola vergräbt die Hände in der Jacke. Mit Glück nächste Woche, sagt sie. Glück muss man haben, kommt es zurück. Stimmt auch wieder, sagt Lola. Auf der anderen Straßenseite blüht schon der Raps. Das ist, als scheint die Sonne, selbst wenn sie gar nicht da ist.

Im Bauwagen ist es eng. Eine schmale Matratze in der einen Ecke, ein wackliger Tisch mit Plastikdecke vor dem schmutzigen Fenster. Lola sitzt lieber draußen und schaut den Autos nach. Zuerst haben nur die, die zur Tankstelle wollen, den blauen Bauwagen mit dem kleinen Obststand davor bemerkt. Dann hat sie Schilder aufgestellt am Straßenrand: LOLA - Frische Erdbeeren in 100m. Jetzt läuft es, viele kommen wieder und mit manchen kommt sie ins Gespräch. Dass sich das lohnt, sagen einige, und im Winter. Bis dahin, sagt Lola. Dann lacht sie. Ihr Lachen hat etwas. Es fährt den Leuten in den Magen, manchmal auch tiefer. Lola will das gar nicht. Aber es ist nicht zu ändern, nicht einmal jetzt, wo sie nur mit der linken Seite lacht. Rechts oben fehlt ihr seit kurzem ein Zahn. Weggebrochen, die Zahnwand, einfach so.

Einfach so, sagt Artur. Er glaubt ihr nicht. Für ihn ist Lola keine, der man glaubt, dabei: verlogen ist sie nicht. Weggebrochen, einfach so, wiederholt er, was ist denn das wieder für ein Trick. Wieso Trick, sagt Lola, zum Zahnarzt gehe ich doch eh nicht. Zahnärzte sind Pfuscher, da ist sie sich mit Artur einig, was nicht oft der Fall ist. Das nimmt noch mal ein schlimmes Ende mit dir, sagt Artur. Allein deshalb kann sich Lola glücklich schätzen einen wie ihn bekommen zu haben. So einen Doofen kriegste nicht wieder, sagt er und Lola schaut an ihm vorbei aus dem Fenster und denkt, hoffentlich. Im selben Atemzug packt sie das schlechte Gewissen. Ein Leben ohne Artur. Undenkbar. Sie zwingt ihre Gedanken zur Freundlichkeit. Artur, der ihr erster Freund gewesen ist, der ihr im klapprigen Renault die Revolvergangschaltung erklärt hat, der mit ihr nachts im Baggerloch zum Schwimmen war und ihr eine Wolldecke über die Schultern gelegt hat. Artur, gekommen aus dem Nichts einer Trabantenstadt, nichts geworden außer übergewichtig, nichts in der Hand außer kaputte Träume, Artur, der es gerade noch vom Sofa zum Kühlschrank schafft.

Zum Glück gibt es jetzt den Bauwagen. Der Bauwagen stand im Gestrüpp am Ende des Ackers, der mit zu dem Bauernhaus gehört, in dem sie leben. Das Bauernhaus hat zwei Zimmer mit Blick auf die Außentoilette. Hier wollten sie zur Ruhe kommen. Artur hat schon angefangen damit, er liegt alle Tage nur im Bett wie gefesselt daran, die Ohren mit rosa Wachswatte verstopft ohne Interesse für das Dorf, in das es sie verschlagen hat. Das Dorf liegt an der Überlandstraße, hinter Hochöfen und Fabrikschloten, zwischen Feldern und dem Rhein. Die wenigen Häuser ducken sich unter den niedrigen Himmel und wenn es regnet, fallen graue Tränen auf Kohl und Kirschbaum. Lola hat den Bauwagen allein vom Gestrüpp befreit und blau angemalt.

Grünzeug an der Straße verticken, hat Artur gesagt, hast du sie noch alle. Diesmal ist sie fest geblieben und jetzt sitzt sie täglich unterm Ahorn am Straßenrand. Träumt sich in die vorüber fahrenden Autos, sehnt sich in andere Leben. Kaut Fingernägel bis aufs Fleisch herunter. Schweigt über das, was sie sieht, vor allem vor Artur und vor allem darüber, dass der Parkplatz abends anderweitig genutzt wird. Sie kommen, wenn es dunkel wird und sie sind immer zu vielen. Wer es nicht weiß, sieht es nicht, Papiertücher und gebrauchte Kondome im Löwenzahn, zufällige Indizien, in denen nur Artur einen nachweisbaren Zusammenhang zu Lola sehen würde. Nur gut, dass er keine Ahnung hat von Camillo.

Biggi von der Tankstelle sagt, sie glaubt nicht, dass er Camillo heißt. Eigentlich ist sie Lolas Freundin, aber beim Thema Camillo geraten sie sich jedes Mal in die Haare. Camillo, sagt Biggi, so heißen Katzen. Oder Künstler, sagt Lola, das Aussehen dazu hat er. Ich glaub es nicht, sagt Biggi, fällt auf den erstbesten Landstraßencasanova rein. So redet eine, die keine Ahnung hat, sagt Lola, denn an dem Tag, als Camillo kam, hatte Biggi frei und kann sich kein Urteil erlauben. Wie du meinst, sagt Biggi und wischt an der Scheibe ihrer Verkaufstheke. Lola kaut auf einer Rosinenschnecke herum und sagt: Camillo kommt wieder. Dir ist nicht zu helfen, sagt Biggi, aber wenigstens lässt Lola jetzt ihre Findernägel in Ruhe. Sie wachsen und sind bald lang genug, dass sie sich Biggis pinken Nagellack ausleihen kann. Lola träumt von Camillo und auf den Acker pflanzt sie Sonnenblumen.

Wenn sie heimkommt, schläft Artur vor dem laufenden Fernseher. Einmal ist es Ende Juli draußen und blauer Himmel noch spätabends. Die Luft ist warm, Vögel zwitschern und plötzlich stehen ihr die Erinnerungen an die Revolvergangschaltung und das Baggerloch im Kopf wie ungebetene Gäste. Schon geht sie neben Artur in die Knie, ein rosa Ohrstöpsel ist ihm aus dem Ohr gerutscht. Artur, sagt sie leise und streicht ihm mit ihren schönen neuen Fingern durchs fettige Haar. Artur fährt sogleich auf. Was schreist du so, fragt er und zieht die Decke hoch. Er riecht ungewaschen. Lola bereut, dass sie gekommen ist. Ich war gerade eingeschlafen, schmollt er. Lass uns raus gehen, sagt Lola, bitte. In den Nikolausgrill. Da war ich schon, sagt Artur unzufrieden, zu schlechte Luft da draußen. Da war es ja in der Stadt noch besser.

Lola wirft das Baggerloch und die Revolvergangschaltung zur Tür hinaus. Gleichzeitig weht ein neuer Wind herein, der lässt Lola eine Tasche packen und zu Artur sagen, von nun an werde sie im Bauwagen übernachten. Ich hol dich da nicht raus, droht Artur und trotzdem schleppt Lola noch am selben Abend den schweren Reisekoffer allein die Überlandstraße entlang zum Bauwagen. Kaum wird es dunkel, werden alle Verwünschungen wahr. Es wimmelt von Käfern und Spinnen im Bauwagen, hinzu kommt das Gestöhne von den Parkplatzsexleuten. Lola stellt das Radio lauter und als sie merkt, wie etwas ihr Bein hoch krabbelt, packt sie das zappelnde Vieh und schmeißt es über die Schulter hinter sich in die Dunkelheit des Wagens. Wenn Artur ihr in den Sinn will, schließt sie die Augen und stellt sich Camillos dunkle Haut vor und sein weiches Haar, wie es ihre Brust gestreichelt hat.

Sie wartet auf ihn wie ihre Sonnenblumen auf Regen.

Seit Camillo setzt Lola auf Kleider. Im verschossenen schwarzen Seidenkleid spaziert sie die Straße entlang, die Haare aufgesteckt zur Krone. Endlich keiner mehr, der ihr sagt, was sie anziehen soll. Auch keiner, dem ihre Kleider auffallen. Jetzt kommt ihr doch wieder Artur in den Sinn. Der hätte gewusst, dass Lola etwas vorhat, wenn sie so ein Kleid anzieht. Das ist nun vorbei.

Vorbei wie die Erdbeerzeit, Kirschen gibt es noch und Pflaumen. Wenn wenig los ist, wandert sie auf dem Grünstreifen vor dem Parkplatz auf und ab. In der Ferne sieht sie die Brückenpfeiler der Rheinbrücke und abends den Sonnenuntergang. Die Fabrikschlote blasen ihren Qualm von der anderen Rheinseite in den Sonnenuntergang. Das Feld gegenüber wogt wie grünes Meer und das Unkraut auf dem Parkplatz schießt in die Höhe. Lola kocht Marmelade auf dem Kocher hinter dem Bauwagen. Später geht sie wieder am Grünstreifen entlang, bis die Sehnsucht in ihr wuchert wie eine Brennnessel. Wenn ein vorüber fahrendes Auto hupt, dreht sie sich nicht um. Natürlich ist es nicht Camillo. Nie würde Camillo hupen.

Die Hitze kommt und legt Lola lahm. Im Liegestuhl legt sie die geschwollenen Beine hoch und rührt sich nicht vom Fleck. Die Nummernschilder der Autos senden Botschaften von unterwegs:

GL-UT. DU-DA. KO-MM. Andere Briefe werden nicht geschrieben. Lola löst Kreuzworträtsel und sieht manchmal zur Straße. Sie bekommt alle Lösungswörter raus.

Die Hitze schreckt die Parkplatzleute nicht, im Gegenteil, es wird immer schlimmer und einmal ist sogar ein Kamerateam dabei. Lola erwischt sich bei dem Wunsch, mitzumachen und lacht. Ihre Liebe treibt seltsame Blüten. Als wäre sie so eine. Das käme Artur gerade recht. Artur, der gefragt hat, wann sie zurückkommt, als sie die Wäsche gemacht hat. Aufgesetzt hat er sich dazu auf dem Sofa und sie angesehen. Also gut, hat Lola da gesagt und so tief Luft geholt, dass ihr schwindelig geworden ist, also gut: Es gibt da jemanden. Jetzt ist es in der Welt, hat sie gedacht, und was in der Welt ist, ist wahr. Hab ich’s doch gewusst, hat Artur gesagt, so eine bist du. Und sich die Ohren verstopft und gleich wieder hingelegt, mit dem Rücken zu ihr.

Was verkaufst du denn sonst noch so, fragt der Kunde. Er fährt einen gelben Sportwagen mit Rallyestreifen. Die schwarzen Haare hat er straff zurückgekämmt und im Kreuz ist er breit wie ein Gewichtheber. Nichts, sagt Lola und zieht die dünne Bluse enger um das schwarze Kleid. Die Luft ist warm, es riecht nach gemähtem Gras, Motorräder knattern vorbei und Cabrios mit offenem Verdeck. Der Sommer nimmt kein Ende dieses Jahr. Nichts, wiederholt der Kunde und schaut ihr in den Ausschnitt, das soll ich dir glauben. Lola sieht an ihm vorbei zur Straße. Die Straße ist menschenleer. Du bist doch Lola, oder, sagt der Kunde. Um den Hals trägt er eine Gliederkette, die sich in seinem schwarzen Brusthaar verkriecht wie eine Schlange im Unterholz. Und wenn schon, sagt Lola. Von den Zehen her klettert die Angst ihr die Beine hoch. Na also, sagt der Kunde, ich hab gehört, du bist für einen Spaß zu haben. Die Angst windet sich in ihrem Bauch, von wem, fragt sie. Der Kunde lacht. Insider-Tipp, sagt er. Lola knotet die Bluse fest, ich bin nicht allein, sagt sie trotzig, mein Freund muss gleich hier sein, mein Freund Camillo. Der Kunde stutzt, dann grinst er. Camillo, sagt er und packt ihre Schulter mit festem Griff, klar. Der kommt bestimmt. Lola verrenkt sich den Kopf nach der Straße, immer noch alles gottverlassen und kein Mensch zu sehen, erst recht nicht Camillo, obwohl doch Sonntag ist.

An einem Sonntag wie diesem ist es gewesen, dass er seinen weißen Toyota an ihrem Baum geparkt hat, um Kirschen zu kaufen. Seine Augen blitzten und ein Funke sprang über, das reichte, wie eine Wunderkerze brannte sie lichterloh binnen Sekunden. Die Kirschen aßen sie gemeinsam und die Kerne spuckten sie über den Grünstreifen bis auf die Straße. Die Luft war weich an diesem ersten Sommertag des Jahres, sie legten sich in das Gras unter dem Ahorn und fächelten sich gegenseitig Luft zu mit den bunten Seiten der Sonntagszeitung. Lola schlug weiter Funken bei der kehligen Wärme in Camillos Stimme, mit der er zu ihr sprach. Er holte Wein in der Tankstelle, der fuhr ihr gleich ins Blut und sie bewunderte seine glatten dunklen Arme. Camillo sah sie an und sagte, sie sei eine Kirschprinzessin, ob sie wisse, was das sei und sie sagte, nein, aber so schön hätte sie noch keiner genannt. Sie blieben liegen im Gras zwischen Klee und Butterblumen, bis es Abend wurde, die Leute vom Parkplatzsex kamen und trotzdem gab es nur sie beide. Dann endlich lagen sie auf der schmalen Matratze im Wagen und Camillo war über ihr mit seinen blitzenden Augen, er hielt sie, als hätte er einen Schatz gefunden, sie, die Kirschprinzessin, und Lola dachte an gar nichts mehr, auch nicht an Artur und nicht einmal, dass es noch ein schlimmes Ende nehmen würde mit ihr.

Lola reißt sich los. Pfoten weg, sagt sie. Ihre Stimme ist rau und belegt. Der Kunde lacht. Warum denn, sagt er und fasst nach ihr, seine Hand ist breit mit Haaren selbst auf den Fingern und Lola denkt an die Kirschprinzessin und den Ahornbaum und ein Leben länger als die Dauer einer Wunderkerze und dann fängt sie an zu schreien.

Biggi kommt aus der Tankstelle gesaust. Sie ist noch nicht ganz bei ihnen, da lässt der Kunde bereits ab von Lola. War doch nur Spaß, mault er und Biggi legt den Arm um Lola. Sie drückt Lola an sich, während der Kunde ins Auto steigt, mit quietschenden Reifen wendet und davonjagt wie böser Spuk.

Abends ziehen dunkle Wolken auf über dem Feld, die Luft gerät in Bewegung. Lola sitzt unter der flatternden Markise und sieht zu, wie die schwarze Wand näher rückt. Biggi hat gesagt, Lola soll mit ihr kommen diese Nacht nach all der Aufregung und jetzt noch Unwetter, aber Lola hat abgelehnt. Nun ist Biggi fort und Lola trägt eine neue Schicht vom pinken Biggilack auf.

Eine Windböe drückt das Unkraut zu Boden, der Ahorn wirft sich mächtig ins Kreuz. Besser, sie räumt die Kisten in den Wagen. Vor aufgewirbeltem Staub ist die Straße kaum noch zu erkennen, die wenigen Autos fahren langsam mit eingeschaltetem Licht. Lola sieht nicht, wie der weiße Toyota auf den Parkplatz einbiegt, erst als er gleich neben ihr hält, blickt sie auf. Die ersten warmen Regentropfen klatschen groß wie Kirschen auf den Asphalt. Camillo beugt sich hinüber zur Beifahrertür und öffnet sie. Seine Augen blitzen ihr entgegen.

Steig ein, sagt er, es geht los.