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 Gehen, warten, ein toter Hund von S. Eyb-Green

Mitte Juni war Rose aus der Anstalt, die man im Ort spöttisch Dr. Maloneyes Sugarpie Hotel nannte, weggelaufen. Schon bald schloss sie sich Bo an, einer Landstreicherin, die immer wieder in die Gegend kam und für ein warmes Essen oder wenig Geld diese und jene Arbeit verrichtete, Rasen mähen, Autoreifen wechseln. Dass Rose ihr folgte, schien sie nicht zu stören, ungewiss, ob es sie freute.

Anfangs mieden sie die Straßen, denn Rose hatte Angst, dass man nach ihr suche. Aber schon bald waren ihre Beine, sie trug einen schwarz getupften Rock, der nur etwas über die Knie reichte und kurze Söckchen, vom Gift des tückischen Efeus verbrannt; ihre Haut warf Blasen, die Rose in der Nacht kratzte, bis die Beine bluteten, und so gingen sie wieder auf der Landstraße, kaum je etwas anderes als Wälder vor sich und Wälder hinter sich, Ahorn, Birken und Buchen, Birken, Buchen und Ahorn. Sie schliefen auf alten Decken im Wald und selten in Betten, die man ihnen bot, sie hatten Hunger, aber nie länger als ein, zwei Tage, meist fand sich jemand, ein Pfarrer, eine alleinstehende Krankenschwester oder sonst eine mitleidige Seele, die sie versorgte und ihnen für unterwegs noch ein Paket mit belegten Broten mitgab.

Bo sprach oft tagelang nur das Notwendigste, um dann, einer unerklärlichen Laune folgend, ohne Unterlass zu erzählen. Dabei war sie stets besorgt, Rose könne dem Lauf der Geschichte nicht folgen; sie nahm dann aus dem Beutel, den sie um den Hals trug, ein Stück weiße Tafelkreide und zeichnete auf den Asphalt Reihen von Bildern, lang gezogene Menschenfiguren, oft mit Tierköpfen, die liefen oder flogen und einander jagten, fraßen oder liebten; einmal spannte sich eine solche Erzählung zwischen den Orten Springfield und Agawam und blieb dort, bis sie von Autoreifen und Regenschauern gelöscht wurde. Nicht, dass diese seltsamen Darstellungen die Geschichten für Rose tatsächlich verständlicher machten.

Wenn sie in bewohnte Gebiete kamen, verhielt Bo sich misstrauisch, Rose musste dann zur Sicherheit stets außerhalb des Ortes warten, bis Bo ihre Geschäfte erledigt hatte: sie verdiente den einen und anderen Dollar, gab ihn wieder aus und kehrte zurück mit Schuhen, die Rose dringend brauchte, Zahnpasta und Kaffee. Manchmal blieb sie mehrere Tage fort, und Rose wartete und langweilte sich, Bo, klagte sie dann, lass mich nicht so lange allein, und Bo brachte ihr das nächste Mal einige alte Comic-Hefte mit, was nicht ihre Sorgen vertrieb, aber die Wartezeit verkürzte.

Schlimmer als das Warten auf Bo am Rand der kleinen Städte, dort, wo die Tierkadaver in riesigen Hallen verwertet wurden, wo die letzten Bushaltestellen und Baumärkte standen, schlimmer noch waren die Nächte in den Wohnwägen, den schäbigen Häusern, die entlang der Landstraßen jenseits der Städte standen, mit kollabierten Swimmingpools, verrosteten Dreirädern und verbeulten Mülltonnen in den Gärten und bellenden Hunden. Hier wohnten die Frauen der Trucker, der Spieler und Säufer, hier wohnten die verlassenen oder weggelaufenen Frauen mit zwei, drei oder vier Kindern, mit einem Job bei seven eleven oder keinem Job, zuhause vor den Fernsehern, vor den Tellern mit Nudeln und Ketchup, hier schauten sie durch Plastikfenster auf die Skelette der Hollywoodschaukeln und die endlosen Wälder dahinter. Sie alle schienen Bo zu kennen, von früher?, aber Rose erhielt keine Erklärung; ihnen schien Bo nicht zu misstrauen.

Oft saßen sie dann abends, nachdem die Kinder zu Bett gebracht worden waren, zu dritt auf den Stufen der Wohnwägen, Bo in der Mitte, tranken Bier aus Flaschen, redeten über Kinder Männer und Fernsehshows oder redeten nichts und blickten in das Licht der bug zappers, in die sich an diesen warmen Frühsommernächten alle paar Sekunden Gelsen, Nachtfalter und Käfer stürzten, wo sie an den dünnen Drähten hängen blieben und mit einem feinen singenden Laut, der umso länger dauerte, je größer das Insekt war, exekutiert wurden: ein elektrischer Stuhl, der mit seinem blauen Glühen seine Opfer unwiderstehlich anzog. Währenddessen lösten sich die Etiketten von den Bierflaschen, die in einem Kübel mit Wasser kühlgestellt waren, und trieben, hell schimmernd, wie tote Fische langsam zur Wasseroberfläche hinauf.

Hier teilten sie dann später die Betten mit den Kindern, und hier verschwand Bo regelmäßig mitten in der Nacht, nie gelang es Rose, wach zu bleiben, immer schreckte sie zu der von keinem Zeiger vermessenen Stunde neben fremden Kindern auf, löste der fehlende Geruch von Bos Haaren nach Seife und Rauch einen dumpfen Schmerz aus, breitete das eintönige Geräusch der Ventilatoren die Einsamkeit über sie wie eine schwere hohle Decke, lag sie wach bis zum Morgengrauen, bevor sie in einen Schlaf voll unruhiger Träume fiel und erst am späten Vormittag von Fernsehstimmen geweckt wurde. Sie fand Bo dann im Garten, oft reparierte sie ein altes Kinderfahrrad oder war damit beschäftigt, einem Hund die entzündeten Augen zu versorgen. Bo, wo warst du, es schien sie nicht zu kümmern, ich gehe jetzt, und ging, ließ Bo nicht aus den Augen, bis die erste Kurve sie ihren Blicken entzog, aber irgendwo holte Bo sie wieder ein, darauf konnte sie sich verlassen. Und hatte jedes Mal den Rucksack voller Dosen mit Mais, Bohnen und Corned Beef, mit Gläsern voller Erdnussbutter,  mit Toastbrot, Käse und Marmelade.

 

Wann sie zum ersten Mal das Gefühl hatten, dass ihnen jemand folgte, noch dachten sie nicht: verfolgte, ist schwer zu sagen. Die Vermutung schlich sich unmerklich ein, nach und nach, und sie hätten auch nicht sagen können, an welchen Zeichen sie es ablasen, es schien irgendwie in der Luft zu liegen.

Mit Gewissheit wussten sie es an jenem Tag, es war Ende Juni, als sie am Rand der Straße, in einem sorgfältig aus Kieselsteinen gelegten Kreis, eine tote Kröte fanden, die Beine ausgestreckt, den gefleckten Bauch darbietend. Sie war noch nicht lange tot, die Haut noch etwas feucht, und keine Wunde sichtbar. Bo hob sie hoch, roch an ihr und warf sie mit einem Schulterzucken in das Gebüsch am Straßenrand.

Es war einer jener Tage, an denen Bo kaum redete, und der Vorfall blieb unkommentiert; aber sie schien misstrauisch geworden zu sein, sah immer wieder über die Schulter zurück, blieb öfter stehen und lauschte, und saß an jenem Abend an einen Stamm gelehnt beim Feuer, das sie die ganze Nacht nicht ausgehen ließ. Mehrmals meinte Rose in jener Nacht das Knacken naher Schritte zu hören, aber jede Nacht ist Bühne unsichtbarer Dramen, bis sich beim Morgengrauen der Vorhang senkt, dann wird man nicht mehr wissen wer Jäger war und wer Gejagter. So wurden sie mit der Zeit wieder nachlässig und ließen abends die Feuer ausgehen. Nichts passierte weiter.

 

Nichts, nur der alte blaue Chevy am Fluss. Bo ging ein paar Male um den Wagen herum, nichts erschien daran weiter suspekt, er war leer und hatte eine ordnungsgemäße Nummerntafel. Der Wagen war auch nicht versperrt, Bo öffnete die Beifahrertüre, der Sitz voller Hundehaare. Sie steckte ihre Nase in das Auto und schnüffelte, wie ein Hund, dachte Rose, komm, Bo, lass das, wenn jemand kommt, niemand kam.

Es war still, nur die Blätter der Pappeln am Fluss zitterten nervös, als wehte eine Brise, obwohl es windstill war, ruhig dagegen rauschte der Fluss. Bo knallte die Türe zu, ging nach hinten und öffnete den Kofferraum. Was drin, fragte Rose, sie wollte lieber nicht näher kommen. Bo stand einen Moment zu lange über den Kofferraum gebeugt, verneinte ein wenig zu laut und entschlossen und knallte dann die Kofferraumtüre rasch zu, lass uns gehen, drängte Rose; sie mochte den Ort nicht, viele kleine Mücken lagerten im getrockneten staubigen Schlamm zwischen den Steinen, es roch etwas faulig, der Fluss hatte einen ungewöhnlich tiefen Wasserstand, denn es hatte lange nicht geregnet, zu still, zu viele Plastiksäcke in den Büschen gefangen. Lass uns gehen, Bo. Irgendwo bellte ein Hund in der Ferne. Sie kletterten die Böschung zur Straße hinauf und gingen weiter. Bo war wieder misstrauisch geworden.

Als sie in die Nähe von Hollyoak kamen, hieß sie Rose an einer Bushaltestelle warten; das schien ihr unverdächtig, denn es sähe aus, als warte Rose auf den nächsten Bus oder jemanden, der mit dem nächsten Bus ankomme. Sie werde nicht lange in der Stadt bleiben, keinesfalls über Nacht, und werde Rose hier wieder abholen, noch vor Einbruch der Dämmerung. Rose sah ihr nach, wie sie die Straße hinunter ging, nie drehte sie sich um.

Aber sie würde bald zurückkommen.

Rose machte es sich auf der Bank bequem und zog ein altes Comic-Heft aus der Tasche, die Bo hier gelassen hatte. Busse kamen und gingen, man warf ihr verstohlene Blicke zu, misstrauische auch, sah sie eigentlich verwahrlost aus, sah man ihr an, dass sie im Wald schlief, roch sie merkwürdig.

Der Drei-Uhr Bus war noch nicht ihren Blicken entschwunden, als sich einer neben sie setzte. Sie schaute, einer alten Gewohnheit folgend, dem Bus nach, neben ihr, ganz am anderen Ende der Bank saß jetzt einer, der vielleicht den Bus versäumt hatte. Rose warf ihm einen raschen Blick zu, er schien nicht außer Atem oder wütend darüber, den Bus versäumt zu haben; er saß einfach da, so wie sie da saß, so wie einer dasitzt, der nichts zu tun oder zu versäumen oder jedenfalls keine Eile hat, ließ jetzt seinen Rucksack aus grün-grauem Canvas-Stoff vom Rücken auf den Boden gleiten, irgendetwas darin schlug hart auf dem Asphalt auf.

Der nächste Bus würde in zwei Stunden fahren.

Er saß vornüber geneigt da, die Unterarme auf die Oberschenkel gestützt, und schien seine Schuhe zu betrachten. Rose warf ihm einen zweiten, verstohlenen Blick zu, er trug an den Knien durchgewetzte Jeans und ein weißes T-Shirt, gerippt wie die Unterhemden ihres Vaters und ohne Ärmel, so dass man seine muskulösen Oberarme nicht übersehen konnte, die Haare kurz geschoren, aber die Gesichtszüge merkwürdig schlaff und kraftlos, welcher Gegensatz, und Schatten unter den Augen.

Na, sagte er nach einer Weile, wie jemand, der lange über einen Satz nachgedacht hat und ihn dann so beiläufig wie möglich klingen lassen will, na ihr beide seid wohl ganz alleine unterwegs?

Ihr beide.

Ohne eine Antwort abzuwarten, beugte er sich über seinen schlammfarbenen Rucksack und wühlte darin herum, zog schließlich eine schmale Nagelfeile hervor, sank in dieselbe Position, den Kopf zwischen die Schultern geschoben, zurück und begann, seine Fingernägel auszukratzen.

War in Vietnam, sagte er dann unvermittelt, und: schau.

Hörte auf, seine Fingernägel zu bearbeiten, und wandte sich Rose zu. Jetzt sah sie sein Gesicht zum ersten Mal ganz, irgendetwas Irritierendes war daran, es war nicht die Delle unterhalb des Haaransatzes oder die Narbe darüber, auf die er jetzt tippte.

Ein Granatensplitter, erklärte er knapp und blickte sie weiter an, als warte er auf Fragen. Es war seine Augenbraue, die Haare seiner linken Augenbraue wuchsen hinauf, während die seiner rechten Augenbraue hinunter wuchsen. Eine kleine Ungenauigkeit, die den Ärzten passiert war, als sie den Metallsplitter aus dem Schädel operiert und die Knochensplitter wieder zusammengesetzt hatten.

Er wendete sich ab und feilte seine Nägel weiter, noch im Krankenhaus, sagte er und feilte, ich war noch gar nicht zuhause, noch mit Kopfverband, wollte sie es von mir besorgt haben, er lachte laut auf, das Lachen endete abrupt wie eine Notbremsung, ich dachte sie wäre so heiß auf mich, früher hat sie ja immer dann Kopfweh gehabt, wenn ich heiß war, das machen ja alle so, erst machen sie einen heiß und dann haben sie Kopfweh, aber immerhin haben wir uns viele Wochen nicht gesehen und ich dachte wirklich sie wäre so geil auf mich, die Schlampe, und keine sieben Monate später ist dann das Kind gekommen, so ist das: der Krieg verkürzt die Schwangerschaften, sagt man das nicht so? Ich sage der Krieg macht aus den Männern Mörder und aus den Frauen Schlampen, so sag ich das, Mörder und Huren, schönes Land für das man kämpft, die hat sich etwas angefangen mit dem Doc Farley, ist ja immer schon zu dem gerannt, da ein Ziehen, dort ein Reißen, und das ewige Kopfweh, der alte Hurenbock, er spuckte verächtlich aus, der Alte, dass der überhaupt einen hochgekriegt hat, zu alt für den Krieg, aber nicht zu alt zum ficken, er lachte bitter, meine Frau ficken, und mir wollte sie den Bastard unterschieben, glaubt ich kann nicht bis neun zählen und sehe die hellblonden Haare nicht, die von der Tante, ha!, soll doch der feine Herr Doktor zahlen, ihren verdammten Lippenstift und die drei Paar Schuhe jedes Monat und die Röcke, Steve, sagte der Mann jetzt mit hoher verstellter Stimme, Steve wie steht mir das, ist der nicht bezaubernd, und gar nicht teuer, seine Stimme senkte sich wieder, ja, darin hat sie ihm wohl gefallen, in dem bezaubernden Rock, gerade über die Knie, weiße Tupfen auf Schwarz, Polka Dots nennt man das, nicht?, du kennst dich doch in diesen Dingen aus nicht?, hat er sicher auch getanzt mir ihr der Hurenbock der Deutsche, Polka können sie ja tanzen die alten Nazis, und den Frauen die Beine spreizen, das hat er ja studiert, jetzt kann er’s auch bezahlen, nicht wahr, Huren bezahlt man, ist gar nicht so billig, sag ich dir, ich hab schon viele probiert, alles Huren, alle Frauen dreckige Huren.

Nach der Geburt des Kindes war Steve weggezogen, zunächst nur in die Nachbarstadt, doch auch in der neuen Wohnung konnte er keine Ruhe finden, bald schon wurde der blaue Chevrolet sein Zuhause: begleitet einzig von seinem Hund Butch lebte er im Wald, jagte Hasen, Streifenhörnchen, hatte keine Adresse, an welche die staatlichen Schecks der Invalidenrente gesendet werden konnten, und holte sie jeden ersten des Monats bei der Post ab. Dann besorgte er davon Dosen mit Bohnen, Tomatensuppe, Benzin und Zahnpasta.

 

Nachdem Butch diesen Morgen geradewegs vor einen Lastwagen gelaufen war, blieb Steve ganz alleine zurück. Der Lastwagen war genau über den Kopf des Hundes gerollt, und die verrenkten, zermalmten Kiefer hatten seine Züge zu einem sinnlosen Grinsen entstellt. Steve hatte Butch hochgehoben, er war warm und schwer gewesen, hatte ihn mit einiger Mühe in den Kofferraum seines Wagens gehoben und einen Plastiksack unter den blutigen Kopf geschoben, einige Zähne waren auf der Straße liegen geblieben. Den ganzen Morgen war Steve dem Fluchtpunkt am Ende der Straße gefolgt und vor der ewig gekrümmten Straße im Rückspiegel geflohen, bis er, am Ufer des Flusses sitzend, im Vorüberziehen des Wassers Ruhe gefunden hatte.  

 

Mörder, sagte Steve und starrte auf die Straße vor sich, alles Mörder und Huren in diesem Land, sein Gesicht verzog sich jetzt schmerzvoll, er vergrub es in beide Hände, das verdammte Kopfweh, es kroch nicht mehr langsam den Nacken hoch, um sich dort wie die Scheren eines Krebses zu öffnen und sich an den beiden Schläfen fest zu bohren wie früher, sondern fiel ihn von hinten an wie ein hungriger Wolf und grub die Zähne in seinen Schädel, dass Lichtflecken vor seinen Augen tanzten, mühsam erhob er sich und zog seinen Rucksack hoch, besser aufpassen Mädels, so alleine unterwegs, und, schon im Weggehen, drehte er sich zurück und tippte mit zwei Fingern an die Stirne, wenn ihr wen braucht, der auf euch aufpasst, das Grinsen löste sich mit der nächsten Attacke vom Gesicht und zerbrach noch im Fall, wendete sich, wieder mit schmerzverzerrtem Ausdruck, ab und verschwand im nahen Wald.

Wir müssen eine Zeitlang hier verschwinden sagte Bo, als sie von der Begegnung erfuhr.