Die Herzlosen von Georg Babel
Sie hatten mich heute Abend natürlich nur nach Haßloch eingeladen, weil sie dachten, ich könnte ihre Gesellschaft bereichern: ihren spießigen Kreis von jungen und dynamischen Gymnasiallehrern, von Kiefer-Orthopäden, Erzieherinnen und Informatikern, daher hatte Martha mich angerufen, weil sie dachte, ich könnte diese Ansammlung von Scheintoten lebendiger, geistvoller machen, weil ich doch Philosoph war, oder das, was sie dafür hielten, weil sie keine Ahnung hatten, was ein Philosoph eigentlich war, weil sie selbst den ganzen Tag mit der Hand im Arsch herumliefen, vor ihrer Klasse standen, wie vor meinen eigenen Kindern, wie Martha verquer lächelnd sagte, dass mir übel wurde, und weil Kevin, ihr herzloser Gatte, den ganzen Tag Kindern einen Maulkorb verpasste und seine berichtigten Zähne blitzen ließ: zuletzt hatten sie mich, den Philosophen, eingeladen, weil auf der Geburtstagsfeier auch alle anderen, Geburtstagsparty, wie sie, hip und jung wie sie waren, sagten, von nichts eine Ahnung hatten, in ihren Lehrer- und Behandlungszimmern und Kellern saßen, während ich doch der Philosoph war, der bunteste und eigentlich harmloseste unter allen hässlichen Vögeln, dachte ich, als ich, warum auch immer, in die Bahn nach Haßloch einstieg, in diese unsägliche Bahn, die mich nahezu vor ihrer Haustüre absetzen würde, vor diesem unsäglich spießigen Eingang, mit der braunen Willkommen-Matte und dem schlimmen Kranz von künstlichem Efeu.
Als ich so mein Philosophengesicht sich in der dunklen Scheibe spiegeln sah, tauchte ihr kranker Vorgarten in mir auf, von einem halbhohen Metallgitter umgeben, ein paar große Steine lagen darin, ein verkrüppelter Rosenbusch, sehr hässliche, unsäglich hässliche Tonfiguren: Engel, Putten, Schlimmeres, und Tontöpfe, dachte ich, das letzte mal standen links wie rechts große Tontöpfe auf der Treppe, als ob sie nur darauf warteten, dass jemand sie herunter stieß, der Besen lag bestimmt bereit, der vorwurfsvolle Blick, dem Philosophen aber würde Martha rücksichtsvoll alles verzeihen, weil er eigentlich ja nichts dafür konnte, und sie würde umständlich die Scherben zusammenkehren und im Mülleimer schnell verschwinden lassen, wo sie alles hintat, was ihr aus den Augen, aus dem Sinn sollte, dachte ich, wahrscheinlich tat sie dort auch all ihren Hass, ihre Angst hinein, ich stellte mir vor, wie all das Kranke ganz tief unten im Eimer zuckte, der Selbsthass, die Selbstangst, all die lästigen kranken Selbstgefühle, die sie loshaben wollte in ihrer staubfreien, makellosen Welt, die sie vorsorglich in Beton gegossen hatten, Martha und Kevin: dieses unsägliche Fertighaus mit den kranken dürren Säulen am Eingang, dem Partyraum im Keller, im Erdgeschoss die Kieferorthopädiepraxis, dieses schlimme Haus, wo ich in einer halben Stunde schon eintreten würde, und Martha würde öffnen, als sei ich nicht fünf Jahre nicht dort gewesen, als sei ich nicht das erste Mal ohne Nora da, weil Nora tot war, und Martha würde alles tun, um an diesen peinlichen Umstand nicht erinnert zu werden, würde Kevin, ihren unsäglichen Ehemann rufen, der würde angeschlichen kommen, mir jovial auf die Schulter klopfen, mit der Trajansäule im Arsch.
Dort waren wir, Ewigkeiten war es her, tatsächlich gestanden, Martha, Nora und ich, als wir zum Abschluss des Gymnasiums nach Roma fuhren. Wir drei, Hand in Hand, schwänzten die Führungen, spazierten den ganzen Tag durch die in der Sonne glühenden Gassen, saßen am Campo de’ Fiori und sahen dem Markt zu, bis wir abends mit vino dann am Ufer saßen und schließlich Pläne schmiedeten in der Albergo del Sole, wo ich in Marthas Schoß lag, die Sterne über mir, und in mir Noras dunkle Stimme. Das war vielleicht das letzte Mal, dass sie sich nicht als Tourist gefühlt hatte in der Realität, dachte ich, wo es noch still gewesen war in ihrem Herzen, und nicht leer und laut, ehe Nora und ich nach Heidelberg gingen und Martha nach Mannheim, wo sie sich heimlich verlobte mit diesem Arsch, sie sich an ihn kettete und seitdem in Haßloch feststeckte und Primeln an den Zaun pflanzte.
Nora aber hat die beiden gemocht, dachte ich, nachdem ich den Platz gewechselt hatte, weil irgendeine Kranke neben mir nicht aufgehören wollte, ins Handy zu schreien, aber Nora hat jeden Menschen irgendwie gemocht, und wenn er noch so armselig gewesen war, meine Nora war eine Heilige, und daran war sie auch gestorben, weil sie sogar so kranke unsägliche Leute wie Martha und Kevin gemocht hat, und die haben ihr das Leben geraubt und sie umgebracht, weil Nora sich doch alles so zu Herzen genommen hat, weil sie einfach nicht geboren war für diese Welt, die sie quälte und zerstörte, systematisch zugrunde richtete, weil sie nicht in so eine unsägliche Welt hinein gehörte, wo man rücksichtslos sein Herz niedertrampelte, um nicht an ihm zugrunde zu gehen, wie Nora langsam daran gestorben war: und darum ruhte Nora auch jetzt auf dem Grund von Marthas Mülleimer, zugedeckt von dem anderen Müll, den Martha Tag um Tag aus ihrem unsäglichen Herzen stieß, aus den Ikea-Zimmern, den Buchregalen mit den Lektürehilfen und Lexika, den Grönemeyer-CDs und den Terrakottakrügen, mich aber hatten sie noch auf dem Schirm, wie sie sagten, als sie angerufen hatten, aber eigentlich hatte ja nur Martha angerufen, weil Kevin mich, den Philosophen, nicht leiden konnte, was glücklicherweise auf Gegenseitigkeit beruhte, weil ich mal was hatte mit Martha, als wir noch beinahe Kinder waren, damals in der Schule, und Kevin sie vorsorglich gleich geheiratet hat, gleich als er sie an der Uni kennen gelernt hatte, wo ich schon längst mit Nora zusammen war, dachte ich, Nora, die mal dies, mal jenes, studierte, und ich, der Philosoph.
Es waren nur noch zwei Stationen bis Haßloch, dachte ich, bis zur Schule, dieser unsäglichen kranken Schule, wo es schön gewesen war mit Martha auf dem Pausenhof, und natürlich hatte Martha Lehramt gemacht, hatte das Studium eiskalt durchgezogen, wie sie sagte, weil sie es nicht leicht gehabt hatte auf der Schule, weil sie eigentlich nur dahin zurück wollte, es allen zu beweisen, darum hatte sie ihre Locken geglättet, ihre weichen Locken, die ich mir einbilde noch zu spüren, wenn ich will, auf meinem ganzen Körper, als wir nachts heimlich auf ihrem Balkon lagen, leise wegen der unsäglichen Mutter, und ich ihren vogelsüßen Busen spürte unterm Shirt, jetzt trug sie Rollkragen, und war vollkommen frigide, dachte ich, als die Bahn am nächsten Halt ankam, und stellte mir vor, wie Martha mit dem spießigen Kieferorthopäden Kevin vögelte, in diesem schlimmen Schlafzimmer mit den Herzkissen und dem dreifachen Laken, in das ich indiskreterweise mal einen Blick geworfen hatte, an dem Tag, als ich das letzte Mal dort gewesen war vor fünf Jahren, als wir Nora begruben: Martha hatte sich natürlich um alles gekümmert, es war so perfekt und reibungslos abgelaufen, ich hätte kotzen wollen, wenn ich noch Kraft genug gehabt hätte, aber Nora war tot und genauso tot war ihr Begräbnis, ihr beschissenes Begräbnis in Haßloch, das Martha vorsorglich organisiert hatte, selbstverständlich wie sie sagte, Nora war doch meine beste Freundin, sagte sie verquer grinsend, und dabei hatte sie Nora monatelang nicht angerufen, als sie in der Klinik lag, und nur einmal hatten Kevin und Martha sie besucht, und hatten scheußliche kranke Blumen dabei und versuchten locker zu plaudern mit der ganzen geballten Faust im Arsch, dachte ich, warum aber hatte ich den Hörer überhaupt abgenommen, bei unterdrückter Nummer, ich hätte es klingeln lassen können, dachte ich, hätte noch ein wenig in meinem Pascal weiter lesen können, stattdessen nahm ich ab, in einem Moment der Schwäche, irritiert von der Störung, die ich doch nach Noras Tod versucht hatte abzustellen, als ich endlich unfreundlich, rücksichtslos und einsam sein durfte, räusperte mich sogar, und dann schob sich Marthas unsäglich gepresste Stimme, die locker und freundlich klingen wollte, tief in meinen Arsch.
Als es mit Nora, leicht war sie und dünn wie eine Feder geworden, zu Ende ging, nahm ich ein Freisemester, schloss mein unsägliches Büro hinter mir ab, holte Nora aus ihrem Krankenbett, und wir flogen endlich nach Irland hinüber, und weil Nora dachte, es wäre eine gute Idee, doch Martha und Kevin mitzunehmen, kamen sie schweren Herzens mit, was Nora gleich verzieh, wie sie schon immer alles gleich verzieh, weil sie jeden Menschen mehr liebte als sich, vielleicht war sie auch daran gestorben, dass ihr Herz immer Nomadin war und nie ruhte bei ihr, und je kränker sie wurde, desto weniger stieß sie sich an den Dingen: wir übernachteten in staubigen, stickigen Herbergen, was Martha und Kevin ganz krank machte, wir aßen trockenes Toast, weil das billig war, bis Kevin eine Ahnung von Schimmel entdeckte und wir uns eine andere Herberge suchen mussten, schließlich wollte er Urlaub machen und mal ausspannen, relaxen, wie sie sagten, Martha und Kevin, die immer Hand in Hand gingen, schlichen, weil sie sich nicht überanstrengen wollten, weil es ja schließlich Urlaub war, wie sie sagten, als Nora und ich allzu ausgelassen durch das nasse Gras liefen: wir wanderten in Killarney durch Wald und sonnengeflutete Wiesen, an Seen, schwarzen friedlichen Kühen und scheuen Schafen vorbei, auf neblige Berggipfel zu, und Schwärme von Raben sammelten sich am Abend in den Bäumen, lärmend auf den Dächern der Stadt, als wir in den Pub gingen, wo Nora und ich alleine saßen, weil Martha und Kevin sich lieber mal ausruhen wollten, weil sie ja heute so viel gelaufen waren und überhaupt, es war ja Urlaub, wie sie ja, dachte ich, überhaupt ihr ganzes Leben wie Touristen lebten und in der Welt herum spazierten, aber nicht wollten, dass sie die Welt wirklich etwas anging, weswegen sie auch böse auf Nora waren, weil sie krank war, sterbenskrank und sie damit eigentlich nichts zu tun haben wollten, und so saßen wir alleine bei Guinness und Whiskey und hörten den Musikern zu, der Bodhran, den Gitarren, Flöten und den Liedern, und Kevin und Martha saßen in ihrem Zimmer, desinfizierten es und hatten Blümchensex mit den bunten Kondomen, die sie überall herumliegen ließen.
Nachdem ich wieder den Platz gewechselt hatte, weil ich die alte Frau gegenüber mit meiner Philosophenexistenz, die Herzpralinen auf dem Schoß, erschreckt hatte, erinnerte ich mich, wie ich Nora in Dingle Bay zum Meer hinunter getragen hatte, Martha und Kevin standen oben an der Straße, weil das Meer ein wenig wild war, wir saßen auf den Felsen in der salzigen Gischt, Nora leuchtete, die Knochen ihrer linken Hand zitterten, schön waren alle ihre Glieder, wie überhaupt ihr eigentümlicher Bau immer mehr hervortrat, ihr Vogelherz bebte an meinem, und Kevin rief, dass Martha kalt sei, und wir gingen zurück zu unserer Herberge, vor den Kamin, wo wir ein Sechserzimmer hatten, was Kevin und Martha krank machte, weil sie dann nicht schlafen konnten und sich nicht sicher fühlten, ich hörte, wie sich schlaflos wälzten, als Nora in der Nacht zu mir herunter stieg und mir unter der Decke einen blies, und am Morgen knabberte Martha an ihren kranken Reiswaffeln, weil sie schon Tage nichts anderes aß, wegen ihres Magens, weil sie eigentlich Angst hatte, zu kotzen, weil ihr Innerstes schön drinnen bleiben sollte kaute sie ständig Kaugummi und klebte an Kevin fest, der ständig pissen musste, weil die Faust im Arsch seine Prostata geschädigt hatte, denn Kevin machte morgens als erstes sein Bett, er war ein Mann der Prinzipien, dem schon die Haare ausgingen, der immer zu kurz Gekommene, der sich in Witzeleien flüchtete, weil er eigentlich rein gar nichts zu sagen hatte, der so stolz darauf war, dass er, der Pubertierende, eine Freundin hatte, die schönste Frau der Welt, wie er sagte, dass mir schlecht davon wurde, dass er sie überall vorzeigte, wie sein Abschlusszeugnis der Kieferorthopädie, dem seine Kleider nie passten, die immer abgetragen und unsäglich geschmacklos waren: während Martha immer sorgfältig geschmückt neben ihm ging, wie ein Rind beim Abtrieb, mit unsicherem Gang, der fast einknickte, als wir uns eines Abends verlaufen hatten und durch den finsteren irischen Wald liefen, zurück von Ross Castle, wo die Sonne plötzlich und blutig im See verschwunden war, an unsichtbar murmelnden Bächen vorbei, als Kevin die Witzeleien ausgingen und Noras schönes Schweigen mich erfüllte, wie sie auch auf dem verwitterten Friedhof am Fluss schwieg, inmitten der eingefallenen Türme, der schiefen Grabsteine und lang verlassenen Kapellen, wo Martha sich die Kapuze überzog, weil es nieselte und Kevin zurück zum Auto ging, den Schirm zu holen, den kranken Kleeblattschirm, den sie als Souvenir mit nach Hause nahmen.
Ob auch Nora in ihrem Album klebte, oder hatten sie die Unsägliche ausgespart, dachte ich, denn andauernd hatten Martha und Kevin Photos mit ihrer Digicam gemacht, von jedem einzelnen Stein schossen sie ein Foto, ich aber nahm Worte aus Irland mit: Stein etwa, jetzt erst hatte ich begriffen, was ein Stein eigentlich war, oder Wald, das nahm ich mit, und grün und blau, Wolke und Weite, Bodhran und Seemann, das Karge und das Spröde, Eberesche, Ruine, Sand und Salz und Fisch und Regen und Wind und die Klippen, wo wir lange standen, wo ich Nora hochhob, die leicht war wie eine Feder, damit sie hinab sehen konnte in die Brandung, und wir hätten gleiten wollen, wie die Möwen unten im blauen Wind, über die grünen Hügel hinweg, und Martha saß mit ängstlicher Hand auf Kevins Knie und dem von unten gerichteten Hundeblick da und maulte, und sie demonstrierten mir, dem Philosophen und Nora, der todkranken, ihr Glück und knutschten wie die Fleischhunde, und taten wie die Paare im Fernsehen und den Zeitschriften und waren glücklich und schmierten es sich in die Haare, dabei hielt nicht einmal ein Streit die beiden noch zusammen, deren Beziehung schon immer im Leerlauf war, zwischen Schatz und Liebling lief nichts als Sorge und Erschöpfung, am liebsten wären sie in ihrem Leben nie aus dem Bett gekommen, und vorsichtshalber machten sie mal lieber nix, während Nora und ich den Strand entlang gingen, bis wir im Regen inmitten von Kühen fast im Schlamm versanken, wir hätten auch einfach ins Meer hinab springen können, hinein in dieses wunderbar graue Meer, im Nebel verschwinden, in die Wellen hinaus mit dem Delphin, der in der Bucht sprang, und doch gingen wir zurück an dem rostigen Schiffswrack vorbei, an den bunten Häusern, dem schwanken Hafen in unsere Herberge, vor den Kamin, wo sich Kevin und Martha langweilten, aus Angst, irgendwo anzuecken, etwas falsch zu machen, unordentlich zu sein, redeten sie schlecht von dem, was sie eigentlich wollten, von dem Einfamilienhaus, den Kindern und dem Lehrerin- und Kieferorthopädesein, und schnitten Schablonen in die Sprache, die Schere im Arsch, während Nora, alles verzeihend, in die Flammen sah, in ihr alles verzehrendes Herz, das mir fehlte.
Und ich dachte doch immer daran, mir eine Kugel durchs Hirn zu jagen, morgens in diesen unsäglich leeren Hotelzimmern, fünf Jahre tat ich das schon, und hielt Seminare über Selbstmord und Nihilismus und tat es ohne Herz, schrieb Auslegungen über die Apokalypse und immer wieder Schopenhauer, nur um mir nicht doch diese Kugel ins Hirn jagen zu müssen, weil Nora tot war, weil sie ihr Herz nicht hatte schützen können, das ausgehöhlt worden war von der giftigen Gischt wie die ausgewachsenen Steine an der Küste von Dingle Bay, wo wir saßen und sie ihr bebendes Vogelherz an meines drückte, und Kevin schrie, dass Martha kalt sei, und wir zu unserer Herberge zurück gingen.