Alles wird gut unterm Nussbaum von Andreas Stift
Die Kinder, besonders die Mädchen, laufen in die Häuser, zurück in den warmen Schoß, verbergen sich hinter blaugemusterten Schürzen und bekommen dabei Mehl, Schmalzreste und Anderes ab - sie laufen und verbergen sich: vorm Luis. Der Luis ist das gewohnt, er sieht nur die fliegenden Zöpfe, wenige Kinder gibt es oder gab es jemals in seinem Leben, die keine Angst vor ihm hatten.
Von einer Wiese kommt der Luis, von seiner liebsten Wiese, hier kann man ihn oft sitzen sehen, unter einem Nussbaum. Die Wiese auf einer sanften Anhöhe, darum herum der Holler und der Flieder, doch Luis sitzt immer unterm Nussbaum. Er mag den Nussbaum rund ums Jahr, den herben Geruch, die Samenstände, wurstartig, im Frühling, die an den Handflächen zerrieben einen Vorgeruch geben auf das im Herbst zu Erwartende, die Nüsse, die man erst aus ihrer grünen Hülle schälen muss und die Finger bleiben dann gegerbt und braun. Gute Nussjahre sind gute Weinjahre, das weiß jeder. Was tut der Luis unterm Nussbaum? Er raucht ein paar selbstgedrehte, selbstgewuzelte Zigaretten und streckt die Beine aus, lehnt sich, seinen Rücken an die alte, verborkte Rinde. Sie fühlt sich gut an in seinem Rücken. Fast könnte man meinen der Luis ist ein Naturfanatiker der aus alten Bäumen Kraft schöpfen will, vielleicht steht er auch gleich auf und umarmt den Stamm, man kann ja nie wissen, auch am Land rennen die Wahnsinnigen herum. Aber das tut der Luis nicht, das lässt er schön bleiben, verschwendet keinen einzigen so kruden Gedanken. Stattdessen wuzelt er sich noch ein paar Tschick. Das geht ganz einfach. In seiner Hosentasche finden sich immer Stummel. Frischen Tabak kauft er sich nur sehr selten. Er lebt von den Stummeln in den Aschenbechern, die er akribisch aufsucht und aussucht. Ein paar ganz prächtige Exemplare sind diesmal dabei. Feinsäuberlich die Filter entfernt und den Tabak heraus und auf einen Haufen. Zigarettenpapier hat er meistens eingesteckt, das kostet so wenig, das kann sogar der Luis sich leisten. Wenn er kein Zigarettenpapier hat muss es die Zeitung tun. Das ist eine ganz eigene Technik und funktioniert nur ordentlich angefeuchtet mit viel Spucke. Aber dann! Tief inhaliert unterm Nussbaum, eins mit der schönen Landschaft.
Momentan, wo er von seiner Wiese, von seinem Baum kommt und die fliehenden Kinder mit den fliegenden Haaren sieht, denkt er nicht grad vor mir rennen sie davon, wo ich doch keiner Fliege was, der Luis denkt, gut, sie kündigen mich an, umso schneller stehen Jausenbrett und Most vor mir. Das denkt der Luis ganz pragmatisch, er hat halt Hunger. Kleine Gieren entwickeln sich wenn die Nacht so kalt war wie der Magen leer. Der Luis ist einer von den unzähligen Outlaws im ländlichen Raum. Einer, von dem man nur wenig zu erzählen weiß. Der dem Schnaps gedankenlos verfallen ist und der arbeiten kann, gottseidank kann er noch arbeiten, er arbeitet sich von Tag zu Tag und Jause zu Jause, der Luis kann alles. Der Luis kommt und hinter dem Haus ist der Zaun niedergeführt, der Jüngste vom Haus hat Traktor fahren dürfen und noch lange ist er nicht einmeterfünfzig groß, wie soll man da schon die Abstände richtig einschätzen können? So ist das halt. Oder es ist schon länger.
Der Frühling bleibt standhaft, nun kann das neue Gemüsebeet angelegt werden, mit Holz eingefasst, ein Prunkstück soll das werden, aber grad beim allerersten Umgraben muss tief in die steinreiche Erde vorgedrungen werden. Einmal hat der Luis bei so einer Arbeit ein Abzeichen gefunden, dass deutlich da vergraben worden war und wofür sich der Hausherr sicherlich geschämt…, er hat es eingesteckt. Nun kann man es beim Altwarentandler drei Dörfer weiter erstehen, der fragt nicht lange, woher immer noch die ganzen Hakenkreuze kommen. Zu tun ist immer etwas und dort, wo etwas zu tun ist, da findet man den Luis. Er arbeitet auch für wenig Geld, wenn man ihm genug zu trinken gibt. Die meisten Leute, bei denen er arbeitet, die wissen schon, wie sie ihn nehmen müssen. Bei denen hackelt er den ganzen Tag für einen Doppelliter Schnaps. Er spricht kaum. Manchmal schläft er nachher ein, am Heuboden oder auf einer Matratze im Keller, aber da lässt ihn nur hinein, wer grad bei sehr guter Laune und der Nächstenliebe beflissen, der Luis bringt doch einen ziemlichen Eigengeruch mit. Sonst ist wirklich nichts gegen ihn einzuwenden.
Der Luis trägt einen alten Hut auf seinen selbstgeschnittenen Haaren. Das ist sein Markenzeichen: der Huatdeckel, und der abgeschlagene Gang, an beidem kann man ihn schon von weitem erkennen. Die Kinder rennen dann ins Haus, siehe oben, und bringen sich in Sicherheit vor einem, vor dem sie sich nicht in Sicherheit bringen müssten. Der Luis bringt nichts mit, niemals, er fragt nie, wie es einem geht, er fragt nur: Gibt’s was? Und meint damit Arbeit oder Alkohol. Er trägt immer, immer die gleiche Hose, stets das gleiche Hemd, aus ehemals weißem Leinen, abenteuerlich piratenhaft über der Brust geöffnet, weil oben fehlen die Knöpfe. Wenn alles nicht so traurig wäre könnte man sagen, der Luis ist ein Original. Seine Schuhe sind nicht der Rede wert und keiner will sich den Appetit verderben. Im Winter trägt er unter seinem Anorak einen rotgrünen Pullover aus billigem Polyester. Keiner weiß was über den Luis. Keiner weiß wo er herkommt, keiner weiß, seit wann er da ist.
Von den ganzen Herumstreunenden ist er einer der bravsten und vielleicht wirklich der einzige, der keiner Fliege was. Es gibt noch ein paar andere, die so sind wie der Luis. Einer von den anderen, der Viktor, hat es wirklich auf die kleinen Kinder abgesehen, dass weiß der Luis, obwohl er sich fernhält. Er hält sich von allem fern, bloß vom Schnaps nicht. Der Viktor wird nicht lange hier im Raum bleiben. Solche wie er ziehen weiter, wenn es brenzlig wird. Nicht umsonst haben die Streuner einen schlechten Ruf. Dem Luis ist alles egal, der Ruf und die Arbeit und die Schlafgelegenheit, er hat nur mehr ganz wenige Bedürfnisse und er bleibt gern dort, wo er sich auskennt, wo man ihn kennt, wo man ihn mehr duldet als akzeptiert. Hier waren auch mal seine ganzen Erinnerungen, hier kennt er die Wiesen und Wälder und Häuser und Hunde. Der Luis hatte eventuell einmal ein ganz anderes Leben. Aber davon hat er nur mehr Einzelbilder im Kopf, keine durcherzählten Geschichten mehr.
Das kommt alles von selbst.
Der Schlaf, das Vergessen, der Tod. Luis ist kein schlechter Mensch, das weiß er selbst und das meinen die, die ihn ausnützen. Wenn man ein bisschen weiterfragt und sich herumerzählt, dann wird man irgendwann davon überrascht werden, dass im gleichen Ort, in derselben Gemeinde, in der Luis sich so gerne aufhält, seine Schwester wohnt. Das kann kaum einer wissen. Sie trägt einen Nachnamen wie ein schützendes Banner vor sich her. Sie hat einen Nachnamen, und er ist doch für immer und alle bloß der Luis.
Es ist nur so, dass der Luis allen Anwesenden immer ein furchtbar schlechtes Gewissen macht und böse Gedanken. Man schaut ihm vielleicht zu, wie er im Weingarten steht und Reben schneidet, oder im Obstgarten den Steirischen Apfel spritzt, man beobachtet ihn ein bisschen, schaut, ob er wohl wirklich tut, was man ihm angeschafft und dann plötzlich durchfährt einen so ein Gedanke, wie man ihn sonst niemals hat: dass das Luissein einem vielleicht selbst auch zustoßen könnte, mit geänderten Vorzeichen. Niemand weiß, welch Unheil dem Luis widerfahren ist, doch, insgeheim sind sich alle einig, so etwas geht sehr schnell. Vielstellige Beträge aufs Haus, und so brav wie es gebaut wurde, so muss es auch jeden Monat bezahlt werden. Fallende Weinpreise, die Oide wird immer blader und kostspielige Scheidungsanwälte wollen konsultiert werden. Rapide ist dann sowohl das Zweitauto als auch der gute Ruf dahin, von den Kindern ganz zu schweigen.
Der Luis war zweimal furchtbar verliebt, vielleicht auch in ein und dieselbe Frau, das vermag er nicht mehr zu erinnern, er denkt nur mehr an ihre langen Haare, die langen dünnen blonden Haare, und überhaupt sehr zart alles an dieser Frau. Bloß ihr Mundwerk war nicht zart, eventuell hat sie dem Luis ein bisschen was vorgesagt, was er nicht hören wollte. Er weiß auch noch, dass er in die zärtlichblonden Haare ab und zu ein wenig fest, zu rau, mit seiner Männerhand und so eine zierliche Frau gehörte nun wirklich nicht in Luisens grobschlächtige Finger, auf jeden Fall, die Geschichten waren relativ schnell vorüber. Seitdem leidet der Luis immer wenn er blonde Haare sieht, tut aber, siehe oben, keiner Fliege nie mehr was zu leide. Nur den Schweinen und den Hühnern, aber die müssen geschlachtet werden, da kann man nix machen und das ist nun wirklich eines dieser Dinge, für die der Luis ganz hervorragend geeignet ist. Denn das geht nicht immer schön ab und dazu kann man den Luis gut einteilen, wenn der Hausherr in seiner Güte das einmal nicht selbst machen mag, weil die letzte Schlacht so ein Desaster war. Die 400-kg-Sau hat nicht mal mit dem Ohrwaschel gezuckt, weil der erste Schuß mit dem Schlachtschussapparat nur so ein Streiferl war. Und da hat sich der Chef halt gedacht, wir hauen dem Viech mit der Hacke den Lebenswillen aus dem Leibe. Und nicht einmal als die Visage vom Borstenvieh schon völlig demoliert war, war es hinüber, da hat man nochmal schießen müssen, dann aber ist es gegangen, und die Edeltraud, das herzige Mäderl des Hauses hat die Schüssel drunter halten dürfen, damits am Abend einen unverfälschten Bluttommerl gibt. So romantisch ist der Alltag unter Selbstversorgern. Und so ein knuspriger Bluattaummerl frisch auf den Tisch, das ist das Allerbeste, und an die Sau und an den Luis auf seiner Matratze, im Keller, denkt keiner mehr. Der Luis befindet sich am Abend nämlich immer in seinem höchstpersönlichen Taummerl, und der Vorteil daran ist, dass er alsdann keinen Appetit mehr hat.
Manchmal, wenn der Luis nicht genug Most zur Jausen bekommen hat, manchmal, wenn er sich im Heustadl in eine löchrige Decke gräbt, ja manchmal. Da fühlt sich der Luis einsam, das glaubt er jedenfalls, dass das nagende Gebohr in ihm entweder sein Körper ist, der ihm in einfach verständlicher Weise mitteilen will, dass jetzt wirklich bald etwas aufgibt, zum Beispiel die Bauchspeicheldrüse - oder die Einsamkeit.
Keiner kann was gegen den Luis sagen und allen tut er in Maßen leid. Wenn er betrunken ist, hat er sich hoffentlich schon in den Keller oder sonstwohin verzogen, weil dann wird er lästig. Das muss man jetzt schon einmal in aller Deutlichkeit sagen. Da sitzt er dann nur mehr blöd in der Kuchl rum und rührt sich nicht, will vielleicht noch etwas sagen, will vielleicht aus seinem Leben erzählen, aber das wollen wir nun wirklich nicht hören, was soll denn da schon so großartig Aufregendes passiert sein? Er war halt plötzlich da und wir haben uns an ihn gewöhnt. Was vorher war interessiert uns nicht. Hauptsache billige Arbeitskraft.
Ein Spätsommertag, ein beginnender Altweibersommer, die Baldachinspinnen werfen ihre Fäden noch nicht fliegend durch die Luft, aber dieser ganz typische Geruch nach Ernte und Gemähtem und Zufriedenheit und Schweiß liegt darin, an so einem Tag sitzt der Luis vielleicht wieder unter einem, seinem Baum, kann das sein? Ein Ball rollt hin. Da spielen Kinder und der Ball entrollt ihnen, rollt ausgerechnet hin zum Luis. Der unter seinem Nussbaum sitzt, auf der kleinen Anhöhe, wo der Schwarze Holunder seine Beeren schon fast gesammelt an die Vögel vergeben hat und Flieder blüht sowieso erst nächstes Jahr wieder. Aber die Nüsse fallen schon. Sie sind noch ummantelt von grünlich fleischiger Hülle, aber die kann man schon aufschälen, die Hände werden halt dann braun und gegerbt, aber innen drinnen, die Samen, sie schmecken ganz süß. Da spielen die Kinder unweit vom Luis und warten, und schauen, ob er sich rührt, den Ball zurückwirft wenigstens mit einer Hand, weil er sitzt ja, und aufstehen wird er sicher nicht, dazu schaut er zu bequem aus. Der is sicher wieder bsoffn, seufzt ein mittelgroßer Bursch, er kennt sich aus, der Luis arbeitet oft bei seiner Familie am Hof, von vielen Dingen weiß er nichts, aber was den Betrunkenheitsstatus des Luis angeht, da kann er laut gescheit sein. Seufzt und schneuzt sich steirisch um zu betonen, was er doch für ein ganzer Mann, dann langsam auf den Luis zutrotten, und auf den vermaledeiten Ball. Der rührt sich nicht. Der Ball nicht und der Luis und als er schon ganz dort ist, beim Ball, da schaut er auch auf den schnarchenden Luis, der Bub, aber der schnarcht gar nicht, komisch.
Der Luis hat sich erhängt. Neben ihm liegt ein leerer Doppelliter in der bekannten grünen Flasche. Der Kleine jetzt nicht mehr ganz so cool, ruft schnell nach seinen Mitspielern und allesamt stehen sie dann um den Luis und schauen ihn gründlich an, so einen Toten sieht man ja nicht alle Tage. Bis einer seinen Vater holt oder andere Erwachsene, irgendeiner schneidet den Luis dann ab, das geht leicht, er hat sich mit einer roten Wäscheleine erhängt, aber ganz komisch, irgendwie falsch bemessen oder sich so gedacht: Er sitzt ja da, es ist sich grad ausgegangen, dass ihm die Gurgel trotzdem zugedrückt, der Luis hat sich in den Tod gesetzt.
Erst ein paar Tage später ist für die, die es interessiert, für die, es wirklich hören wollen, die Lösung parat. Weil der Luis immer so zufrieden gewirkt hat, hat nicht viel gehabt und wollt auch nicht viel haben. Hat sich nie beklagt, hatte gefälligst froh zu sein über die Matratze im Keller, schad ist es um ihn oder auch nicht, da sind wir uns jetzt nicht so sicher, vielleicht weiß der Herr Doktor was? Und der Herr Doktor ist nun durch den Todesfall nicht mehr an seine Schweigepflicht gebunden oder nimmt es in diesem Fall nicht so genau und erzählt schnell, dass der Luis soviel Blut gespuckt hat, dass er freiwillig in die Ordination und da war es dann nur mehr Kehlkopfkrebs im fortgeschrittenen Stadium und man könnte schon noch was machen, Luis, aber ganz ehrlich, das wird jetzt eher nichts mehr. Ob er denn Angehörige habe. Ob er lieber zum Sterben ins Spital. Und der Luis ist wieder in seine dreckige Hose, hat sich seinen Huatdeckel aufgesetzt und sich artig bedankt beim Herrn Doktor. Und dann ist er schnorren gegangen, zu den ganzen Leuten die ihn kennen und die ihm ausnahmsweise, weil das hat er sonst nie gemacht, ausnahmsweise, aber wirklich Luis! – so sind ein paar Liter Schnaps zusammengekommen, soviel würde er gar nicht brauchen, ein Doppelliter das reicht schon für ein Licht am Ende des Tunnels, und zwei Schachteln Marlboro. Echte Zigaretten. Einmal zwei ganze Packerl nur für sich allein, er freut sich, der Luis, und mit dem Doppelliter und den Tschickpackerln und einer gefladderten Wäscheleine geht der Luis dann auf den Hügel, unterm Nussbaum, setzt sich dort hin und steht nur mehr ein einziges Mal kurz auf, mutig, alles ruhig um ihn herum, die spielenden Kinder werden erst später hier sein, die sind noch in der Schule. So geht der Luis. Und als er dann weg war, hat sich kein einziger, kein einziger geschämt für die Matratze im Keller.