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 Wie der liebe Herrgott uns einmal vom Sofa auf die Straße lockte von R. Schleheck

Als Oma Pachulkes Kekse auf dem Charlottenburger Weihnachtsmarkt im Winter 2009 Furore machten, war das eigentlich nur ein kleiner Nachgeschmack eines viel größeren Furors, eines Volkszorns nämlich, der Jahre davor bereits zum Ausbruch gekommen war. Auslöser waren ebenfalls Oma Pachulkes Kekse, auch wenn der ursächliche Zusammenhang zwischen Keksen und Krawallen bis zu jenem Zwischenfall im Dezember 2009 keinem bewusst war. Auch danach erfuhren die wenigsten davon. Genau genommen nur wir drei: ihr Neffe, der Penner Paul und meine Wenigkeit, Kommissar Kachelmann. Und das ist auch gut so. Die Menschen würden sich nur unnötig aufregen. Solche Kekse wie Oma Pachulkes wird ohnehin kein Sterblicher mehr gebacken kriegen. Dazu war nämlich ein noch viel größerer Furor nötig, bei dem ich besser gleich diese Geschichte beginnen lassen sollte. Als Ermittler zäumt, man das Pferd ja in der Regel von hinten auf: Das Kind liegt im Brunnen, und wir fragen uns, wie es von dem Kinderwagen im Supermarkt in Pusemuckel vor vielen Jahren dort hin gekommen ist. Ein äußerst mühsames und aufwändiges Vorgehen im Rückwärtsgang. Da zu der furiosen Wirkung von Omas Pachulkes Keksen ohnehin niemals ein amtliches Feststellungsverfahren durchgeführt wurde und - Gott sei dank - niemals stattfinden wird, werde ich diesmal dem geneigten Leser zuliebe in die Rolle des ordentlichen Chronisten schlüpfen.

Der liebe Herrgott war es nämlich, der im Herbst 1982 ganz schön stinkig war, was seine Schöpfung anging. Das erste deutsche Retortenbaby war gerade zur Welt gekommen, aber obwohl die Menschen ihm damit das letzte Alleinstellungsmerkmal seiner Allmacht aus den Händen zu nehmen trachteten, produzierten sie doch ansonsten immer noch den gleichen Mist wie Anno Adamin, als er sie mit Fug und Recht des Paradieses verwiesen hatte. Im Westen tobte der Falklandkrieg; im Osten massakrierten libanesische Milizen Palästinenserfamilien in den Flüchtlingslagern Sabra und Schatila. Der Ost-West-Konflikt schien zwar entschärft, aber die Deutschen rechts und links der Demarkationslinie hatten es sich auf dem Sofa bequem gemacht. Statt endlich auf Gottes Werben um Frieden und Freiheit auf der ganzen Welt zu hören, wurden sie Thomas Gottschalks Werbung für Gummibärchen und Fernsehwetten hörig.

Gott grollte und sann über etwas nach, was er sich lange verkniffen hatte: Sich einzumischen, um die Menschen aufzumischen. Während er noch darüber nachdachte, ob er sich lieber in Form eines Wunders, einer großen Flutwelle oder einer neuen Kreatur manifestieren sollte, fiel sein Blick auf Oma Pachulke, und sein Zorn erhielt einen Dämpfer. Oma Pachulke stand nämlich in ihrer kleinen Wohnküche in der Zillestraße und backte Plätzchen für ihren Führer. Sie knetete den Teig und sang dazu aus vollem Halse einen Schlager der Zwanziger: „Amalie geht mit ’nem Gummikavalier ins Bad!“ Wo sie nicht mehr ganz textstark war, summte oder pfiff sie vor sich hin. Ihr ganzes Erscheinungsbild war so rund und rosig und appetitlich, dass Gott sich dachte: Wer von dem Backwerk dieser Frau isst, der soll meine Offenbarung empfangen. Und er flüsterte Oma Pachulke etwas ins Ohr, so dass sie ganz beflügelt weiter knetete und mischte und buk. Als sie aber am Ende das Blech aus dem Ofen zog, wies das Ergebnis mit den Pachulkeschen Zimtsternen nur noch eine entfernte Ähnlichkeit auf, denn in Wirklichkeit handelte es sich um göttliches Manna.

Oma Pachulkes gute Laune war hin. Ihr Zug fuhr am nächsten Tag in aller Herrgottsfrühe los, und sie würde es nie und nimmer schaffen vor Ladenschluss die Zutaten für einen neuen Teig zusammen zu kriegen. Also verstaute sie die missratenen Plätzchen, nachdem diese und ihr Ärger einigermaßen abgekühlt waren, in drei Keksdosen: eine kleine für sich selbst, damit sie nach ihrer Rückkehr auch noch etwas zu schnabulieren hätte, eine für Ilse und eine für ihren Führer, mit dem sie auf dem Leipziger Bahnhof ein Stelldichein vereinbart hatte. Anderntags machte sie sich mit Sack und Pack und einem Taxi auf den Weg zum Bahnhof Friedrichstraße, von wo aus sie zu der ersten Auslandsreise ihres Lebens aufbrach: Sie wollte in Prag ihre Busenfreundin aus Volksschultagen, Ilse Bendix, treffen. Ilse, deren Eltern in den dreißiger Jahren mangels lückenloser Arierahnen Böses ahnend nach Amerika ausgewandert waren, war nach einem halben Jahrhundert endlich auf einen Europa-Trip zurückgekommen, der sie allerdings in einem großen Bogen um Deutschland herum von Prag über Pisa nach Portugal führte. Da Oma Pachulke eine äußerst patente Frau war, wollte sie das Schöne gleich mit dem Nützlichen verbinden. Warum sollten Plätzchen nur zum Advent schmecken?, fragte sie sich, das Porto für das Weihnachtspäckchen kann ich mir sparen!  Die meiste Zeit hatte sie ohnehin nur für die Stasi gebacken und Christian hatte in die Röhre geguckt. Diesmal würde sie ihrem geliebten Neffen, den sie zärtlich „meinen Führer“ zu nennen pflegte, die Kekse höchstpersönlich und schon am 19. September aushändigen.

Was Oma Pachulke nicht bedacht hatte: Der Personenverkehr nach Prag  war eine  Transitstrecke. Die Mitnahme von Waren war ihr durchaus gestattet, aber deren Einfuhr während der Durchfuhr sorgte für einigen Aufruhr im Getriebe des Arbeiter- und Bauernstaats. Christian Führer konnte seine Tante zwar völlig unbehelligt herzen und küssen und zu ihrem Anschlusszug nach Prag geleiten. Doch als er von der schusseligen Alten die für ihn bestimmte Keksdose im letzten Moment aus dem Fenster des anfahrenden Zuges heraus überreicht bekam, gelang es ihm nur dank des  recht- und ordnungswidrigen Bahnhofsgetümmels mit seinem vorzeitigen Weihnachtsgruß unerkannt abzutauchen. Oma Pachulke jedoch wurde im Zug unverzüglich vom Sicherheitspersonal der Deutschen Reichsbahn gestellt und aufs Übelste bedroht. Sie konnte sich weiterer Verfolgung nur entziehen, indem sie die für Ilse bestimmte Keksdose zu Untersuchungszwecken preisgab.

An dieser Stelle geben wir nun auch Oma Pachulke - wenn auch mit einem gewissen Bedauern - preis und richten unsere geteilte Aufmerksamkeit auf das Zimtstern-Manna in Dosen. Der Schaffner, der sich, kaum dass er im Zugbegleiter-Abteil angekommen war, an der für Ilse Bendix bestimmten Keksdose vergreifen wollte, kriegte Gottes Botschaft zur Strafe in den falschen Hals. Er lief rot und blau an und gab den Löffel ab, ehe ein Notarzt zu Hilfe eilen konnte. Seiner Kollegin hatte es den Appetit verschlagen. Sie händigte die beschlagnahmte Dose samt Rapport über den Unglücksfall brav ihrem zuständigen Kader aus. Der schickte das Corpus Delicti ins Labor, wo die sozialistisch-lebensmittelchemiewissenschaftliche Elite der Arbeiterpartei ihren Forschungstrieb an Ilses Keksen auslebte, ohne auch nur die mindesten landesverräterischen Spurenelemente sichern zu können. Die Restkekse verschwanden schließlich samt Kiste in den Untiefen der Stasi-Magazine. Bekanntermaßen stand der Stasi zuletzt das Wasser bis zum Hals, weshalb ihren Mitgliedern schließlich nur die Wahl zwischen Abtauchen oder Kopf aufrecht Halten blieb. Was sie nicht rechtzeitig vernichteten, landete nach der Wende in den Klauen der Ramscher und Schrottverwerter. Aufgrund der feuchten Lagerung war Oma Pachulkes Dose mittlerweile von einem braunen Rostfilm überzogen, so dass sie keine Interessenten fand, die sie oder ihren Inhalt einer genaueren Prüfung unterzogen hätten. Letzterer war aufgrund der göttlichen Ein- und Backmischung vom Zahn der Zeit aber wunderbarerweise unangeknabbert geblieben. Ein Händler, der jedes Wochenende an der Straße des 17. Juni seine Waren feilbot, entsorgte den lästigen Ladenhüter schließlich ins Dickicht des Tiergartens. Da nun kam Paulchen ins Spiel, der als Angehöriger des Prenzlauer Prekariats im Gegensatz zu den Heerscharen von Berliner Business Peoplen, die den Tiergarten täglich durchjoggten,  über die nötige Freizeit verfügte, die Berliner Flora gründlicher zu inspizieren. Wenngleich Paulchens Keksdosenverwertungspläne aufgrund seines vormittäglichen Katers noch nicht sonderlich klar konturiert waren, so ließ er die Dose doch unbesehen in einen mitgeführten Müllsack gleiten, in dem sich bereits viele, viele Wasser- und Bierflaschen befanden, für deren Leerung, nicht aber Entsorgung andere Mitmenschen bereits Sorge getragen hatten. Mit einem prall gefüllten Müllsack begab sich Paul schließlich zufrieden zur S-Bahn-Haltestelle Tiergarten. Für uns höchste Eisenbahn, dass wir unseren Fokus in einen großen Zeitsprung wieder zurück auf das Leipziger Bahnhofsgetümmel am 19. September 1982 richten, um die Spur von Oma Pachulkes Lieblingsneffen und der Zündkraft der in seinem Besitz verbliebenen Zimtsterne wieder aufzugreifen. Am darauf folgenden Montag, dem 20. September 1982, hielt Pfarrer Christian Führer nämlich in der Nikolaikirche zu Leipzig eine Messe, die er mit dem berühmten Friedensgebet schloss. Wir können nicht ausschließen, dass er zu dem Zeitpunkt bereits von den Zimtsternen seiner Tante gekostet hatte und daher möglicherweise so mitreißende Worte fand. Gesichert ist, dass er im Anschluss an seinen Gottesdienst mit der Keksdose durch die Reihen der versammelten Gläubigen schritt. Alle, die davon kosteten, standen auf wie ein Mann und verließen das Gotteshaus, beseelt von dem Wunsch nach Frieden, Freiheit und fremdländischen Früchten. Montag für Montag  fanden die Kekskonsumenten sich nun zusammen, wurden mehr und mehr, bis die Kirchenbänke nicht mehr ausreichten, die Menschen auf die Straße quollen und die Massen sich schließlich zu immer größeren Demonstrationszügen formierten. Der göttliche Funke sprang auf andere Städte über, die Montagsdemonstrationen gerieten zur Volksbewegung, die schließlich alle Dämme niederriss, so dass seit Jahrzehnten verfeindete Brüder endlich wieder zueinander fanden und freie Wahlen ausriefen, in denen sich jeder Bundesbürger heute entscheiden kann, ob er eins der  drei öffentlich-rechtlichen Programme oder einen der gebührenfreien 87 Privat- oder Lokalsender genießen will.

 Um die Geduld des geneigten Lesers nicht über die Gebühr zu strapazieren, werde ich nun endlich den Bogen zum Charlottenburger Weihnachtsmarkt schlagen. Ich hatte im Dezember 2009 den Job des Charlottenburger Adventsmarktansprechpartners übernommen, einen Dienst, um den mich viele Kollegen insgeheim beneideten, wähnten sie mich doch jeden Abend an Glühweinständen herumlungernd, um schickerten Touristinnen Geleitschutz ins Hotel anzubieten. In Wirklichkeit war dies einer der stressigsten Jobs meiner dreißigjährigen Kriminalerlaufbahn. Die osteuropäischen minderjährigen Geldbeutel-Beutejäger waren mir an Zahl und Sprintschnelligkeit einfach Kilometer voraus. Ich schob also schon reichlich Frust, als ich am zweiten Advent der für die Schlossanlagen zuständigen Kuratorin der Stiftung Preußische Schlösser und Gärten Berlin-Brandenburg in die Arme lief, die mich ganz offensichtlich händeringend gesucht hatte. Ein Einbruch im Mausoleum! Ich müsse sofort mitkommen! Gerade eben habe sie den Frevel erst festgestellt, habe gar nicht erst bei der Polizei angerufen, die ja doch Stunden brauchen und aufgrund des Weihnachtsmarktes sowieso keinen Parkplatz finden würde, sondern sie habe sofort an mich gedacht, wo sie mich doch neulich so bewundert habe, als sie mich hinter diesen rumänischen Kindern her rennen gesehen habe, Kommissar Kachelmann, der sei doch noch ein richtiger Mann, habe sie gedacht, sie habe ja schon seit ihrer Jugend immer gerne diese James-Bond-Filme gesehen und ... Ehe sie mir weitere Details aus ihrem Privatleben offenbaren konnte, hatten wir den Tatort erreicht und ich konnte sie zum Zwecke der Spurensicherung auf sicheren Abstand beordern. Tatsächlich hatte jemand das schwere Metalltor geknackt – mit einem primitiven Brecheisen, wie es aussah. Luises Sarkophag war unversehrt. Überhaupt sah nichts danach aus, als habe der Eindringling irgendetwas entwendet oder beschädigt. Allerdings hatte er etwas hinterlassen: eine leere Lambrusco-Flasche und einige Kekskrümel. Ich begutachtete sie genauer und stellte fest, dass es sich um Überreste von misslungen Zimtsternen älteren Datums handeln musste. Steinhart. Zu Ermittlungszwecken ließ ich mir einen der Krümel auf der Zunge zergehen. Augenblicklich durchfuhr mich der Strahl der Erkenntnis und alles war sonnenklar: Paulchen! Der Penner Paul musste in der vergangenen Nacht hier Obdach gesucht haben! Na warte, dem würde ich die Leviten lesen! Die Kuratorin stellte ich ruhig, indem ich ihr versicherte, ich sei dem Täter bereits auf der Spur, dann flitzte ich los in Richtung Weihnachtsmarkt. Ihre bewundernden Blicke in meinem Rücken beflügelten meine Schritte.

Paulchen stand mit einer Keksdose in der Hand am Kinderkarussell und verhandelte gerade mit einem älteren Herrn, mit dem sich der Kreis an dieser Stelle endlich schließen soll. Auch wenn es nur ein kleiner Krümel Manna war, dessen ich teilhaftig geworden war, war mir sofort klar, was hier gebacken war: Der von göttlicher Erkenntnis durchleuchtete Paul hatte die Kindlein an Gottes Wort teilhaben lassen wollen. Hier sei die Antwort auf Pisa, hatte er gelallt, wer von diesen Keksen koste, habe sein Studienplätzchen bereits sicher. Während die Eltern unverzüglich ihre Kinder in Sicherheit brachten, hatte der ältere Herr sich genähert, den Paul und ich augenblicklich als Christian Führer identfizierten. Er war eben aus dem Seniorenheim der Caritas am Klausenerplatz gekommen, wo er die letzten Habseligkeiten seiner jüngst verstorbenen Tante in Empfang genommen hatte: eine alte Dose, in der sich eine Fahrkarte der Reichsbahn nach Prag und zurück und ein steinharter Zimtstern gefunden habe, genau die gleiche Sorte, die die gute Oma Pachulke ihm vor siebzehn Jahren mitgebracht hatte auf dieser Reise nach Prag.

Was wir mit den letzten Keksen gemacht haben? - Wir haben sie an die Fische im Schlosspark verfüttert. Ist der Fisch nicht das Symbol des Herrn, sein besseres Ebenbild? Paulchen hat mit der Kuratorin einen Deal geschlossen: Er darf im Mausoleum nächtigen und hält tagsüber Predigten im Park. Ich mache jetzt die Wettervorhersage. Ein angenehmer Job. Sollen andere doch die Welt retten!