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Jäger der Nacht von Helge Streit

Seit fünf Minuten folgte Martin dem Wagen. Es war ein Wagen der Oberklasse, ein hellblauer Audi A 6. Langsam glitt er die Anhöhe hinauf, und obwohl sie Vorfahrt hatten, blinkten bei jeder der von beiden Seiten einmündenden Straßen die Bremslichter auf. In diesen letzten fünf Minuten versuchte Martin sich ihre Begegnung an diesem Tag in allen Details in Erinnerung zu rufen. Was er suchte, war irgendein Hinweis, ein Wort, ein Blick, eine Geste, der Klang ihrer Stimme, die Art, wie sie sich kleidete, wie sie rauchte, irgendetwas, dass das, was jetzt geschah, angekündigt hatte.
Es war Langauer gewesen, der ihm die Andresen vorstellte. Während sie ihm die Hand reichte, sagte sie etwas zu den Ventilen, die er der Firma liefern sollte, fünfundsiebzigtausend Stück. Sie hatte ihn den „Mann mit den Druckventilen“ genannt, aber es gelang Martin jetzt nicht, sich an Einzelheiten des Gesprächs zu erinnern. Sofort aufgefallen war ihm ihr langes, glattes schwarzes Haar. Und sie war sehr schlank. Ja, das war vielleicht das Schöne an ihr, dieses Überschlanke, ohne dass sie hager wirkte, denn ihr Gesicht, das eigentlich hätte hübsch sein müssen, wirkte aus irgendeinem Grund nichts sagend, und obwohl er glaubte, sich an ihre Augen zu erinnern, war er sich nicht einmal sicher, ob sie braun oder blau waren. Und jetzt fuhr sie vor ihm durch die Nacht, lockte ihn irgendwohin!
Er wählte Annas Nummer. Sie erwartete seinen Anruf, und Martin wollte verhindern, dass sie sich bei ihm meldete. Annas Stimme war sofort zu hören und auf eine unangenehme Weise nah.
„Hi!“, sagte Martin so unbefangen wie möglich. Da er befürchtete, Anna könne an irgendeinem Geräusch bemerken, dass er nicht im Hotel war, sondern fuhr, fügte er rasch hinzu: „Ich rufe dich von unterwegs an. Es hat länger gedauert.“
Anna reagierte nicht auf das, was er sagte, sondern fing von Milan zu erzählen an, ihrem gemeinsamen dreijährigen Sohn. Wie schnell das alles Lichtjahre entfernt sein konnte. Martin hatte Mühe, das Gespräch durchzuhalten. Er wunderte sich, dass er überhaupt sein Leben durchhielt. Und wirklich sprach er, wenn er knappe Antworten gab, in einem schleppenden Tonfall. Seltsam, dieses Nebeneinander von höchster Anspannung und Müdigkeit. Aber vielleicht nahm er die Müdigkeit ja deshalb überhaupt erst wahr, und sie war all die Zeit über vorhanden gewesen, die ganzen letzten Jahre. Der Wagen der Andresen war neu. Das war ihm schon auf dem Parkplatz aufgefallen. Diese Tatsache erregte ihn aus irgendeinem Grund zusätzlich. Wie lange hatte er schon auf so etwas gewartet, ohne dass er es wusste, und ohne auch zu wissen, was es sein würde. Und jetzt war es da! Er war überzeugt, dass es die Hinweise, die er suchte, gab, dass er sie wahrgenommen hatte, sie aber erst im Nachhinein würde erkennen können. Wie man bereits einer Fährte folgte, ohne es noch zu wissen.
Er musste mit dem Telefonat zu einem Ende kommen. Jeden Augenblick konnte irgendetwas passieren. Egal, was der Wagen vor ihm tat, Martin empfand alles als Sensation. Bremste er ab, fuhr er an, bog er ab, fuhr er die Anhöhe hinauf, oder wieder zurück zur Stadt. Und tatsächlich, der Wagen vor ihm wurde langsamer. Sie waren in eine Seitengasse abgebogen. Schmucke Häuser mit Vorgärten hinter altmodischen, gusseisernen Zäunen. In den Fenstern brannte Licht. Vielleicht wohnte sie ja hier irgendwo. Aber dann beschleunigte der Wagen abermals und bog an der nächsten Kreuzung nach links. Es ging also wieder bergauf.
„Was ist das für ein Geräusch?“, hörte er Annas Stimme.
„Geräusch?
„Pfeifst du?“
„Das muss irgendetwas mit der Verbindung sein. Lass‘ uns Schluss machen. Ich glaube, wir gehören beide ins Bett.“
Jetzt konnte Martin ein Lachen nicht verhindern. Wie immer in Augenblicken großer Erregung machte er ein schnappendes Geräusch, als ringe er nach Luft. Am anderen Ende der Leitung blieb es kurz still. Dann hörte er wieder Annas Stimme.
„Wann kommst du morgen?“
„Nicht allzu spät“, sagte er. „Du, ich muss aufhören. Hier ist ziemlich viel Verkehr.“
Martin sagte: „Es ist alles gut gegangen“, und Anna sagte „Ja.“
Martin sagte: „Du weißt, wie wichtig der Auftrag für mich war“, und Anna erzählte davon, den Grießbrei angebrannt zu haben.
Er sagte „Ja.“
Er schaltete das Mobiltelefon aus und schob es ins Sakko.
„Jetzt gibt es nur noch uns beide“, sagte Martin in die Richtung des Wagens vor ihm. Immer mehr Details fielen ihm ein. Er war überrascht, worauf man insgeheim doch achtete. Vielleicht stimmte es ja, dass ein Mann einer Frau gar nicht anders gegenübertreten konnte, ohne sie gleich darauf zu taxieren, wie es wohl mit ihr im Bett wäre. Schuhe mit hohen Absätzen, der Rock in einem dunklen Grau. Gepflegte schöne Beine. Sehr schöne Beine. Die schwarzen Haare auf den Handrücken. Kein Ehering. Beim Sprechen dehnte sie einzelne Laute, manchmal betonte sie auch ein Wort auf der falschen Silbe, vielleicht Spuren eines Dialekts, den er nicht zuordnen konnte. Er hatte das anfangs für blasiert gehalten. Wenn sie lächelte und dabei die geschürzten Lippen zurückzog, wobei die großen, sehr weißen Schneidezähne sichtbar wurden, glaubte man, das Mädchen zu erkennen, das sie einmal war. Kein Mädchen, das bezauberte, aber das wohl viel gelobt wurde.
Ob sie das das erste Mal machte? Martin war sich sicher, dass sie keine Vorwände bringen würde. Würde sie etwas von Zufall sagen, hätte sie damit alles kaputt gemacht. Er erinnerte sich jetzt an ihre Schritte auf dem Steinboden, als sie im Foyer auf ihn und Langauer zukam, nachdem er längst niemandem mehr in dem Gebäude vermutete. Bei ihrer ersten Begegnung am Nachmittag war sie ihm größer vorgekommen. Jetzt stellte er fest, sie um einen Kopf zu überragen. Sie trug einen leichten Sommermantel und ließ sich von Langauer Feuer geben. Auf dem von Bogenlampen beleuchteten Parkplatz waren nur mehr ihre Wagen zu sehen. Weiter hinten standen vor einer hohen Ziegelmauer einige weiße Kastenwagen mit dem Schriftzug der Firma. Langauer sprach fast die ganze Zeit, so dass Martin sogar dachte, warum der nicht endlich den Mund hielt. Er war müde und überreizt, gleichzeitig aber auch euphorisch gestimmt. Die Verhandlungen waren zu einem guten Abschluss gekommen. Er konnte diesen Erfolg gebrauchen, weiß Gott. Sie fragte ihn nach dem Hotel. Ob er zufrieden sei. Ihr plötzlicher Abschied, nachdem sie vor ihrem Wagen hielten, mit dem Hinweis auf die Uhrzeit, als bemerke sie erst jetzt, zu lange im Büro geblieben zu sein. Sie zerdrückte die Zigarette mit dem Schuh. Ihre Hand in der seinen. Herrgott, warum erinnerte er sich jetzt nicht an diese Berührung?! Dann stieg sie in den Wagen und fuhr los.
Dass er sich auf dem Weg zum Hotel verfuhr, konnte sie nicht wissen. Wie lange hätte sie gewartet? Eine Stunde? Mehr? Wäre er noch irgendwo etwas essen gegangen, er hätte nie erfahren, dass sie gegenüber dem Hotel auf ihn wartete. Es war wenig wahrscheinlich, dass es eine andere Frau gegeben hätte in dieser Nacht. Und keine andere Frau hätte ihm das geben können, was er jetzt erlebte. Als sie ihn kommen sah, scherte sie aus der Reihe der parkenden Wagen aus und rollte in provozierender Langsamkeit die Straße entlang. Den hellblauen Audi A 6 hatte er gleich erkannt. Sie selbst hingegen konnte er nicht sehen, das heißt, er sah nur ihr schwarzes Haar. Ob einem eine gefällt, oder nicht gefällt, es gibt einen Punkt, wo man die Frau, die vor einem steht, will, nur noch sie will und keine andere. Und sie hatte ihm doch gefallen. Gleich im ersten Augenblick. Er hatte das nur weggeschoben. Weil er sich konzentrieren musste. Weil sein altes Leben ihn nicht losließ. Der Mann mit den Druckventilen.
Martin brauchte jetzt Musik. Er schaltete das Radio ein. Gleich ein super Song. Das war sein Abend. Er fuhr enger auf den Wagen der Andresen auf. Er wollte, dass sie so spürte, was in ihm vorging. Hey! Kein Andresen mehr. Keine Namen mehr. Nur du und ich. Aber ihm gefielen Namen. Er wollte die schmutzigen Worte, die er ihr sagen würde, zusammen mit ihrem Namen aussprechen. Susanne also. Langauer duzte sie ja. „Susanne.“ Er steckte sich eine Zigarette an, hoffte, dass sie auch rauchen würde, als Zeichen dafür, sich mit ihm auf gleicher Wellenlänge zu befinden. Der Song endete abrupt, und sofort war die Stimme des Moderators zu hören. Was sagte der? Jäger der Nacht? Ja, das war er. Ein Jäger der Nacht. „Hörst du jetzt auch den Sender? Warum rauchst du nicht? Komm, steck' dir eine an!“
Vielleicht fuhr sie mit ihm in irgendeine billige Absteige, wo sie niemand kannte. Martin lachte, als er sich vorstellte, wie sie vor ihm eine schmierige Treppe hinaufstieg. Wieder sah er ihre gepflegten Beine vor sich, die Linien ihres schlanken Körpers. Und sofort fragte er sich, ob nicht vielmehr er die Spielregeln diktieren konnte, auch wenn sie jetzt das Gefühl haben mochte, ihm überlegen zu sein, wie sie ihn durch die Stadt lotste. Martin überlegte, ob er ihr anbieten sollte, mit ihm in ein Restaurant zu gehen. Ein Mann und eine Frau, die voneinander noch am Morgen dieses Tages nichts wussten. Vielleicht konnte er ihr die Funktionsweise eines Druckventils erklären, etwas von der Kraft sagen, die übermächtig auf einen Körper einwirkte, sodass dieser zu bersten drohte. Aber er durfte nicht bersten. Als Teil eines übergeordneten Ganzen musste er funktionieren. Die Aufgabe des Überdruckventils bestand nun darin, den maximal zulässigen Druck in einem System zu begrenzen. Überstieg die einwirkende Kraft die Federkraft des Ventils, öffnete sich dieses, um so einen Abfluss der Hydraulikflüssigkeit zum Tank zu gewährleisten. Oder anders ausgedrückt: FF > Fhyd = PE → PA! Und er würde alles daransetzen, in diesem Augenblick kein schnappendes Geräusch zu machen. Sie würde Interesse heucheln, den ausgezeichneten … (Wein) loben, während er sich vom … (Essen) begeistert zeigte, schließlich würde sie sich darüber beklagen, in den Restaurants nicht mehr rauchen zu dürfen, oder sah, wiewohl selbst Raucherin, im Gegenteil darin einen Fortschritt. Er würde in jedem Fall zustimmen, wobei er aber vermied, ihr zu lange in die blauen oder braunen Augen zu blicken. Stattdessen betrachtete er die Linien ihres Halses, und wie das Haar über die Schultern fiel, die Hände, wie sie das … (Fleisch) schnitten, oder nach dem Weinglas griffen, er würde darauf achten, wie sie beim Sprechen die einzelnen Silben dehnte. Hinter jedem ihrer banalen Worte, hinter jeder Phrase wäre das Wissen darum verborgen, dass sie in ihrem Wagen vor dem Hotel auf ihn gewartet hatte. Sie würden peinlich darauf achten, einander nicht zu duzen. Kein „Susanne“, noch nicht. Keine Zärtlichkeit, keine Berührung, keine Vertraulichkeit deuteten für einen Beobachter an, was in dieser Nacht noch folgen würde. Martins Finger trommelten auf das Lenkrad. Er sang mit mit dem Song im Radio.
Irgendetwas irritierte ihn. Sie fuhr im Kreis. Gleich hier in der Nähe musste wieder das Hotel sein. Vielleicht war sie nicht so selbstsicher, wie er das vermutete. Vielleicht wusste sie noch nicht, welche Richtung sie dem Kommenden geben sollte. Dann fuhr sie los. Schoss die Straße entlang. „Hey?“, rief er überrascht. Er stieg ebenfalls aufs Gas. „Machst mich an, und glaubst, du kannst dich dann aus dem Staub machen, du Schlampe!“ Sie hatte den besseren Wagen. Aber dass sie den in der Stadt voll ausfuhr, war unwahrscheinlich. Jetzt wurde sie ihn nicht mehr los. Tatsächlich hatte er wieder aufgeschlossen. Er hätte gute Lust, sie von hinten zu rammen. Sie fuhren jetzt hundertzwanzig. Bei Gelb zog sie über die Kreuzung. Er blieb dran. Jäger der Nacht. Wenigstens waren jetzt die Rollen eindeutig verteilt. Er öffnete das Fenster einen Spalt und warf die Zigarette hinaus. Warme Luft strömte herein. Die Straße war hier dreispurig. Zur einen Seite reihten sich die Bogen der Stadtbahn, auf der anderen standen aschgraue Mietshäuser mit den Neonaufschriften der Nachtbars und schäbiger Bordelle. Sie zogen vorbei an den übrigen Wagen. Aber Martin hatte das Gefühl, dass sie nun nicht mehr versuchte, ihn abzuschütteln. Vielleicht hatte sie nur sehen wollen, wie er reagierte. Wie man sich beim Tanzen näher kam, um zu spüren, wo sich der andere befand. „Mann!“, rief er und „Wow!“ und „Ja!“ Wieder schnappte er nach Luft.
Er wartete auf die Stimme des Moderators. Der war jetzt sein Kumpel, egal, was er sagte, es war Zustimmung. Aufforderung. „Die holst du dir. Ich wünsch‘ dir viel Spaß. Wie ich dich beneide. Ich spiel‘ die Songs nur für euch. Scheiße, dir geht’s gut.“ Das sagte jetzt der Moderator. „Hörst du ihn, Baby?! Hörst du ihn?!“
Aber da vorne tat sich wieder etwas. Der Wagen wurde langsamer. Eine ganze Weile schon leuchteten wieder die Bremslichter auf. Plötzlich bog der Wagen mitten hinein in einen hell erleuchteten Platz. Es gab mehrere Imbissbuden auf beiden Seiten, eine Busstation und vor allem gab es hier eine Menge Leute. Die Dinge nahmen eine unheilvolle Wendung, auch wenn er noch nicht alles begriff. Wieder leuchteten die Bremslichter auf. Der Wagen vor ihm hielt. Auch Martin stoppte den Wagen, hielt in einem Abstand von zehn Metern mit laufendem Motor. Die Tür dort vorne wurde aufgerissen. Die Frau, die aus dem Wagen stieg, hatte Martin noch nie gesehen. Sie hatte ja nicht einmal schwarze Haare, sondern war blond. Sie schrie etwas, irgendetwas wie: Wer sind Sie? Was wollen Sie von mir? Warum verfolgen Sie mich? Dann wandte sie sich an einige der Umstehenden, redete auf sie ein. Auch die Stimme des Moderators war wieder zu hören. Martin konnte das alles nur unbeweglich konstatieren. Erst als sich zwei Männer in die Richtung seines Wagens in Bewegung setzten, gelang es ihm, sich aus seiner Starre zu befreien. Er drückte aufs Gas, zog seinen Wagen knapp an dem hellblauen Audi A6 vorbei, er hörte noch, wie jemand mit der Hand auf das Autodach schlug, dann bog er zurück auf die Straße und verschwand in der Nacht.