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Alphatiere von Sabine Raml

Ich denk mir jeden Tag ein neues Wort aus. Manchmal leg ich mich extra in die Badewanne deshalb. Lieg da, bis mir kalt ist, aber heute dreh ich den Hahn mit dem heißen Wasser wieder auf und betrachte lange meine Knie. Zwei verbrannte Hügel. Irgendwann brennen sie nicht mehr, sie sind dick und taub und ich habe Mitleid mit ihnen. Ich ziehe den Stöpsel immer erst, wenn sich meine Haut anfühlt wie von einem dieser Viecher, die Marius früher in seinem Terrarium gehalten hat. Fiese, graue Geschöpfe mit flinken Zungen, und wenn ich sie angeschaut habe, musste ich gleich an die Insekten denken, die Marius ihnen jeden Morgen lebendig verfüttert hat. Mit dem Kopf voran, das fand ich besonders gemein. Du musst ihnen die Augen verbinden oder sie vorher umbringen, habe ich ihn angefleht. Er wollte beides nicht. Ich habe nicht mehr zugesehen, wenn es Futter gab. Eines Abends wollte ich die Reptilien berühren, nur so, um mir ein Bild zu machen. Zweimal habe ich sie gestreichelt, sie fühlten sich rau und irgendwie unwirklich an, wie von einem fernen Planeten. Ihre Bäuche waren sehr dick, obwohl die Insekten, die sie gierig fraßen, so winzig waren. Als Kind habe ich nach dem Baden meine Zehenzwischenräume nach Schwimmhäuten abgesucht. Daran denke ich jetzt, während im Radio ein Lied läuft, das ich nicht kenne. Musik tanzt von ganz allein, da kann ich liegen bleiben. Ich wüsste nicht, was mit mir wäre, wenn es immer still bliebe. Stille macht sich lang. Wäre sie ein Tier, dann ganz sicher ein selbstverliebter Pfau. Meine Tage sind auch mit Musik länger als die Tage anderer Menschen. Ich stehe auf und gehe wieder ins Bett und dazwischen liegt nichts, was auch nur eine Sekunde lang glüht. Ich frag mich manchmal, wie es soweit kommen konnte, wieso mich niemand gewarnt hat, und ich bin ein klein wenig fassungslos deshalb. Ich spreche das Wort nicht aus, was zu solch einem Leben passt, weil es sowieso viel zu oft ausgesprochen wird und ich doch gerade über so etwas wie Ruhe nachdenken wollte. Ich denke gerne nach. Ich mag das Gewühl in meinem Kopf und die feinen Fältchen auf meiner Stirn, die ich davon bekomme. Vielleicht bin ich die einzige Frau auf diesem verdammten Planeten, die sich eine Denkerstirn wünscht.

 

Ich muss an die Zeit denken, in der ich in den Wald lief und Bäume umarmte. Natürlich klingt es verrückt, aber nach wenigen Minuten spürte ich ein warmes Kribbeln, das von meinen Fingern direkt in die Arme floss, ich hatte das Gefühl zu wachsen. Das hatte was von Drogennehmen, dieses Bäumeumarmen, und ich habe auch nicht freiwillig damit aufgehört, vielmehr stand wie aus dem Nichts eine Gruppe Kinder neben mir und lachte mich aus, einige Jungs zogen Grimassen und dann fassten sie sich an den Händen, als bräuchten sie Schutz vor mir. Jeder Finger ein ganzer Zaun, also stand ich da umgegeben von einer Mauer, mitten im Wald, völlig unvorbereitet. Ich habe die Kinder angeguckt, als wenn sie nicht da gestanden hätten, durch ihre Lichter und Schatten hindurch, und dann bin ich sehr aufrecht den Weg zurückgelaufen, ohne mich auch nur einmal umzublicken und dabei bin ich nicht an einen einzigen Stein gestoßen. Das war also das letzte Mal, dass ich völlig ausgelassen durch den Wald gelaufen bin und mich mit Baumliebe aufgeladen habe. Ich will nichts auf die Kinder schieben und schon gar nicht auf die Natur, ich erkläre nur, warum mich zuerst der Wald und dann die Straße verloren haben.

  

Das Fenster. Es ist durchsichtig, wie jedes andere auch. Ich kann es öffnen, wenn es warm genug ist, und mich weit hinauslehnen. Von hier aus kann ich schnell in den Himmel schauen und dann lange auf die Straße.

 

Eine Weile habe ich morgens die Rollläden runtergelassen, trotzdem habe ich noch den Bus gehört. Alle zwanzig Minuten fährt er an meinem Fenster vorbei und reißt alle Stille mit sich. Er fährt nur in eine Richtung, es ist also ein Halbbus, einer, der eine Schleife dreht: vom Bahnhof zur Schule und wieder zum Bahnhof und immer so weiter, als gäbe es nichts anderes auf der Welt als den Bahnhof und die Schule. Damals habe ich die Zeit in Busschleifen gezählt: drei Schleifen, eine Stunde. Meine Uhren gingen und gehen sowieso alle falsch. Ich hatte Angst vor allem, was mal gelebt hat, ich aß keine Wurst mehr, kein Fleisch, keine Eier, nichts mit Augen, Schuppen oder Federn. Die Sonne war schwarz, wenn ich hinsah. Die Zeit ist vorbei, vielleicht auch, weil Mutter gesagt hat, ich verwechsle wohl Trauer mit Angst. Trauer kann niemals Angst ersetzen, gab ich zurück, weil sie bedeutet, schon etwas oder wohlmöglich alles verloren zu haben. Ich sagte nicht, was ich auch noch dachte: Wer tot ist, hat keine Angst mehr vor dem Leben. Eigentlich will ich nicht an etwas denken, das so lange zurückliegt, aber seine Gedanken sucht man sich eben nicht aus. Die stehen nur kurz und laufen dann gleich weiter. 

 

Ich will ehrlich sein. Ich war ein paar Wochen nicht mehr auf der Straße. Als ich das erste Mal meine Wohnung nicht mehr verlassen konnte, dachte ich noch: Okay, heute geht es nicht, geschenkt, aber morgen läufst du nicht, du rennst. Am nächsten Tag bekam ich die Tür wieder nicht auf und am übernächsten erst recht nicht. Immer, wenn mein Gehirn den Befehl gab: Öffne die verdammte Tür, schrie irgendwas dazwischen. Ich zähle sie nicht, die Wochen, weil ich Angst vor einer zu hohen Zahl habe. Ich schätze also: Ich war fünf Wochen nicht mehr draußen oder sieben, vielleicht auch acht. Und schon weiß ich wieder, warum ich Wörter liebe und Zahlen hasse, da hilft es auch nichts, wenn ich sie aufschreibe, sie beißen mir gleich in die Hand.

 

Später ziehe ich den Stöpsel, steige aus der Wanne und trockne mich sorgfältig ab. Keine Schwimmhäute. Nur Hautfetzen zwischen den Zehen, die ich nicht abziehe, weil ich hoffe, dass sie wieder anwachsen. Ich mag meine Haut und will keine neue. Das Wasser fließt langsam ab. Während ich mir was überziehe, rufe ich Mutter an, weil heute Allerseelen ist und Mutter der fünf Toten gedenkt, die sie kennt. „Hoffentlich werden es nicht mehr“, sagt sie oft und dabei lacht sie nie. Ich rufe Mutter an und erzähle ihr, dass ich heute Abend und die ganze Nacht auszugehen, mal wieder richtig Spaß haben werde. „Ich mache einen drauf.“

„Aber du warst seit Monaten mehr weg, seit dieser Sache …“, sagt sie mit sehr leiser, trauriger Stimme. Mir zittert augenblicklich das linke Augenlid. Das zittert immer, wenn mein Herz überkocht, da muss es so etwas wie eine Verbindungslinie zwischen den beiden geben, eine Nervenbahn, die nur ich habe. Ich erzähle weiter, von dem himmelblauen Kleid, das seit dem Sommer auf dem Bügel an der Tür hängt.

„Sogar meine Beine habe ich rasiert“, sage ich, „und geschminkt bin ich auch.“

„Na, du bist mir vielleicht eine.“

Ich lege einfach auf und steige wieder in die Badewanne. Leg mich da rein in den Rest Schaum und bausche ihn mit den Händen auf, werfe ihn hoch wie weißes Laub, genauso feste greife ich rein und wühl mich da durch. Laub hoch, Mutters Stimme raus, alles Böse und Kranke weg, loslassen ... Langsam hört das Zucken auf. Mein wunder Punkt sind nicht die Toten, mein wunder Punkt ist Mutter, hoffentlich werde ich nicht verrückt wie sie. Schon alleine deshalb muss ich mal wieder raus, unter Menschen, an die Luft.

 

Draußen ist meine Straße. Wenn ich hinuntersehe, sieht es aus, als würden lauter Köpfe spazieren gehen. Köpfe ohne Körper und ohne Ziel, denn meist bleiben sie plötzlich stehen oder drehen sich um oder setzen sich irgendwo hin. Ich schaue mit geschlossenen Augen. Der Bus fährt wieder vorbei. Ich bemerke ihn nur noch, wenn ich genau hinhöre, sonst schlucken ihn meine Ohren von ganz alleine, sie haben Übung. Nebenan wird Tee gekocht. Das jedenfalls stelle ich mir vor, während ich wieder den überlangen Satz denke, den ich seit Tagen nicht aus meinem Kopf bekomme: Ich möchte ausgehen, am liebsten in ein Café, ins Kino und dann, ganz zum Schluss, wenn die Angst so klein ist, dass sie in meine Handtasche passt, ins Babylon. Das Babylon ist der angesagteste Club überhaupt. Ich möchte wetten, es gibt in dieser verdammten Stadt nicht ein einziges Alphatier, das noch nicht im Babylon war.

 

Alphatiere sind klug, sie sind die klügsten Tiere überhaupt.

 

Ich klingel bei meiner Nachbarin, um mich endlich mal vorzustellen. Schnecke, lese ich da, und schon baut sich so ein komisches, schleimiges Tierchen vor mir auf und kriecht meinen Unterarm hinauf. Ich trage eine Menge solcher Bilder in mir, in Sekundenschnelle verwandelt sich jedes Wort in ein passendes Bild. Das schau ich mir an und denk mich hinein. Mutter hat mir ein Bild geschenkt, das die Geschichte Berlins erzählt. Neben dem Brandenburger Tor fahren Busse und Bahnen und Menschen sitzen da und trinken Cocktails oder fahren Karussell, man verliert sich leicht in dieser Schönheit. Ich schaue das Bild stundenlang an und horche und warte, dass ich endlich darin vorkomme. Dass das Bild spricht, das es sagt: Und da, an der Kreuzung, hinter der roten Ampel, das ist unsere Anne.

 

Meine Nachbarin ist vor einem halben Jahr eingezogen. Von Weitem erinnert sie mich an niemanden, was selten ist, was sogar extrem selten ist, weil so kein Bild folgen kann und eine riesige Leerstelle bleibt. Leerstellen bringen mich um, weil sie wachsen und tanzen und ihr eigenes Ding machen. Deshalb muss ich mich kümmern um sie, muss sie füllen mit irgendwas. Alles, was ich von meiner Nachbarin kenne, ist der lang gezogene Seufzer, den sie von sich gibt, wenn sie ihre volle Einkaufstasche auf die Fußmatte stellt. Allerseelen ist mit Abstand der Tag, an dem ich mich am einsamsten fühle. Mit dem Tod hat das wenig zu tun. Es liegt viel mehr an all diesen Leerstellen, die sich häufen das ganze Jahr über und die sich ausgerechnet dann melden und die Schuld sind, dass ich durch meine Tür trete und hinübergehe und schon auf den Klingelknopf drücke.

Die Nachbarin öffnet. Sie trägt ihre Haare offen, das mag ich nicht, ich hab sie lieber zusammengebunden oder hochgesteckt, so jedenfalls nicht, so langweilig und durchschnittlich und sofort ist mir klar, warum sie mich an überhaupt nichts erinnert hat. „Ich wohne nebenan“, sage ich und strecke ihr meine Hand entgegen. „Anne Böhme.“

„Ich habe keine Eier im Haus, war noch nicht einkaufen.“

„Salz, ich brauche Salz“, sage ich, „Salz für die Eier.“

Sie schüttelt den Kopf und ihr Haar fliegt und ich sehe ihr rechtes Ohrläppchen, das irgendwie entzündet aussieht und an dem ein goldener Ring mit einer kleinen Perle hängt. „Entschuldigen Sie mich, das Telefon.“

Schon fällt die Tür vor mir und hinter ihr zu, das mag ich eigentlich sehr gerne, aber nicht heute, nicht an Allerseelen und mit diesem Ausgehabend vor mir, der ja genaugenommen nichts anderes als eine wirklich bedrohliche, weil viel zu unübersichtliche Leerstelle ist. Da frag ich mich gleich, ob ich das alles schaffe, so ganz alleine, und Übung habe ich sowieso keine mehr, und niemand weiß doch, ob es mit dem Rausgehen ist wie mit all den anderen Dingen, die man nie verlernt, egal, wie lange man sie nicht mehr gemacht hat. Ich denke da ans Fahrradfahren und Küssen, aber eigentlich denk ich nur an gleich, an den Moment, auf den ich ewig schon hinfieber und der mir plötzlich so wahnsinnig unüberlegt erscheint, da kann ich mir auch gleich was in den Unterarm ritzen oder Schlaftabletten schlucken oder so was in der Art. Zehn Schritte sind es zurück in meine Wohnung, die könnte ich häufiger mal gehen. Oder gleich die vierundzwanzig hinunter in den ersten Stock oder die neununddreißig bis zum Briefkasten. Da stand ich früher oft, weil viele Leute so schön winken, wenn sie vorbeigehen. Ich kam mir vor wie bei Endlosdreharbeiten, wenn der Regisseur die Darsteller immer wieder zurückschickt, bis die Szene endlich im Kasten ist und alle lächeln dürfen. Damals gab es ja noch das Café an der Ecke. Wenn ich die Augen schließe, seh ich es gleich wieder, es war niemals still da.       

 

„Alles Alphatiere.“ Einer von Mutters erklärenden Sätzen, die immer zu kurz geraten. Nie würde sie sagen: Das sind alles Alphatiere. Manchmal sagt sie auch nur ein Wort. Hunger. Müde. Regen. Teuer. Damals also: „Alles Alphatiere.“ Sie stand neben mir am offenen Fenster und schaute raus auf die Straße. Ich folgte ihrem Blick und wusste sofort, wen sie damit meinte, nämlich alle, die da verstreut über die Straße spazierten und die Sonne anlachten und später, wenn es dunkel sein würde, irgendwo da draußen unter einem Sternenhimmel sitzen und Lieder singen würden. Alle, nur wir nicht, schon lange nicht mehr, und wenn eine von uns, dann Mutter, und ich suchte die Häuserfassaden ab und fand kein einziges, anderes Gesicht, Gardinen und Vorhänge bewegten sich, aber niemand schaute heraus. Alphatiere. Ein Wort, das ich regelmäßig von Mutters Lippen lese, weil sie es bewundert wie kein anderes. Wenn ich mir ein Bild dazu denken müsste: Ein stolzer Baum, der in die Sonne greift, und nach unten auf all die Sträucher und das Vieh auf der Weide schaut.

 

Die falsche Hirnhälfte, der falsche Arm, der falsche Fuß, trotzdem bekomme ich das Kleid irgendwie an. Natürlich ist es zu dünn für einen Abend Anfang November, aber nun ist es schon mal da und auch gleich so schön und ich streck mich, bis es passt. Wenn ich Zigaretten hätte, könnte ich rauchen. Wie früher, mit Marius, er immer die starken, ich die light, und literweise Bier dazu. Marius hat dann so Sachen erzählt, einmal zum Beispiel, dass er viel lieber zwei Murmeltiere hätte, weil die im Winter so herrlich schlafen und er könnte mitschlafen, endlich mal länger als seine lächerlichen fünf Stunden, und dann bräuchte er auch keine Augeninsekten mehr verfüttern. Ich habe ihm drei Wünsche geschenkt und gefragt, ob er einen für die Murmeltiere opfern möchte, da hat er gelacht und den Kopf geschüttelt. Marius war ein Alphatier, aber was hat ihm das geholfen. Sie haben ihn erst in kaltes Holz und dann in tiefe Erde gelegt. Ich habe viel geraucht an dem Tag seiner Beerdigung, so viel wie noch nie zuvor, und seitdem nicht mehr, keine einzige Zigarette, und ich war auch nicht mehr „on the road“. Ich sehe die Uhr an, es ist noch sehr früh, viel zu früh, um loszugehen. Hoffentlich hält jemand die Uhr an. Ich habe nämlich ein Problem: Wenn ich mir etwas verspreche, muss ich es halten, unbedingt, ich fürchte, sonst passiert etwas ganz Schlimmes, das Schlimmste überhaupt, so schlimm, dass ich es mir nicht mal vorstellen kann. Das mit dem Babylon habe ich mir versprochen. Um ehrlich zu sein, habe ich mir das Café, das Kino UND das Babylon versprochen, ich bin ja immer gleich so maßlos, ein echtes Aufzählungsalphatier.

 

Ein Tag, ein Abend, eine Nacht wie alle anderen auch. Jede einzelne Minute schwimmt davon, keine gehört uns, aber wem sonst. Wie still es plötzlich ist. Tatsächlich: Die Straße unter meinem Fenster schweigt, nicht mal der Bus ist zu sehen, nur das einsame Haltestellenschild. Und ich steh da und zähl die Minuten und merk es nicht mal.