Sommertext von Waltraud Bondiek
Nana ist fünfzehn. Sie liebt Austern, Perlen, Champagner. Den trinkt sie literweise. Wegen der Perlen. Perlen erinnern sie an ihre Heimat, Austern sind ihr Schmerzmittel gegen das Heimweh. Nana ist ausgerissen. Ich hocke mit ihr im sonnengefleckten Schatten alter Bäume auf einem verwahrlosten Grundstück, uns gegenüber eine baufällige Villa. Dieser verlassene Ort inspiriert mich.
Ich schreibe, das Notebook auf den Knien. Neben mir, zwischen Disteln, Nesseln, Unkraut, Nanas Beine. Mit den Zehen spielt sie am Tragegurt ihres Seesacks. Sie hat ein Übernachtungsproblem. Und weil sie eins hat, habe auch ich eins. Bei mir kann sie nicht schlafen. Ich besitze keine Badewanne, nicht einmal eine Dusche, bloß einen Spülstein. Ihre Lungen sind empfindlich. Um sie zu schonen, muss sie nachts unter Wasser bleiben. Aber wo? Sie fragt mich das mit schilfgrünen Augen. Nana ist stumm.
Gestern hatte ich sie im Waldteich untergebracht. Der kommt für sie nicht mehr in Frage. Kein zweites Mal möchte sie für eine Wasserleiche gehalten und aus den Seerosen gefischt werden. Auch der Fluss scheidet aus. Vom Fluss hatte sie Pickel bekommen, und Durchfall, und war tagelang sehr schreckhaft, weil sie in den Sog eines Schleppers geraten war. Sie tippt mir an die Stirn: Lass dir was einfallen, Alter!
Ich denke nach. Unweit von uns die Reste eines Fuchses, schillernd, wie mit Schmucksteinen besetzt. Ich sehe dem Gewimmel von Fliegen und Ameisen zu. Mir kommt der Zoo in den Sinn. Würden dort Delfine gehalten, wäre alles einfach. In einem Delfinbecken zu nächtigen, wäre Nanas Traum. Mein Vorschlag: das Südpolarmeer, das türkisblau gestrichene, kühl und träge an den Felsnachbildungen in der Pinguin-Anlage nippende Südpolarmeer. Nana schüttelt heftig den Kopf, macht das Zeichen für Angst-vor-Pinguinen und schlägt Aquarium vor, das Aquarium mit den Quallen. Fische würden sie im Augenblick nervös machen. Dieses ständige Hin-und-her, alles andere, bloß das nicht! Ihre Finger zappeln an meinen Augen vorbei, von rechts nach links, von unten nach oben, wie ein Fischschwarm. Quallen hätten dagegen eine beruhigende Wirkung. Nanas Hände werden zu schwebenden Geschöpfen.
Wie stellst du dir das vor mit dem Aquarium, sage ich. Zu den Pinguinen könnte ich dich übers Gitter heben. Wie aber soll ich es anstellen, dich in eine hermetisch abgeschlossene Unterwasserwelt zu schmuggeln?
Sie klopft mir mit dem Fingerknöchel gegen den Schädel: Denk nach, Alter!
Das tue ich die ganze Zeit.
Dann gib dir mehr Mühe.
Wie grün ihre Augen sind. Ich verliere mich in ihrem Gesicht. Verlegen wendet sie sich ab. Als ich sie weiter von der Seite anschaue, nimmt sie den Zopf nach vorn, bedeckt die muschelfarbenen Spalten am Hals. Nana mag es nicht, wenn man die Kiemen sieht. Ihr Blick flüchtet sich ins Gestrüpp und Gesträuch, heftet sich an einen fernen Punkt, ihr Gesicht auf einmal ganz still, um die Nasenflügel ein Schimmer von Trauer: ihr Delfin.
So wie man einen Hund haben kann, hatte sie zu Hause einen Delfin; und so wie Hunde vor ein Auto laufen, war ihr Delfin in die Nähe eines Fangschiffs geschwommen. Nana hat keine Tränen.
Ich könnte jemanden aus der Aquarien-Abteilung in dich verliebt machen, sage ich.
Nana lacht: Bist du blöd?
Also denke ich weiter nach, halte die Leertaste meines Notebooks gedrückt und beobachte, wie der Cursor rennt und Zeile für Zeile nichts schreibt. Als ich den Finger von der Taste nehme, steht da Nymphenbad im Barockgarten. Nana gefällt die Idee. Sandsteinnymphen und ein das Muschelhorn blasender Meergott sollen ihre Träume bewachen, oh ja!
Bis zum Nachmittag bleibt sie bei mir, liest mit, manchmal kichert sie. Ab und zu steht sie auf, um die Fliegen vom Fuchs zu scheuchen oder mit einem Stock in den Ameisen zu rühren. Einmal geht sie Pipi machen, ein anderes Mal prüft sie, ob ihr Fischschwanz getrocknet ist. Heute früh hat sie ihn im Marktbrunnen ausgespült. Wie ein schlappes Fähnchen schlingert er um einen Ast. Heute Abend im Nymphenbad wird sie wieder hineinschlüpfen, wie immer, wenn sie sich ins Wasser begibt.
Gegen Vier wird Nana unruhig. Vier Uhr ist die Stunde des Gezeitenwechsels, der melancholische Moment zwischen dem Kommen und Gehen der Flut bei ihr zu Hause. Der Ozean hat sich in sie eingeschrieben. Sehnsucht befällt sie, sie will fort, will sich in der Innenstadt ein Luxushotel suchen, Champagner trinken und Austern schlürfen. Aus ihrem Seesack nimmt sie etwas Silbernes, eine Art Top, paillettenbesetzt, weiße Shorts und Glitzersandalen. Hinter einem Baum zieht sie sich um. Bevor sie geht, ermahnt sie mich, auf ihren Seesack aufzupassen und auf ihren Fischschwanz Acht zu geben.
Ich schaue ihr hinterher, dem Zopf, wie er pendelt, dem silbernen, im Sonnenlicht blitzenden Rücken, ihrem pflaumenglattem Po in den weißen Shorts, den Jungmädchenbeinen, wie sie damit durch Disteln, Nesseln, Unkraut stakst.
Punkt sieben ist sie zurück. Schwankend vor Glück und perlend vor Champagner umarmt sie mich. Ihre Marmorhaut riecht nach meerfrischen Algen. Es wird Zeit, dass ich sie zum Barockgarten fahre. Ich klappe mein Notebook zu.
Nana will mir einen Irrgarten zeigen, den so gut wie unversehrt gebliebenen Irrgarten auf dem abgebrannten Rummelplatz. Es reizt sie, sich darin mit mir zu verirren. Entdeckt hat sie ihn nach einem Streifzug durch die Stadt, abends, als sie den Weg zum Barockgarten über die Festwiesen abkürzen wollte; das Nymphenbad ist ihr Lieblingsschlafplatz geworden.
Brandgeruch liegt über dem Gelände. Seit dem Frühlingsfest ist es abgesperrt. Betreten verboten. Wir sind allein. Es ist fünf Uhr morgens, die Sonne noch nicht aufgegangen, der Himmel ein Rotgelborange. Zwischen ausgebrannten Fahrgeschäften und Buden, lose flatternden Planen, zusammengebrochenen Gerüsten und verschmorten, bizarr verformten Kunststoffteilen suchen wir nach dem Irrgarten. Mir kommt es vor, als befänden wir uns seit zwanzig Minuten mittendrin. Wenige Meter hinter einem Rauch geschwärzten Toilettenwagen ohne Rückwand – man sieht von hinten in die Kabinen – stehen wir unvermittelt davor. In der Tat, er ist so gut wie unversehrt. Eine Tafel zeigt ihn in der Draufsicht: eingebettet in ein Quadrat ein Endlosgeschlinge, versehen mit Sperren und Durchlässen.
Dem Endlosgeschlinge entspricht eine Endlosgasse, die zwischen mannshohen Holzbrettern hindurchführt, wir haben eine Art Bauzaun zu beiden Seiten. Es gibt Ein-, Aus- und Durchgänge und immer wieder Lichtblicke da, wo ein Brett herausgebrochen ist. Wir folgen Wegen und Nebenwegen, brechen irgendwo ein weiteres Brett heraus, geraten auf Abwege, ins Abseits, ins Aus, im Auge des Labyrinths eine Ansammlung von Baumarktstühlen. Wir nehmen Platz. Hier wird uns niemand stören. Ich klappe mein Notebook auf und beginne zu schreiben.
Nana langweilt sich, sie will eine Stimme, will sich unterhalten mit mir wie ein Mensch.
Ich verstehe dich auch so, sage ich.
Sie macht beleidigte Augen, nimmt den Zopf und fängt an, auf den Spitzen herumzukauen.
Gut, sage ich, speichere meinen Text und gehe die Möglichkeiten auf der Parlando-Datei durch: A,V, Z. Groß ist die Auswahl nicht. Ich wähle Z.
Vielen herzlichen Dank, sagt sie.
Es auszusprechen und wütend aufzuspringen, ist eins.
Ich will keine Stimme, die sich anhört wie ein Zwitschern, zwitschert sie los. Du hast dich im Ton vergriffen, du hast dich im Ton, du hast dich im, du hast dich, du hast, du …
Klar, mir gefällt dieses Ein-Ton-Piepsen auch nicht.
Eine Stimme ist nichts anderes als ein Parfüm, das riecht auch auf jeder Haut anders, sage ich.
Mach mir was Tieferes, zwitschert sie.
Eine tiefere Stimme passt nicht zu deinen kindlichen Brüsten.
Dann mach meine Brüste, bitteschön, fraulicher.
Ich lasse ihr zwei Dinger wachsen, zwei heiße Hebungen von unsinniger Schönheit, die – Mann-o-Mann –, also vollbusiger ist keine Galionsfigur an einer hanseatischen Kogge.
Mach die wieder weg, zetert sie.
Moment, sage ich, hör doch erst einmal, wie die Schönheiten unter deinem T-Shirt zu dieser Stimme passen.
Die V-Stimme zergeht ihr förmlich auf der Zunge; ich höre Sahneeis mit Karamellgeschmack schmelzen.
Eine Vamp-Stimme steht dir nicht schlecht.
Komm, Alter, damit gehen wir jetzt eine Badewanne kaufen.
Plötzlich hat sie Grübchen in den Wangen. War ich das? Ich klappe mein Notebook zu.
Nana ist neugierig. Sie will wissen, wie das funktioniert mit den Männern und den Frauen und den Kindern. Bei ihr zu Hause sei man einfach da; nach einem Schlaf ohne Herkunft erwache man auf dem Meeresgrund, meist in einem Wrack, arbeite sich durch Holzplanken, verrottete Aufbauten, mit Korallen und Muscheln überwachsenes Holz, Schiffsschrauben, Maschinenteile, Frachtgut, bei eben gesunkenen Fähren oder abgestürzten Flugzeugen vorbei an eingeklemmten Ertrunkenen. Eingehüllt in Luftblasen steige man aus der Tiefe nach oben, von nun an Meerjungfrau. Dreihundert Jahre lang.
Wir liegen in meinem Schlafzimmer, ich auf dem Bett, Nana in der Badewanne. Sie trägt ihren Fischschwanz. Bis zu den Marmorschultern ist sie im Wasser verschwunden, ihr Zopf hängt über den Wannenrand, ihre Brüste zwei schneeweiße Zwillingsinseln. In der Hand hat sie ein Glas Champagner, ich auf dem Bauch mein Notebook. Der letzte Satz auf dem matt leuchtenden Bildschirm: Hinter dem Fenster der Nachthimmel, still, mondlos und voller Sterne, ein Sommernachtblütenwind weht herein. Der Satz gefällt mir. Kitsch muss sein.
Ich erkläre Nana, wie das funktioniert mit den Kindern und den Frauen und den Männern. In aller Ausführlichkeit erkläre ich ihr Schritt für Schritt, alles in der richtigen Reihenfolge. Auch warum es manchmal nicht funktioniert. Nana staunt. Mit großer Zärtlichkeit streichelt sie beim Zuhören über den Ansatz ihres Fischschwanzes unterhalb vom Bauchnabel. Sie denkt nach. Worüber, ist mir klar, auch, was sie sehen will, als sie plötzlich ihr Glas auf den Boden stellt und sich in der Wanne aufsetzt.
Du hast mir deinen Schwanz noch nicht gezeigt. Mich interessiert, wie er aussieht und ob die Schuppen mitwachsen, wenn er groß wird.
Sie starrt auf meine Hose, und ich denke, dass es klüger gewesen wäre, ihr die Sopranstimme zu geben.
Mein Schwanz hat keine Schuppen, antworte ich.
Nana stutzt.
In deinem Alter, Alter, dürften sie eigentlich noch nicht ausgefallen sein. Zähne: ja, Haare: ja, aber Schuppen … Mach dir nichts draus, das kann man nur akzeptieren, wie Falten im Gesicht.
Mein Schwanz ist nackt. Das war er von Anfang an und wird es bleiben.
Das hört sich nicht gut an.
Fühlt sich aber gut an.
Los zeig!
Unschlüssig klimpere ich auf meinem Notebook herum.
Ich möchte dich nicht erschrecken.
Schwänze erschrecken mich nicht. Ein Octopus hat immerhin acht. Und der vom Hai ist spitz, hart – und scharf. Los zeig!
Wie du willst, seufze ich, lösche den Satz mit dem Sommernachtblütenwind – er gefällt mir doch nicht – und schalte mein Notebook aus.
Nana treibt sich herum. Tagelang schon streunt sie durch die Stadt wie ein rolliger Katzenhai. Ich sehe sie Champagner trinken, sehe sie – krank vor Heimweh – Austern im Dutzend bestellen und nicht bezahlen. Und Schwänze angucken sehe ich sie. Seit Tagen schlafe ich neben einer leeren Badewanne. Wozu haben wir sie angeschafft, wenn nicht für sie? Wozu haben wir Trödelläden und Flohmärkte abgeklappert, nur weil sie auf einer mit Löwenfüßen bestand? Wozu die neue Armatur über dem Spülstein? Doch nur, damit wir den Gartenschlauch anschließen und die Löwenfüßige füllen konnten. Meine Zimmerlinde gieße ich mit der Kanne. Ich bin stinksauer.
Nana hat sich nicht herumgetrieben. Sie hat nach einem Abschiedgeschenk für mich gesucht. Jetzt steht sie damit in der Tür, tritt sich die Füße ab und strahlt mich an.
Es war nicht einfach, einen Delfin aufzutreiben, einen, der schwimmt und taucht, der aus dem Wasser springt und Pirouetten dreht und nicht größer ist als ein Goldhamster.
Traurig betrachte ich mein kleines, von ihr in einem Spezialbehälter mit Schleife transportiertes Abschiedsgeschenk.
Freu dich doch, sagt sie.
Geht nicht, sage ich.
Und das hier gehört dazu.
Was dazu gehört und wie ein blauschwarzes Waschmittel aus der Packung rieselt, färbt das Wasser in der Löwenfüßigen pazifikblau. Nana steckt die Hände hinein, macht Wellen, damit das körnige Pulver sich besser auflöst. Sie tupft mir einen Tropfen auf die Lippen. Ich schmecke den Ozean.
Bevor wir den Winzling von Delfin hineinsetzen, zeigt sie mir, wo die Batterie sitzt und wie man sie wechselt. Auf der Unterseite, in Prägeschrift, eine Telefonnummer. Für den Fall, dass das Atemrohr verstopft ist, die Flossen ersetzt werden müssen oder der Schwanz umknickt, erklärt mir Nana.
Jetzt steht sie mit ihrem Seesack im Flur. Ich schenke ihr Tränen. Das ist mein Abschiedsgeschenk. Ich verstehe nicht, warum sie aus unserer Geschichte raus will.
Warum, Nana?
Nimm es mir nicht übel, Alter, ich träume von einer Wiedergeburt auf einer anderen Datei deines Notebooks. In meinem neuen Leben lass mich dreizehn sein und ein menschliches Nymphchen, nenn mich Lolita, Licht deines Lebens, Feuer deiner Lenden, deine Sünde, deine Seele. Die Zunge macht …
Stopp, sage ich, einen solchen Text gibt es schon, leider nicht von mir.
Sie klopft mit dem Fingerknöchel gegen meinen Schädel. Dann lass dir einen neuen einfallen, Alter!