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 Plattenspiel von Wiete Lenk

Die Größe der Gehwegplatten hat sich verkleinert. Sie stockt, um den Takt ihrer Schritte wechseln zu können. Um nicht auf den Strich zu kommen. Nach einem Zwischenschritt hat sie sich wieder eingespielt.

Das Plattenspiel spielt sie seit Jahren. Beharrlich, unbeirrt und mit zunehmender Glücklosigkeit. Am liebsten mag sie es, wenn die Straßen und Gehwege leer sind, wenn sie ungehindert von Platte zu Platte springen kann. Sie sagt Strich zu den Fugen zwischen den Gehwegplatten. Sie hat von Anfang an Strich gesagt. Straßenstrich. Mit einem Fingerschnippen räumt sie ihre Gedanken beiseite. Sie kennt die Tücken des Spiels. Sie kennt die Stellen, die ihre Füße zum Schrittwechsel zwingen, zu kleinen Hopsern.

 

Die Katze miaut ihr entgegen. Sie streicht an ihren Waden entlang und zwängt sich, den Schwanz steil in die Höhe gereckt, zwischen ihren Beinen hindurch. Geh weg du, sagt sie zur Katze. Aber die geht nicht. Sie will mit ins Haus, zu ihrem Fressnapf. Weg du wiederholt sie barsch. Doch die Katze ist längst durch den Türspalt gehuscht. Missmutig steigt sie die Treppen empor. Stockwerk um Stockwerk. Die Fahrstuhl ist außer Betrieb. Sie hat diesen Riss übersehen. Solche Tage besitzen Verlierermentalität.

Die Katze ist schon am Fressen. Gierig schlingt sie das Futter in ihren Katzenmagen, mit kleinen ruckartigen Bewegungen. Diesmal hab ich verloren, sagt sie zur Katze und schiebt mit der Schuhspitze deren Fressnapf beiseite. Ein roter Hartplastikfressnapf. Für Katzen und Hunde. Die Katze läuft ihrem Napf nach. Sie hat gestern nicht reingekonnt. Sie muss den gestrigen Tag heute mitfressen. Warum keiner die Risse kittet. Sie knipst den Metallverschluss ihrer Handtasche auf und sucht nach dem Schlüssel. Sie ist müde. Die Nacht ist lang gewesen.

 

Die Welt der Bürgersteige, der Gehwegplatten hat Maße. Fünfzig mal fünfzig. Oder dreiunddreißig mal dreiunddreißig. Oder fünfzig mal dreiunddreißig. Die Erde ist koordiniert. Die Städte sind plattenbedeckt. Sie hat Erfahrung. Da gibt es Platten aus Waschbeton, aus Sandstein oder Zement. Braun, beige oder natur. Natur heißt nicht grün. Auf der Farbtonskala der Gehwegplatten heißt Natur hellgelbgrau.

Sie weiß, dass es beim Plattenspiel auf das Muster ankommt. Sie hat ihren Gang, ihre Schrittfolge mit den rechteckigen, quadratischen, den halbrunden Platten in Einklang gebracht. Sie hat alles berechnet. Nur die Risse nicht, die sich während der Jahre in die Platten gefressen haben. Die Risse sind unberechenbar.

 

Sie zieht die Gardine beiseite und spürt wieder das Zittern, ein heller schüchterner Schmerz. Mit angehaltenem Atem wartet sie ab. Blass und welk hängt der Mond im Morgen, wie die Knopflochblumen am Revers manch ihrer Freier. Es ist Sommer und der Mond hängt sehr hoch über der Stadt. Wenn sie die Augen zusammenkneift, kann sie die dunklen Mondkrater erkennen, die Hochländer, die Gebirge.

Ihre Füße zucken. Keine Spiele dort oben. Der Mond besitzt weder Wege noch Straßen. Die Katze kratzt an der Tür. Auch keine Katzen. Auf dem Mond gibt es auch keine Katzen. Katzen und Hunde. Sie umrundet das Rautenmuster des Teppichs. Hunde stören. Neben den Rissen sind es die Hunde, die nicht berechenbar sind. Neulich hat sie zwei Hunden ausweichen müssen. Die sind ihr entgegen gewedelt, geradewegs auf sie zu. Zwei Pinscher, kleinwüchsig und überflüssig. Sie ist ihnen ausgewichen und dabei auf eine Fuge gekommen. Danach ist alles schief gelaufen.

 

Sie hat nicht schlafen können. Weil die Nacht zu gierig gewesen war. Weil sich der Lärm durchs angewinkelte Fenster drängte. Sie hat sich ans Fenster gesetzt und auf die Straße gestarrt. Wie immer. Und hat die Autos gezählt, die unten vorbeifahren. Nach dem zwanzigsten hat sie aufgehört. Sie hat das Radio geweckt. Und hat nach Stimmen gesucht. Immer, wenn sie nicht schlafen kann, nach dem Zählen der Autos, der Tauben, der Schwalben, Kräne und Wolken, geht sie auf Stimmensuche. Das Radio, Großmutters Röhrengerät mit schwarz lackiertem Gehäuse, birgt eine Vielzahl an Stimmen in sich. Stimmen von Männern und Frauen. Stimmen, die neben ihr, die über ihr schweben und ihre schlaflose Schwermut vertreiben. Hellglockige Frauenstimmen, wie ein Hauch hingetupft. Oder die sanften dunklen Laute der Männer, deren Ruhe ihr gut tut. Es sind die Stimmen der Radiomenschen, die sie auf der Suche nach Schlaf begleiten, sie ablenken von diesem eigentümlichen Zittern, das immer häufiger ihren Körper befällt. Verzweifelt hat sie nach einer Stimme gesucht, die sie wegbringt, weit weg.

Aber an diesem Tag haben die Stimmen anders geklungen, als sonst. Laut und verzerrt. Laut und verzerrt, wie die Lautsprecher der Bahnsteige, der Wartezimmer. So hat sie die Stimmen ausgeschaltet. Und hat sich wieder ans Fenster gesetzt und begonnen, die Tauben zu zählen. Jetzt also die Tauben. Sie ist auf neun Tauben gekommen, die sich auf dem Dachfirst des Nachbarhauses niedergelassen haben, aufgereiht wie eine Männerriege beim Morgenappell. Die Tauben sind wie immer gewesen. Nur eine Winzigkeit aufgeregter, eine Winzigkeit flügelklappernder. Ab und zu hat sich eine von ihnen zum Flug in die Luft erhoben, hat sich nach wenigen Runden erneut niedergelassen. Neben den anderen. Sie hat gemeint, das kollernde Taubengurren zu hören, herausgeschält aus dem tosenden Lärmen der Stadt. Alle meine Täubchen hat sie gedacht. Und hat begonnen, die Schwalben zu zählen. Jetzt also die Schwalben. Da ist auf fünf, vielleicht sieben gekommen. Schwalben zu zählen, ist schwer.

Danach hat sie das Zählen aufgegeben. Alles ist schon nummeriert, hat sie gedacht, alles ist schon begutachtet, betastet, gewogen, geprüft. Sie haben die Erde im Katalog untergebracht. Mich ebenfalls. Ebenso wie die anderen, die Straßen und Häuser, die Tiere, die Stimmen der Radiomenschen. Zitternd hat sie die leere Zigarettenschachtel zerknüllt.

Zehn Jahre, dass ich hier lebe, Tage und Nächte. Die Nächte gierig, die Tage schlaflos und lärmend. Zwanzig Jahre, dass ich den Fugen der Platten ausweiche, die Sender nach Stimmen absuche, dass ich Tauben und Schwalben zähle. Sie hat aus dem Fenster geschaut. Von hier sieht alles so unwirklich aus. Zerlegt, zerschnitten in tausend Teile zerhackt. Unendlich viel Puzzleteile, die kein Ganzes ergeben.

 

Dann hat es geklingelt. Sie ist zur Tür gegangen und hat den Postboten angestarrt, der einen Brief hochhielt. Ich krieg nie Post hat sie dem Postboten

gesagt. Ich brauch auch keine. Der Postbote hat mit den Achseln gezuckt und den Brief ein Stück höher gehalten. Dicht vor ihre Augen. Ich krieg eine Unterschrift hat er gesagt. Ich muss die Unterschrift abrechnen. Übrigens, der Fahrstuhl geht nicht. Das hab ich schon letzte Woche gesagt.

Sie hat den Mund verzogen, hat unterschrieben, den Brief vorsichtig angefasst und die vielen Stempel studiert. Klar, hat sie gedacht, nach dem verlorenen Spiel heute morgen, klar, dass da ein Stempelbrief kommt. Wortlos hat sie dem Postboten zugesehen, seinen bockigen Versuchen, den Fahrstuhl zu rufen.

 

Heute Nacht werde ich Kopfschmerzen haben, hat sie gedacht und eine Schere gesucht. Um den Brief zu öffnen. Dieser verdammte Lärm. Sie hat keine Schere gefunden. Na bitte, hat sie gedacht, wenn keine Schere zur Hand ist, brauche ich diesen Brief nicht zu öffnen. Einen Stempelbrief öffnet man mit der Schere. Das ist das Mindeste, das man tut. Sie hat den Brief an den Brotkorb gelehnt. Im Korb liegen Rechnungen. Die sie bezahlen muss. Wenn wieder Geld da ist. Wenn ich die Schere finde, werd ich dich öffnen, hat sie zum Brief gesagt.

Die Nachbarin hat an die Tür geklopft. Nicht mit dem Knöchel des Zeigefingers. Die Nachbarin schlägt stets mit der flachen Hand an die Tür. Schmallippig hat sie ihr mitgeteilt, dass die Hausordnung ansteht. Bittschön das Fräulein, hat die Nachbarin gesagt, mich geht’s ja nichts an. Auch wenn Sie immer erst frühmorgens heimkommen, die Hausordnung muss trotzdem erledigt werden. Das wäre ja noch schöner, wenn nicht, mein Fräulein.

Sie hat die Tür zugeschlagen. Mich geht’s ja nichts an. Die Nachbarin, die stets einen Spalt ihrer Tür offen hält. Um nichts zu verpassen.

Einmal hat sie gefragt, wozu dieser Spalt wäre, wozu die geöffnete Tür. Die Nachbarin hat den neugierigen Spalt mit der Katze begründet. Ist von der Tür auf die Katze gekommen. Von der Katze aufs Futter. Katzenfutter sei teuer geworden. Sehr teuer sogar. Eine geschlossene Tür spare Heizkosten hat sie der eifernden Frau entgegnet. Die hat beleidigt ihr Kinn hochgereckt und die Katze drei Tage hungern lassen.

Dann hat sie bemerkt, dass nichts mehr im Kühlschrank ist, womit sie sich Brief und Nachbarin hätte wegtrinken können. So hat sie nach Geld gesucht, um etwas kaufen zu können.

Die Wegplatten zum Supermarkt sind im Wabenmuster verlegt worden. Eine Herausforderung, wenn man es eilig hat. Die Waben erfordern Geschicklichkeit und einen professionellen Gang. Sie ist über die Waben getänzelt und hat den Radfahrer ignoriert, der auf sie zukam. Sie hat einfach die Augen geschlossen und sich nicht von der Stelle gerührt. Und gehofft, dass der Radfahrer ihr ausweichen würde.  Idiotin, hat der geschrieen und kurz abgebremst. Und ist kopfschüttelnd weitergefahren.

Sie hat an den Mond denken müssen. Dass es dort ruhiger ist, dass es dort keine Katzen und Hunde gibt. Und keine Radfahrer. Sie hat nach oben geschaut. Noch nicht betoniert, dieser Mond, hat sie gedacht. Aber bald, sicher sehr bald. Die Städte der Erde schon lange. Einbetoniert. Sie sind mit Platten besteckt. Nicht mit Näglein, wie in dem Kinderlied, das Großmutter immer gesungen hat. Damals, als die Enkelin wieder einmal nicht schlafen konnte. Als der Wind an den Fensterläden gerüttelt und der Mond nickende Schattenzweige über Bettdecke und Großmutters Runzelgesicht spazieren ließ. Laterna Magica.

Guten Abend, gut Nacht hat Großmutter mit hoher dünner Stimme gesungen. Und dann sind sie beide, Großmutter und Enkelkind, eingeschlafen.

Morgen früh, wenn Gott will, wirst du wieder geweckt. Sie muss an den Morgen denken, da Großmutter nicht wieder geweckt worden ist. Wenn Gott will. Wahrscheinlich wollte Gott nicht. Großmutter ist nun weit weg, haben die Leute zu ihr gesagt. Auf dem Mond, hat sie gefragt. Weil, der Mond hat für sie weit weg bedeutet. Und die Leute haben genickt. Ja, ja auf dem Mond, mein Kind.

 

Im Supermarkt hat sie eine Zeitung, zwei Flaschen und eine Dose Katzenfutter gekauft. Dann hat sie sich auf den Heimweg gemacht. Diesmal ist ihr kein Radfahrer in die Quere gekommen. Sie hat auch nicht geh weg du zur Katze gesagt, sondern ihr Fell gekrault und das Futter dicht vor die Augen der Katze gehalten. So dicht, wie der Briefträger den Stempelbrief. Dafür kratzt du nicht mehr an die Tür hat sie gesagt. Die Katze ist einverstanden gewesen. Immer noch keine Schere hat sie drinnen zum Brief am Brotkorb gesagt und die Dose für die Katze geöffnet. Und eine der Flaschen für sich. Anschließend hat sie den roten Hartplastiknapf vor ihrer Tür mit dem Dosenfleisch gefüllt. Lass es dir schmecken, Katze.

Die Zeitung hat sie, nach flüchtigem Blick auf Wetter und Horoskop, zu den anderen Zeitungen gelegt. Sie kauft jeden Tag eine Zeitung. An guten Tagen liest sie die erste, die zweite und letzte Seite. Sie liest, was die erste Seite mit ihren adipösen Schlagzeilen zu wissen vorgibt und was die Kommentatoren auf Seite zwei dazu meinen. An guten Tagen glaubt sie den Horoskop-Prophezeiungen auf der letzten Seite: Dem Glück, das Ihnen heute begegnet, sollten Sie unbedingt vertrauen. Sie ist Jungfrau und an Gewinner-Tagen darauf bedacht, dem Unglück ein Schnippchen zu schlagen. An schlechten Tagen schlägt sie niemals die Zeitung auf. Sie wirft nur einen Blick auf die letzte Seite, die Wetteraussichten, die Pollenwerte, und glaubt ihren Sternen kein Wort.

Sie hat unter dem Zeitungsstapel die Schere entdeckt. Na gut, denkt sie. Die blöde Schere ist wieder aufgetaucht. Es gibt keine Ausflüchte mehr, den Brief nicht zu öffnen. Dann mach ich es heute. Mit dem Brief in der Hand geht sie zum Fenster. Unten donnert ein Lastwagen vorbei. Ein schlechter Tag, weiß sie und spürt erneut dieses Zittern und zieht den Brief aus seinem Umschlag heraus. Den Kopf an die Scheibe gedrückt, beginnt sie zu lesen. Dann blickt sie hoch. Sie öffnet das Fenster und schaut auf die Dächer der Häuser, die Tauben, die Schwalben.

Die Stadt dampft. Aus allen Poren dringt der Stadtatem empor und nimmt ihr die Luft. Großmutter. Sie muss an Großmutters Herbste denken: der Nebelfrau, die über den Wiesen tanzte, die stoppelbärtigen Äcker gleich hinterm Haus, das Blattgold der Bäume. Sie zittert. Mit Blattgold das Schuldenloch stopfen, die Risse und Schlaglöcher auf den Straßen.

 

Da hört sie die Katze. Die Katze kratzt an der Tür. Geh weg du, ruft sie. Die Katze versteht nicht und kratzt wie wild weiter.

Sie geht sie zur Tür. Wir werden jetzt fliegen, sagt sie zur Katze, wir beide. Sie greift in den Nacken der Katze. Die windet sich. Du zuerst. Das Tier miaut kläglich. Sie hält das sich windende, strampelnde Tier aus dem Fenster. Die Sonne blendet. Aufgeschreckt flattern die Tauben davon.

Keine Angst, sagt sie zur Katze und faltet den Brief zum Flieger, faltet noch eine Falz mehr. Und fegt ein paar Katzenhaare vom Fensterbrett.

Von unten dringt das Kreischen von Bremsen herauf. Sie schüttelt den Kopf und schließt das Fenster. Wir können nicht wegfliegen, sagt sie. Wir können das einfach nicht.

Die Katze sitzt unter dem Tisch und faucht.