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 Elodie smiles for her lover von Anita Siegfried

Die Schwüle wich zögernd einer lauen Nacht. Ich stand am Küchenfenster und rauchte eine Zigarette. Kinder lärmten auf einem Hinterhof. Langsam kroch der Schatten unserer Häuserzeile auf die andere Strassenseite. In der Ferne rauschte die S-15 vorbei. Da bemerkte ich, dass beim Haus Nummer 5 schräg gegenüber jemand sein Gerümpel auf den Gehsteig gestellt hatte.

Ein Dreirad, einige Bananenschachteln mit Büchern und Spielsachen, eine Ständerlampe, zwei Korbsessel dümpelten in einer Pfütze gelben Lichts. An der Hausmauer lehnte ein Schild: GRATIS! ZUM MITNEHMEN!

Ich bin erst vor einigen Monaten hier eingezogen, ins oberste Stockwerk. Von den Bewohnern in Nummer 5 weiss ich so gut wie nichts. Die nächtlich erleuchteten Zimmer geben nicht viel preis. Von meiner Küche aus habe ich Einblick in die vier zuoberst gelegenen Wohnungen, und das auch nur nachts, wenn sie erleuchtet sind.

Überall dieselbe Mittelmässigkeit.

Lampen: 1 Kronleuchter, 2 Japankugeln, 1 Halogenschiene, 1 Lämpchengirlande.

Bilder: 1 Hopper (Night Hawks), 1 Warhol (Campbell’s Tomato Soup). 1 Oelgemälde, das nach Eigenproduktion aussieht, irgend etwas Phallisches. Dort steht auch das einzige Bücherregal, spärlich bestückt. Zimmerpflanzen, die ich nicht benennen kann, das übliche Grünzeug.

Von den Wohnungen im ersten Stock sehe ich nur einen Parkettboden (links) und einen orientalischen Teppich sowie einen Teil eines braunen Ledersofas (rechts).

Hin und wieder eine vorbeihuschende Gestalt. Das Ereignishafte des Alltäglichen, das

sich tausende von Male, um winzige Nuancen verschoben, wiederholt. Eingefrorene Standbilder, lautlos, ohne  Zusammenhang. Sie irrlichtern noch eine Weile auf der Netzhaut, um allmählich zu verglimmen.

Selten bleibt etwas im Gedächtnis haften. Neulich zum Beispiel hat drüben jemand ein Meerschweinchen aus dem Fenster geworfen. Es landete mitten auf der Strasse. Zuckte noch ein paar Mal, ehe es von einem Auto überfahren wurde. Die Überreste, eine blutverschmierte pelzige Masse, wurden innerhalb weniger Tage zu einem dunklen, langezogenen Fleck plattgefahren. Nach einem nächtlichen Platzregen war am anderen Morgen nur noch eine rostfarbene Verfärbung im Asphalt zu sehen, die mit der Zeit verblasste.

An jenem Abend war alles ruhig bis auf zwei Jungs, die sich auf der Kreuzung stritten. Jeans auf Po-Höhe, ein Tritt gegen das Schienbein. Der Gedemütigte rannte über die Strasse, Stinkefinger und Boxhiebe in die Luft. Er kickte gegen eine der Schachteln, bückte sich und schleuderte wahllos ein paar Spielsachen auf die Strasse.

Ich schenkte mir ein Glas Wein ein und öffnete eine Büchse Sardinen. Am Fenster stehend schob ich die Fischchen mit den Fingern in den Mund und hielt dabei die Strasse im Auge.

Bei Anbruch der Dämmerung schlenderte hinüber. Ich legte die verstreuten Plüschtiere und Barbies zu den Spielsachen zurück und durchstöberte die Bücher. Frauenromane. Thrillers und Reiseberichte auf Englisch. Fotobände, das meiste Architektur. Kunstbücher. Biographien. Mädchenbücher mit hässlichen Covers.

Da fiel mir eine Schuhschachtel ins Auge. Ich kramte sie hervor, schüttelte sie. Ein Scheppern. Es hörte sich verheissungsvoll an.

Die Schachtel war mit einer frischen Schnur umwickelt. Ein sauberer Knoten, sorgfältig abgeschnittene Enden.

Auf einer Etikette an der Seite stand: Mocassins Weston 180. Pointure 42. Kein Preiskleber.

Weston Mocassins? Das waren doch die sündhaft teuren Lederschuhe, die unter dem Namen Le Janson eine gewisse Berühmtheit erlangt hatten. Die Absolventen der gleichnamigen Eliteschule, kleine Möchtegern-Revolutionäre, hatten während der 68er Unruhen beim Errichten der Barrikaden in den Strassen von Paris ebendieses Modell getragen. So war es zumindest unter den Genossen herumerzählt worden.
Wie das, ein Snob in unserer Vorstadt-Strasse? In der Küche schnitt ich die Schnur auf und hob den Deckel. Es waren vier Schuber mit Diapositiven. Je ein Aufkleber mit einer Jahreszahl. Frühe Siebzigerjahre. Eine fiebrige Neugier überkam mich. Wahllos zupfte ich ein paar Bilder aus dem Kästchen „1971.2“ und hielt sie vor die Spotlampe. Die Fassade einer romanischen Kirche. Ein Café, Brasserie Chez Lucien. Ein Mädchen mit einem Springseil vor einer Bäckerei. Mehr Architektur, das Detail eines Reliefs. Ein Haus, weiss getüncht, inmitten Zypressen, Ginsterbüschen und Olivenbäumen. Vor dem Eingang eine Frau mit dunklem, kurz geschnittenem Haar, die Arme verschränkt. Etwas irritierte mich. Eine seltsame Unruhe überkam mich. Ich holte den Diaprojektor, ein älteres Leica-Modell mit einer wackligen Automatik, installierte ihn auf dem Küchentisch und schob den Schuber in das Laufwerk. Das Bild auf der Wand war nicht viel grösser als ein Taschentuch.

Die Kirche. Chez Lucien. Vor dem Eingang ein Citroën mit französischen Autokennzeichen. Mehr Fotos von historischen Gebäuden, alle offenbar in der gleichen Gegend aufgenommen. Menschen waren, abgesehen von zufällig im Bild stehenden Passanten, keine zu sehen. Die gleissende Helle schläfriger Mittagshitze. Ein Mann in Schlaghosen, die Ohren vom halblangen Haar verdeckt. Stämmige Hausfrauen in geblümten Baumwollschürzen und offenen Schuhen. Einmal ein junges Mädchen in einem rosa Jäckchen, das sich mürrisch nach der Kamera umschaute. Dann ein unvermittelter Szenenwechsel.
Das Haus, jetzt in einiger Entfernung. Tiefblaue Schatten glitten den Hang hinab. Vor dem Haus eine Frau. Mit der rechten Hand deutete sie ein Winken an. Dann das herangezoomte Bild der Frau mit verschränkten Armen.

Eine Terrasse mit einem Tisch, zwei frische Gedecke, eine Früchteschale, die Frau von hinten. Dieselbe Frau im Liegestuhl auf einer Veranda, eine Hand schirmend über der Stirn, im Hintergrund Zypressen, ein türkisfarbener Strich. Das Meer. Es gab keinen Zweifel.
Elodie.

Sie neigte sich nach vorn und lächelte von unten in die Kamera, wem galt das Lächeln, das nächste Dia bestätigte meine plötzliche Ahnung. Elodie im Gegenlicht nackt auf einer Fensterbrüstung, die Arme um die Knie geschlungen. Hinter ihr ein Oleanderbusch mit rosa Blüten. Auf der rechten Seite blähte sich ein heller Vorhang ins Bild hinein. Sie hatte das Gesicht dem Fotografen zugewandt, den Mund halb geöffnet, als lauschte sie einer Musik. Oder dem Zirpen der Zikaden? Seinen Liebesschwüren? Wer war er?
Die folgende Bildsequenz blitzte rasend schnell vorbei, der Schuber schob sich ratternd noch vorn, ein Dia nach dem anderen flog über die Wand, Elodie am Strand sitzend, Elodie mit untergeschlagenen Beinen beim Lesen.

Elodie, immer nur Elodie. Dann war der Spuk zu Ende.
Die übrigen Bilder brachten nichts Erhellendes. Architektur in Südfrankreich bis zum Überdruss. Eine Stadt in den USA, Boston vielleicht. Skiferien, ein junger Mann am Skilift. Ich zog den letzten Schuber heraus und schaltete den Apparat ab. Das Surren des Ventilators verstummte.
Meine Hände zitterten, als ich mir eine Zigarette anzündete. Plötzlich war alles wieder da. Elodie, Studentin der Anglistik im vierten Semester, eben zurück von einem London-Aufenthalt, war im Herbst 1970 in unsere Wohngemeinschaft eingezogen, hi, my name is Elodie, die Silben hingen schwebend wie Wölkchen im rauchgeschwängerten Flur. Schon nach drei Tagen hatte sie ihren festen Platz am Küchentisch, unter dem Regal mit den verklebten Gewürzdosen. Dort sass sie, zerbröselte Tabak, fuhr behende mit der Zunge über die Kante des Papierchens. Senkte die Spitze der Zigarette bedächtig in die Flamme der Kerze und blies den Rauch aus einem Mundwinkel schräg nach oben. Trank vom Rioja, dreineunzig die Flasche, den Ellbogen auf den Tisch gestützt.

Mit Elodies Gegenwart wich die zelebrierte Lässigkeit unter uns vier Bewohnern  einer lauernden Unruhe.

Ich merkte lange nicht, dass sie ein Auge auf mich geworfen hatte. Ausgerechnet auf mich, den Schüchternen.

Der Anfang unserer Liebe hatte ein Datum, der 12. Februar 1971. Es war nach einer Vietnam-Kundgebung, die mit der Vorführung des Dokumentarfilms Nur leichte Kämpfe im Raum Da Nang über die Helgoland im Volkshaus endete. Das deutsche Lazarettschiff lag vor der zentralvietnamesischen Stadt und nahm Verwundete aus der Zivilbevölkerung auf, Kinder, Frauen, Männer, junge, alte. Niemand war vorbereitet auf das, was wir zu sehen bekamen. Die Zuschauer verliessen scharenweise den Saal vor dem Ende des Films. Neben mir kotzte ein Mädchen in ihr Palästinensertuch.
Schweigend machten wir uns auf den Nachhauseweg. Ein filzig grauer Mond hing zwischen den Häuserzeilen. Wir standen beide unter Schock. In einer Nebenstrasse hakte Elodie sich unvermittelt bei mir unter. Später kam sie in mein Zimmer und schloss leise die Tür. Die Nacht verbrachten wir neben dem auskühlenden Kanonenöfchen und versuchten, die Bilder der Kinder mit den weggeschmolzenen Gesichtern in unseren Köpfen auszulöschen.

Es war, sagte sie später einmal, einfach der richtige Augenblick gewesen. Meine verschlossene Art schien ihr nichts auszumachen. Wir waren glücklich, daran glaubte ich. Federleichte, blassblaue Tage am See, der Alltag schwebend mit zerfliessenden Rändern, ein kleiner täglicher Rausch. Manchmal roch sie nach Drucker-Alkohol, ihre Finger waren blau verfärbt von den Matritzen für die Pamphlete, die ihre Frauengruppe verteilte.
Die Zeit beschleunigte sich in atemberaubendem Tempo, und wir mittendrin in dem Strudel, zwei sich drehende Rädchen im Getriebe der Geschichte. Die Klammer, die alles zusammenhielt, war die Abscheu gegen diesen Krieg am anderen Ende der Welt, den wir nur aus Fotos und Presseberichten kannten, und der Glaube an eine bessere Zukunft.
Honey. My Sweetheart. Sieben Monate lang. Sie war meine erste und einzige Liebe. Ich war süchtig nach ihr.

Irgendwann liess sie beiläufig verlauten, sie werde im August für eine Woche in die Provence fahren, ein paar Frauen hätten dort ein Haus gemietet. Sie kam zurück, sonnenverbrannt und abgehoben heiter. Bald darauf zog sie aus unserer Wohngemeinschaft aus, ohne Angabe von Gründen. Wir trafen uns noch einige Male auf Veranstaltungen, wechselten ein paar unverbindliche Worte, sie wich mir aus. Ihr Platz am Tisch blieb lange leer, eine quälende Lücke, die niemand zu füllen wagte.
Die Provence. Neunzehn Mal Elodie und keine andere Frau weit und breit. Ich löschte das Licht und trat ans Küchenfenster. Die beiden Korbsessel waren weg. Blau zuckende Lichtkaskaden in einem Wohnzimmer. Hinter welchem Fenster verbarg er sich, der Mistkerl? Vielleicht schaute er hämisch herüber. Hatte mich schon lange im Visier, kannte meine Gewohnheiten, weidete sich an meiner Kränkung. Die Diapositive waren wohl für mich bestimmt gewesen, die ganze Ansammlung dort unten nur eine jämmerliche Inszenierung, in deren Zentrum diese Schachtel stand. Wer war er? Der Glatzkopf, der jeden Morgen um halb sieben joggen ging? Zu jung. Das Ehepaar in meinem Alter? Mit Enkelkind, dem Dreirad und der Barbiepuppe entwachsen? Eine Tochter, die sich endlich der Relikte ihrer Kindheit und der muffigen, peinlichen Familienchronik entledigt hatte? Ich stocherte fieberhaft in meinen Erinnerungen, aber ich konnte kein Gesicht festmachen, keine Stimme, kein Ereignis, das sich in den Vordergrund drängte. Hatte es einen gegeben, damals, der Le Janson trug und ein bisschen Revolution spielte? Einen Namen? Getrieben von einer nagenden und sich zusehends steigernden Empörung kramte ich in der Tischschublade nach einer Taschenlampe, ging hinunter und überquerte die Strasse. Vor dem Hauseingang schaute ich mich um. Dann richtete ich den Lichtkegel auf die Namensschildchen. Pfister. Gonzalez-de Santos. Kurt und Alice Redlich. Balaid. Bolliger. Dr. Pirmin Hug. Stojcic. Harder-Merklin. Pirmin Hug. Erster Stock links. Kunsthistoriker womöglich, mit einer Vorliebe für luxuriöses Schuhwerk? Das passte. Die Kunstbücher. Die Fotobände. Was für ein lächerlicher Name! Pirmin, Pirmin, ich schämte mich für den Menschen, der so hiess, noch mit einem Doktortitel davor! Was für erbärmliche Eltern, die ihren Sohn Pirmin tauften! Hinter der Tür waren Schritte zu hören. Ich rannte über die Strasse und die Treppe hinauf, sagte den Namen vor mich her, Pirmin, Pirmin, mit jeder Stufe steigerte sich der Grad seiner Lächerlichkeit. Ich könnte bei ihm läuten. Guten Abend Herr Doktor Hug, erinnern Sie sich vielleicht an Elodie, Studentin der Anglistik, Sommer 1971, wie haben Sie es ihr gemacht? Mochte sie es mit Ihnen auch französisch? Ich führte Selbstgespräche, auch das noch, wie abartig. Wütend knallte ich die Tür hinter mir zu.

In meiner Erregung ging ich in die Küche und zerrte das Kabel des Diaprojektors aus dem Stecker. Es peitschte über die Fliesen, riss eine leere Weinflasche um.
Im Schlafzimmer stellte ich den Apparat auf einen Stapel Bücher. Auf dem Bett liegend betrachtete ich die Bilder abermals, verlor mich lustvoll in ihrer verstörenden Melancholie. Elodie riesig, beinahe wandfüllend jetzt. Der Tisch, die zwei Gedecke, halbvolle Weingläser, die Relikte eines Gelages. Ein voller Aschenbecher. Auf einigen Zigarettenstummeln waren deutliche Spuren von Lippenstift. Der Argwohn schärfte schlagartig meinen Blick. Elodie im Liegestuhl, Shorts, ihre langen Beine, die Stirn von einer Hand verschattet. Über der Armlehne hing ein Bikinioberteil, lila und dunkelblau gestreift. Elodie hatte nie ein Bikini  getragen. Schminken war spiessig und für sie ausser Frage gestanden. Die Erkenntnis traf mich jäh. So war das also gemeint, damals. Grenzen ausloten. Die Fesseln der bürgerlichen Moral sprengen. Neues ausprobieren. Wie konnte ich nur so von Blindheit geschlagen sein.

Elodies schönes Lachen, die Augen von einem blassen Grün, ich bekam nicht genug davon, Elodie smiles for her lover, die späte Krönung meiner Schmach. Glasklar und schmerzhaft fügte sich jetzt in der Erinnerung eins zum anderen. Elodie lächelte auch noch, als sich unter ihrer linken Schulter eine schwarzgeränderte Wolke ins Bild frass, auf die Landschaft übergriff, die Zypressen begannen zu lodern, Muren von Lava glitten Richtung Meer, Elodies Gesicht blasig geschmolzen und der Geruch nach verbranntem Zelluloid.