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 Monika zwischen 23 und 24 Uhr von Renate C. Norder

Ibiza gebräunte Haut, sommersprossiger Rücken. Der Umriss seiner Schwimmshorts, der sich weiß von den Hüften bis knapp oberhalb der Knie auf seiner Haut abzeichnet leuchtet mir im Halbdunkeln unerotisch entgegen. Sebis käsiges Hinterteil. Auf seinen Schultern liegen gelbe Pumps, zeigen mit der Spitze zur vergilbten Decke. Wen er mit der anderen Seite seines Körpers beglückt, kann ich aus meiner Position am Türrahmen nicht wirklich erkennen. Der Schreck jagt senkrecht durch meinen Bauch und zementiert meine Füße an Ort und Stelle. Kriecht meine Beine hoch, breitet sich im Magen aus, will die Pizza, die Sebi und ich mir nach dem Auftritt seiner Band im Beat vor einer Stunde noch geteilt hatten, auf den ehemals cremefarbenen Teppich kotzen. Sie kriecht meine Speiseröhre hoch, ich schlucke krampfhaft das halb verdaute Essen wieder runter. Die Schuhe kommen mir bekannt vor. Ich hab das Gefühl mein Kopf schwillt an. Blut rauscht in meinen Ohren, jeden Moment wird es mir aus der Nase laufen. Dann aber registriere ich, dass es nicht mein Blut ist, das da rauscht, sondern die Toilettenspülung von nebenan. Pizza gesellt sich wieder zum Schreck im Magen, mein Kopf ist ein Vakuum, das mich taumeln lässt. Sebis Haut glänzt entlang der Wirbelsäule."Schwein.“
Ich gehe einen Schritt auf ihn zu. Vom Bett dringt ein hohes Quieken und ich ahne, wer das Mädel vor ihm ist. Kreisch-Katrin aus dem Beat. Katrin, die auf mich immer einen gengeschädigten Eindruck macht. Eine freakige Mutation hat statt eine angenehme Stimme Monstertitten wachsen lassen, die so gar nicht zu ihrem zierlichen Körperbau passen. Oder die Dinger sind mit einer Seriennummer versehen und die Mutation schlägt sich nur in ihrer Stimme nieder. Sie wollen nicht starren, die Männer, wenn Kreisch-Katrin Bier zapft und sich im engen Oberteil hinter der Theke in Pose stellt. Sie wollen nicht, sie müssen. Sebis Orgasmusgrunzen verstummt, hastig tritt er einen Schritt vom Bett zurück, dreht sich in meine Richtung, hebt seine Unterhose vom Boden hoch, hält sie sich aus mir unerfindlichen Gründen vor seinem halbschlaffen Schwanz, dessen Spitze feucht schimmert. Ich will nicht starren, aber jetzt geht‘s mir so wie den Kerlen im Beat.
"Möni, 's is nich so wie's aussieht."
Die Erde ist eine Scheibe, und wenn man bis zum Horizont geht, fällt man runter, bleibt mir im brennenden Hals stecken. Die Haut an meinen Armen juckt. Katrin vergräbt sich in der Bettdecke. Ein Schuh löst sich von ihrem Fuß und landet mit einem dumpfen Aufprall auf der Kante des Aschenbechers, der sein Fassungsvermögen längst überschritten hat, auf dem Boden. Stumm und bewegungslos liegt sie im Bett. Stumm gehe ich aus der Wohnung. Den Lärm im Kopf ignoriere ich, so gut es geht. Meine Gummisohlen treten lautlos auf die hölzernen Stufen. Ich springe mit zitternden Beinen jede dritte Stufe hinunter. Leise passt nicht zu meiner Stimmung. Drei Stockwerke insgesamt, vorbei an mit Graffiti beschmierten Wänden, von denen der Putz sich stellenweise verabschiedet hat. Wände, die ich bis gerade eben noch interessant fand, Zeichnungen von Künstlern, die im Laufe der Jahrzehnte dieses Haus bewohnt haben. Schriftzüge, mal mehr mal weniger leserlich und aus denen ich mir oft den Spaß gemacht habe ihre Botschaft zu entschlüsseln. Gedanken stauen sich, wie der Feierabendverkehr in der Innenstadt, halten nur nicht geordnet an einer roten Ampel an. Der Mief des Gemäuers, der sich heute im Erdgeschoss besonders hartnäckig hält, sticht mir in der Nase. Die schwere Holztür knallt gegen die dahinter abgestellten Fahrräder, fällt laut hinter mir ins Schloss.
Wie Scherenschnitte nehmen sich Fahrgäste in der Straßenbahn aus, die über die Brücke keine dreißig Meter von mir entfernt rattert und meine Würgegeräusche übertönt. Ich stütze mich mit einer Hand an der rauen Fassade ab und speie Aubergine, Spinat und Käse aus. Noch einmal würgen und auch der Teig und die zwei Gläser Bier landen auf dem Gehweg. Erst als ich noch drei Mal trocken würge und nichts mehr außer meiner Seele auswerfen kann, wische ich mir mit dem Jackenärmel über den Mund und lehne mich an die Hauswand. Tief ein- und ausatmen, die letzten Reste mit der Zunge aus dem Mund sammeln und auf den Fleck spucken, der sich wie ein Rorschachklecks ausbreitet.
Was sehen Sie auf diesem Bild? Pimmel in Kreisch-Katrin nach Sonnenuntergang.

Ich lache schnaubend, halb durch die Nase, halb durch den Mund. Meine Augen tränen vom würgen, einige lange Haare bleiben an der unebenen Fläche der Hauswand hängen, als ich mich von ihr löse. Aus meiner Jackentasche ziehe ich meinen Schlüsselbund und nehme Sebis Hausschlüssel ab. Den Briefkastenschlitz schon geöffnet, überlege ich es mir und werfe ihn in mein Erbrochenes. Anstatt endlich zu gehen, starre ich auf den Schlüssel. Ich bedaure, dass ich ihn in diese unappetitliche Masse geworfen habe. Ich suche den Rinnstein ab ... Papier, eine zerbeulte Dose, ein Stock ... irgendwas ... herrje sonst liegt hier doch auch immer so viel Müll herum ... ich finde nichts, womit ich den Schlüssel aus der Brühe schieben könnte. Ich will ihn wiederhaben. Sebi. Den Schlüssel. Den unschuldigen Moment, als ich die Tür zu seiner Wohnung öffnete und mich auf ihn gefreut hatte. Noch einmal nach oben gehen, ihn zur Rede stellen, Katrin in den Hintern treten und Sebastian erklären lassen. Die Straßenbeleuchtung ist so bescheiden in dieser Wohngegend, dass ich nur wenige Meter weit sehen kann. Wind, der noch am frühen Abend sanft Blätter von den Bäumen wehte, wird stärker und wirbelt etwas in die Straßenmitte, was ich mir näher ansehen will. Kaum bücke ich mich, um eine Werbebroschüre aufzuheben, wird sie erneut von einer Windböe erfasst und strauchelt weiter schräg über den Asphalt. Ich beeile mich hinterher zu kommen und bekomme sie tatsächlich zu fassen. Obwohl ich mich nur darauf konzentriere, meine ich, eine Bewegung aus dem Augenwinkel heraus wahrzunehmen, lasse meinen Blick langsam über die gegenüberliegenden Hauseingänge und Baumstämme der Linden schweifen, die der schäbigen Straße ein wenig Normalität verleihen. Heute Nacht kann mir nichts passieren. Komm nur, trau dich. Du willst mir Angst machen? Mir? Da bist du zu spät gekommen.
„Du bist zu spät. Hörst du?“, schreie ich in die Dunkelheit und wirbel meine Arme dabei und steche meinen Zeigefinger Richtung Hausnummer 278 in die Luft. „Ihr seid alle zu spääät – ihr Arschlöcher.“
Über der Kante der Eingangsstufe lugt etwas hervor. Ein Schuh? Oder ist es doch nur feuchtes Laub? Das Schreien vergeht mir augenblicklich. Hinter mir höre ich Stöckelschuhe hastig über den Gehsteig klackern und drehe mich abrupt um. Ich renne über die Straße. Der Wind weht mir eine Haarsträhne ins Auge, ich renne trotz des Schmerzes weiter. Die geparkten Autos hindern mich daran, schnell genug auf den Gehsteig zu kommen.
„Katrin! Warte!“
Katrins Augen sind weit aufgerissen, als sie mich zwischen zwei Autos, die so dicht hintereinander geparkt sind, dass ich Mühe habe mich dazwischen zu drängen, sieht. Sie rennt erstaunlich schnell auf hohen Absätzen. Licht einer Straßenlaterne lässt ihre Chemiehaare wie einen Heiligenschein leuchten. Ich sprinte hinterher, so wie ich mich auf den Gehsteig vorgearbeitet habe. Da sie einen Vorsprung hat und weil mich jemand von hinten an meiner Jacke festhält, kann ich nur noch hilflos zusehen, wie sie eilig um die Ecke biegt.
„Feige Tusse“, kreische ich und will die Hand, die mich festhält, abschütteln.  „Lass mich los!  Du blöder Ficker!“ Meine Stimme überschlägt sich, beinahe hyperventiliere ich und erinnere mich an die Anweisungen meines Vaters, langsam tief ein- und auszuatmen. In meine Bemühungen ruhiger zu werden hinein ruft von irgendwoher eine verärgerte Stimme: „Halt’s Maul.“
„Möni.“ Sebi spricht mit meinem Haar und hält mich fest, als steckte ich in einer Zwangsjacke. Der süßliche Duft, der ihn oft umgibt, auch der ureigene Sebigeruch, vertraut wie der Zipfel meines Schmusetuchs, das ich vor wenigen Jahren noch heimlich unter meinem Kopfkissen deponiert hatte und vor dem Einschlafen einmal ganz langsam knuddelte und mich dafür schämte, beruhigt mich. Das Jucken der Krusten an meinen Armen hat nachgelassen.
„Baby.“
Sebi in meinem Ohr, wo er, wenn es nach mir ginge, für immer implantiert werden könnte. Die Reife, die in seiner Stimme schwingt, lässt mich wieder siebzehn sein, obwohl ich kurz vor meinem neunzehnten Geburtstag stehe und er weiß es und ich weiß es und es macht ihn an und mich auch und ich bettel stumm: Sag‘s nochmal.
The whole world in your eyes. Ich treffe Sebi in einer Bar auf Ibiza, nicht ahnend, dass unser stummes Nebeneinander an der Theke sitzen die erste Zeile eines neuen Songs werden wird. Nicht wissend, dass dieser Typ mit der Surferfrisur Leadsinger in einer Band ist.
Skin silently talkin' as I kiss and touch what nobody sees.
Langsam zieht er mich aus, küsst meine vernarbten Arme. Ich werde ganz klein und die untergehende Sonne, scheint durch die Terrassentür auf das Bett meiner Eltern in unserem Ferienhaus.
Er weiß es, ich sehe es an seinen Augen, deren Ausdruck sich in Sekundenschnelle von zärtlich zu hart und umgekehrt verändern kann. Ich habe einen Blick dafür, ich bin schon alt zur Welt gekommen. Ich könnte in Sebastians Alter – mit Anfang dreißig – sterben und hätte nichts verpasst, weil es nichts mehr gibt, das mich in dieser Welt wirklich vom Hocker reißt.  Wer schon alles gesehen hat, für den hält das Leben keine Überraschungen bereit. Es nimmt einen nicht kontinuierlich – dem Alter angepasst – an die Hand und führt einen vorsichtig in seine Geheimnisse ein. Es trifft dich früh wie ein Faustschlag in den Magen, du krümmst dich vor Schmerzen und windest dich. Willst, dass es vorbei ist, schreist, verstummst irgendwann, so wie auch deine Schmerzempfindlichkeit rapide nachlässt.
Jede Frau würde mich für total bescheuert halten, aber ich gehe widerspruchslos mit Sebi zurück in seine Schmuddelbude. Als uralte Tochter meiner Eltern weiß ich, dass man Probleme nicht totschweigt, sondern handelt. Mein Vater hat mir das oft genug vorgelebt. Meine Mutter nicht. Sie ist eher der nickende Typ, der heimlich trinkt, was man ihr ansieht und auch meinem Vater würde es ins Auge springen, wäre er nur lange genug zuhause, um seine Frau bewusst wahrzunehmen. Stattdessen doktort er als Chirurg an Menschen in Krisengebieten herum und bringt seit Jahren dementsprechende Fotos mit, die er von seiner Sekretärin zu einer Powerpoint Präsentation für seine medizinischen Vorträge zusammenstellen lässt, und erinnert uns Kinder daran, dass wir überhaupt keinen Grund zu Klagen haben. Was Mama nickend bestätigt und ihm versucht beizubiegen, dass sich seine Tochter – kerngesund zwar und mit allen möglichen käuflichen Dingen ausgestattet – manchmal laut wird und Therapie benötigt. Ich sehe das auch so. Ich brauche dringend Therapie, je häufiger in der Woche, je besser. Mein Vater zahlt, meine Mutter lächelt und ich könnte meine Therapeutin therapieren, wenn ich nur wollte. Seit meinem zehnten Lebensjahr habe ich Zugang zu sämtlicher Fachliteratur meiner Mutter, die bis vor wenigen Jahren noch als Psychologin tätig war und ich kenne sie alle. Die Therapien, die Symptome, die meisten Gründe, warum Kinder sich in Elternhäusern wie meinem nicht spüren. Ich bin nur nicht so doof und nehme auch Drogen. Oder eher selten. Ich ziehe es vor meine Eltern mit meiner meist stummen, aber nüchternen Anwesenheit zu beglücken. Die Menschen sind meine Studienobjekte, meine Therapeutin eingeschlossen. Mein Vater ist davon überzeugt, dass ich – genau wie mein Bruder – in die medizinischen Fußstapfen unserer Eltern treten werde.  Aber dafür habe ich nicht all die Jahre Menschen studiert.
Ich habe mich schneller wieder gefangen, als ich gedacht hätte und das ich mich übergeben musste, ist verständlich, wie ich meine. Manchmal stelle ich mir Frau Dr. Reguss vor, wie sie es mit ihrem Mann treibt, der sie selbstverständlich fragt, wie sie sich dabei fühlt und ich könnte stundenlang in dieser Fantasie verharren, wenn sie mich therapiert. In meiner Fantasie sieht es jedoch nicht so verdammt primitiv aus. Kopulierende Menschen sind kein schöner Anblick.
Ich setze mich aufs Ledersofa, Sebastian wirft sich auf seine durchgelegene Matratze und wühlt mit einer Hand unterm Bett. Glas klirrt an Glas und endlich fischt er eine volle Bierflasche hervor, hält sie mir fragend hin und als ich dankend ablehne, öffnet er sie mit seinem Feuerzeug. Schaum rinnt am Flaschenhals entlang, über seine Hand, die er an der Bettdecke trocken reibt. Ich beobachte ihn.
„Was?“
„Du weißt genau was.“
„Ich hab nie gesagt, dass du die Einzige bist.“
„Hast auch nie das Gegenteil gesagt.“
Er zuckt die Achseln. Mit seiner freien Hand klopft er neben sich auf die Matratze und zündet sich eine Zigarette an. Die einzige Lichtquelle ist eine Lichtschlange um das Fenster herum, das zur Straßenseite hinaus liegt. Ich ziehe meine Jacke aus, streife die Schuhe im Gehen ab. Stehe neben dem Bett, ziehe den Pullover aus. Im Fensterglas gähnt Sebastian, ohne sich die Hand vor den Mund zu halten. Ich strecke mich neben ihm aus.
„Du wolltest ja heut nicht.“
Seine Stimme klingt nach Rechtfertigung und Schuldzuweisung. Ich merke das, weil ich Menschen und ihre Reaktionen studiere und weil ich das geistige Alter eines doppelt so alten Menschen habe. Mein IQ hilft mir auch, der ist überdurchschnittlich hoch, was meine Eltern wahnsinnig stolz macht, mich jedoch enorm langweilt. Ich lehne meinen Kopf an seine Brust, schließe die Augen und spüre ihn einen Schluck Bier trinken. Beinahe ist es romantisch, vor allem, als er seine Flasche abstellt, mich streichelt und näher zu sich heranzieht. Ich habe nicht mehr das Bedürfnis zu schreien. Diesen Drang habe ich auf der Straße ausgelebt. Bei mir zuhause kann ich das zwar auch, aber so richtig stinkig machen meine Eltern mich eigentlich kaum noch, dass ich die Notwendigkeit sehe, meine Stimme zu hören. Vielleicht haben die vielen Stunden mit der Reguss doch was genützt? Meine Mutter wird ihren stets sanften Tonfall nicht mehr ändern, eher habe ich den Eindruck sie spricht von Monat zu Monat leiser. Gut, es wär jetzt gelogen, wenn ich behauptete es würde mich nicht doch manches Mal reizen fünfmal nachzufragen und so zu tun, als hätt ich sie nicht verstanden. Verdammt nochmal, Menschen haben eine Stimme bekommen. Was soll dieses Flüstern? Man muss seine Ohren dermaßen anstrengen, nur um festzustellen, dass Einheitsbrei wiedergekäut wird. Ob mein Vater noch weitere zwanzig Jahre versucht zu fixen, was Krieg, Armut und Religion den Menschen antut, macht keinen Unterschied. Die Menschen sind bekloppt. Deshalb schreie ich manchmal. Drei Jahre lang war mir die Lust an Sex vergangen, nachdem ich diese Fotos von verstümmelten weiblichen Genitalien gesehen habe. Man muss Problemen ins Auge sehen, sagt mein Vater. Handeln.
"Fick mich, Sebi."
Sebastian schläft. Ich nehme ihm die Zigarette aus der Hand, drehe mich auf den Rücken, ein Arm baumelt über die Bettkante. Drücke die Zigarette aus, meine Fingerspitzen streichen über die abgesplitterte Glaskante des Aschenbechers. Es dauert lange, bis ich den Schmerz spüre.
Leise schließe ich die Tür hinter mir und schnappe nach Luft, als hätte ich sie dort oben die ganze Zeit über angehalten. Meine Kotze ist angetrocknet.

Was sehen Sie auf diesem Bild? Leben.

Duden Korrektor PLUS - 5/09/2009 11:32:30