Mein Kamel geht durch ein Nadelöhr von Irene Wondratsch
Ich auf einer Bahnstation mitten in der Wüste. Allein. Gleißendes Licht auf den Schienen, die aus dem Nichts auftauchen und schnurgerade in den Horizont münden. Der Wind hat den Sand sanft gewellt, zu Dünen angehäuft. Ein Meer aus Sand, gelb, golden, braun.
Ich nehme in dem roten Lederfauteuil mit dem Chromgestänge Platz – der einzigen Sitzgelegenheit auf dem Perron. Die Zeit verrinnt. Zug wird keiner kommen. Eine Karawane wird vorbei ziehen. Kamele sind hoch. Jemand muss mir die Räuber-leiter machen. Ali Baba. Ein Kavalier an der Spitze seiner 40 Räuber auf Kamelen.
Hoffentlich denkt er an unsere Verabredung an dieser Bahnstation, deren Name auf dem Schild langsam, aber sicher verbleicht. Ata Organa.
Ach Vater. Wie lange schon bist du im Nirwana. Der Mutter nachgefolgt. Und ich verwaist auf dieser Bahnstation. Weiß nicht, wie ich hierher gekommen. Ein bloßer Einfall, ein Traum oder gar ein Zauber? Ich saß doch gerade noch in der Wanne unter dem Wasserfall, der aus dem Rohr stürzte. Du, Simon, bist ins Badezimmer gekommen und hast mich gerügt: Die Ordnung durcheinander gebracht oder so. Hab’s nicht verstanden, das Wasser rauschte so stark. Sah nur Wortkaskaden aus deinem Mund sprudeln, auf den Bodenfliesen aufklatschen. Ein Fluch muss mich in der Wanne getroffen haben. Verflucht. In die Wüste geschickt.
Na warte! Wenn Ali kommt und mich auf mein Kamel hievt, lasse ich mich sanft durch die Wüste schaukeln, an seinen Rücken geschmiegt. Derweilen kannst du deine Badewanne schrubben, dort wo ich dir einen Rand als Souvenir hinterlassen habe. Du hast dich selbst an den Rand gedrängt.
Vor mir die weite Wüste, grenzenlos. 40 Männer, die mir alle das Herz rauben wollen. Aber ich schenke es Ali Baba, du Ordnungshüter, tschüss mit ü! Die Brösel auf dem Küchenboden von heute morgen werden die Brosamen sein, mit denen ich dich abspeise.
In meinem roten Lederfauteuil sitzend werfe ich einen langen Schatten auf den Bahnsteig. Die Dunkelheit kommt rasch, der Mond nimmt Farbe an, eine scharfe Sichel über Ata Organa. Schon heult ein Kojote. Ein lang gezogener Klagelaut:
Omm urück, omm urück! Na gut, ich komm ja schon. Ich weiß, du hast es nicht so gemeint. Aber ein bisschen lass ich dich noch dunsten in deiner Reihenhausküche.
Kein Zug wird kommen. Ich habe meinen Koffer gegen ein Kamel eingetauscht. Ich sehe dem Beduinen mit dem Trolley nach, der über die Dünen holpert.
Keine Räuberleiter in Sicht um auf das Kamel zu steigen. Reisende ohne Begleiter sucht Leiter, die sie aus brenzliger Lage befreit. Nur ein Kojote bettet seine Schnauze in meinen Schoß. Und bewacht mich. Kojoten sind Wächter. In Santa Fe kann man sie aus Holz geschnitzt in Kunstläden erwerben. Und sie links und rechts der Haus-einfahrt zur Hazienda aufstellen. Wenn ich einmal reich bin, schenke ich sie Simon für den Vorgarten seines Reihenhauses in Vösendorf. Falls ich je zu ihm zurückkehre.
Mein Kamel wälzt sich wie ein toll gewordener Hund im Sand. Die Flöhe! Als es sich wieder erhebt, sieht es aus wie ein paniertes Schnitzel. Ich lache. Beleidigt blickt es mich an. Zieht einen Schmollmund, kehrt mir sein Hinterteil zu, aus dem es etwas fallen lässt und stiebt davon.
Aus dem Kameldung kann man die Zukunft lesen. Gebannt starre ich in die Fladen. Ich sehe mich mit einer Karawane mit bellenden Hunden ziehen durch endlose Wüsten mit Durststrecken, meine Hoffnung nur noch von einer Fata Morgana genährt, bis sie im Sand zerrinnt, wo schon der Skorpion mit aufgestelltem Stachel lauert. Aber auch Oasen sehe ich mit Palmenhainen, Palma Real, mit reifen Datteln gefüllte Körbe, arabische Gärten mit plätschernden Brunnen, rote Läufer, die mich zu maurischen Palästen oder luftigen weißen Zelten führen, wo mir samthäutige, schlanke, hoch gewachsenen Nubier Malventee und Granatäpfel anbieten, Koseworte ins Ohr flüstern und damit meine Glut entfachen und mich mit ihren orientalischen Liebeskünsten betören. Höre Simon rufen, dass der Kaffee kalt wird, worauf ich mit einem fliegenden Teppich in seiner Küche lande und ihm empfehle noch eine Prise Kardamom in den Mocca zu tun. Während ich noch an dem Mocca nippe, höre ich schon den Staubsauger, mit dem Simon meinem gelandeten Teppich zu Leibe rückt. Nein, ich bleibe in Ata Organa.
die Nacht verbringe ich in meinem roten Lederfauteuil auf der Bahnstation von Ata Organa.
Ali Baba und die 40 Räuber nesteln an einer großen alten, ornamental verzierten Truhe . An der schmiedeeisernen Vorrichtung baumelt ein Schloss, das sie nicht öffnen können.
Was mag wohl in der Truhe sein? Aber das bin ja ich! Schweißgebadet liege ich in der dunklen Truhe und trommle gegen den Deckel: „Ich will da raus! Helft mir, ihr Räuber, ich will euer Schatz sein. Ich zeig euch, wie man ins Internet kommt, das Hacken wird euch einen Riesenspaß machen.“
Ali Baba legt sein Ohr auf den Truhendeckel, er hat mich gehört.
„Pst, pst“, sagt er, „gleich!“ und lässt sich eine Säge bringen.
Ich denke an den Trick mit der Jungfrau und dass er ihn vermutlich nicht beherrscht.
„Vorsicht!“, schreie ich, „passen Sie auf!“
Als ich wieder zu mir komme, liege ich einbandagiert im Spital. Eine Nubierin in Schwesterntracht bringt mir Malventee. In der Besuchszeit betreten die Räuber mein Krankenzimmer, sie sind zerknirscht, besonders Ali Baba. Er überreicht mir einen Lotusblumenstrauß, ich bin gerührt.
„Tut mir leid“, sagt er verschämt, „ ich weiß nicht, wie das passieren konnte, in Werkerziehung hatte ich immer einen Einser und meine Laubsägearbeiten wurden sehr gelobt.“
„Kann passieren“, sage ich, „Hauptsache, Sie haben mich da rausgeholt. Übrigens: War noch was in der Truhe?“
Er schüttelt den Kopf. „Nur ein paar Holzwürmer.“
Sonnenstrahlen bereiten meinem Traum ein Ende. Ich erhebe mich aus meinem Fauteuil und dehne und strecke mich.
Ich will Ali Baba einen Brief schreiben. Im Büro des Fahrdienstleiters finde ich vergilbtes Papier und einen Bleistiftstummel.
„Ich erwarte dich und gebe dir hiermit einen zweckdienlichen Hinweis, wo ich anzutreffen bin: Bahnstation Ata Organa. Das muss unmittelbar in der Nähe deines Hauptquartiers sein. Wie ich hierher gekommen bin? Mein Lebensabschnittspartner hat mich in die Wüste geschickt. Das tut er manchmal, wenn die Patschen nicht nach Norden zeigen. Offensichtlich haben meine Hausschuhe eine südöstliche Richtung eingeschlagen, sonst wäre ich nicht hier. Wundere dich nicht, wenn ich dich im Bade-mantel empfange, aber ich saß eben noch in der Wanne, bevor Verwünschungen über mich hereinbrachen. Bitte bring Kleider mit. Eine Galabea oder von mir aus auch Pumphosen. Blau steht mir gut oder auch ein kräftiges Rot. Klare, starke Farben, ich bin ein Sommertyp. Und etwas zum Essen bitte, allmählich werde ich hungrig. Vielleicht habt ihr noch etwas vom Couscous übrig, tu es in eine Tupperware. Wenn du ein, zwei Flaschen Palmwein aufstellen könntest, wäre das toll, damit wir unser Wiedersehen ordentlich feiern können. Vergiss den Korkenzieher nicht und ein paar Knackwürste für den Kojoten, der zu meinen Füßen döst und sich von mir das Fell kraulen lässt. Komm schnell, du brauchst dich nicht zu rasieren, dafür ist vor dem Schlafengehen immer noch Zeit.
So, jetzt trommle deine 40 Räuber zusammen und ab die Post!
Deine Wüstenblume“
Ein kleiner Ruck, dann wieder Stillstand. Mein Blick ruht auf der Bahnhofsuhr, wo der große Zeiger sich träge voran schiebt. Ich zweifle, dass er es noch lange macht. An irgendeiner Stelle wird er stehen bleiben und bis in alle Ewigkeit verharren. Wie ich in meinem roten Fauteuil. Von den Dünen rieselt der Sand, langsam, gleichmäßig.
Avanti hopp hopp weg weg aus dem Weg verstopfen die alles haben die nichts zu tun stehen auf der Rolltreppe als gäb’s kein Morgen fährt denen kein Zug weg derweilen ich auf der Rolltreppe hinauf hechte rechts stehen links gehen lesen die nicht diese Analphabeten Bahnsteig 1-10 geht’s hier lang dieser Koffer ein Klotz am Bein eine Bremse komm schon du Hund mach weiter zerre ich an ihm noch 30 Sekunden diese schreckliche Pünktlichkeit der ÖBB warum nicht Italien schlimmer nur noch die Schweiz ich schwitze von der Stirne heiß rinnen muss der Schweiß calvinischer Ethos endlich das Trittbrett ich der Koffer die Lautsprecherstimme das Signal Abfahrt!
Ich erreiche wieder einmal den Zug nur mit knapper Mühe und muss feststellen, dass er voll gestopft mit Reisenden ist. „Da heißt es eben früher aufstehen!“, höre ich die Stimme meiner Lehrerin aus dem Schulzeit-Off.
Als ich drei Waggons weiter endlich einen Sitzplatz finde, will ich noch meine Texte aus dem Außenfach des Koffers holen, bevor ich ihn auf die Gepäcksablage hieve. Ich will die Zeit nützen, um mich auf meine Lesung im Stifterhaus in Linz vorzubereiten, die Texte nochmals durchgehen, stumm vorlesen.
Mir wird heiß und kurz darauf auch übel. Im besagten Kofferfach finde ich bloß meine Zeitung. Ich öffne den Zipp meines Koffers und beginne zu wühlen. Zum Glück habe ich Unterwäsche eingepackt, die sich sehen lassen kann. Unter den interessierten Blicken meiner Mitreisenden tauchen Nachthemd, Morgenmantel, Nylonstrümpfe, ein Seidenschal und eine Bluse auf, nicht jedoch meine Texte.
Wenn du kreativ bist, sage ich mir – schließlich bist du ja Schriftstellerin -, dann musst du jetzt nicht aus dem fahrenden Zug springen, dann fällt dir eine Lösung ein.
In Linz gibt es Buchhandlungen. Aber ob sie dort meinen Roman vorrätig haben? Eine Bestellung würde Tage dauern. Vielleicht besitzt sogar der eine oder andere Mensch in Linz ein Buch von mir, aber wie soll ich ihn finden? Die Geheimpolizei interessiert sich wohl kaum für meine LeserInnen. Es bleibt mir also nichts anderes übrig, als während der Fahrt eine neue Geschichte zu schreiben.
Autorin sucht Helden, der sie aus einer brenzligen Situation befreit. Helden gibt es wie Sand in der Wüste – in der Literatur jedenfalls. Ha! Ali Baba könnte mir, wie schon so oft, zu Hilfe kommen.
Als der Zug durch die Bahnstation von St. Valentin braust, bin ich auch mit meiner Geschichte für die Lesung fertig: Die Kamele stehen Schlange vor einem Nadelöhr. Eines nach dem anderen beäugt die schmale Öffnung, nimmt Maß. Manche unter-nehmen nicht einmal einen Versuch. Andere wieder sind bemüht sich durchzu-zwängen, verrenken ihre Leiber, verbiegen und winden sich. Wir stehen im Kreis und betrachten stumm das Schauspiel. 40 bärtige Männer (nur Ali Baba hat bloß Bartstoppeln) mit von Sonne und Wind gegerbter dunkler Haut und weißen Turbanen verharren reglos und schweigend. Als mein Kamel als letztes das Kunststück schafft, geht ein Raunen durch den Kreis der Männer, das anschwillt um in einen brausenden Beifall zu enden. Ali nimmt mich in seine Arme und küsst mich. Nie werde ich den Stolz in seinen Augen vergessen, mit dem er mich betrachtet. Dann tragen sie mich im Triumphzug durch die Wüste.
„Na so eine Überraschung!"
Ich habe Elvira schon während der Lesung im Publikum entdeckt.
„Ich war meine Eltern im Mühlviertel besuchen“, sagt sie, „und da hat sich ein Zwischenstopp geradezu angeboten. Gehen wir noch was trinken?“.
Im Herberstein ergattern wir zwei Barhocker und bestellen Prosecco.
„Hast du eigentlich Tausend und eine Nacht gelesen?“, fragt mich Elvira.
„Natürlich, du weißt doch, dass ich seit meiner Pubertät an Schlafstörungen leide.“
„Wieso machst du Ali Baba dann zum Räuberhauptmann, er hat doch nur dessen Schatz gefunden.“
„Dichterische Freiheit. Ich habe das Märchen umgeschrieben.
„Du hast eine schöne Halskette“, sage ich und bewundere die an einer langen Schnur aufgefädelten bunten Steine.
„Aus dem Souk von Damaskus“.
Sie greift nach dem Fläschchen, das an der Kette baumelt. „Wenn ich es auf-schraube und drei Mal schnüffle, entweicht ihm Ali Baba. Soll ich?“
„Unbedingt!"
Gesagt, getan. Schon schwingt sich Ali Baba auf den Barhocker neben uns.
„Hallo“, sage ich, „lange nicht gesehen“ und halte ihm meine Lippen hin.
Aber Ali küsst mich nur auf beide Wangen. Vielleicht küssen Orientalen im öffentlichen Raum nicht auf den Mund. Doch dann streicht er mir über das Haar -leider habe ich Gel verwendet, so dass es sich wohl ein wenig klebrig anfühlt - und betrachtet mich zärtlich.
„Ich bin Elvira“, sagt meine Freundin und streckt ihm ihre Hand entgegen. Sie ist manchmal etwas aufdringlich.
„Wunderbar, dass du gekommen bist“, flötet sie und macht ihren unnachahm-lichen Augenaufschlag, den ich einfach nicht hinkriege, sooft ich auch übe.
„Wenn eine so schöne Frau ruft“, sagt Ali und lächelt. Dann, sich zu mir wendend, korrigiert er sich: „Wenn zwei schöne Frauen rufen.“
Aber Elvira tut alles, um ihn in ihren Bann zu ziehen, sie muss einfach immer im Mittelpunkt stehen.
Gekonnt verwickelt sie ihn in ein Gespräch über einen Film. Leider habe ich den Film nicht gesehen und kann nicht mitreden, muss hilflos zusehen, wie Ali immer mehr in Elviras Bann gezogen wird. Die beiden unterhalten sich blendend.
Wie aufgetakelt Elvira ist. Roter Mohairpullover mit tiefem Ausschnitt und hautenge Lederhose. Fährt man so aufs Land zu seinen Eltern?
„Wie geht es deiner neuen Flamme?“, frage ich sie, ihre Konversation mit Ali unterbrechend.
„Welche von meinen Flammen meinst du?“, kontert sie und setzt dabei einen verruchten Blick auf. So kann man nur schauen, wenn man wirklich verdorben ist, denke ich neidisch.
„Oh la la“, sagt Ali und schnalzt mit der Zunge.
Dieses raffinierte Weib weiß genau, wie sie ihn scharf macht.
„Wieso ist denn Simon nicht zu deiner Lesung gekommen?“, erkundigt sich Elvira ihrerseits teilnahmsvoll.
„Er macht Osterputz“, knurre ich. Aber sie hat mir ein Stichwort geliefert.
„Weißt du, dass ich mit einer Geschichte über dich auf Lesereise bin?“, sage ich zu Ali.
Jetzt ist er natürlich neugierig.
„Über mich?“, strahlt er und wächst gleich noch drei Zentimeter. Da wird es Elvira nichts nützen, wenn sie sich auf ihrem Hocker aufrichtet, sich nach hinten ins Hohl-kreuz biegt um ihre Brüste stärker herauszurecken.
„Musst du nicht langsam gehen, Elvira?“, setze ich nach, „du hast noch eine längere Autofahrt vor dir. Und es wird Zeit, dass ich Ali eine Gute Nacht-Geschichte erzähle. In der er die Hauptrolle spielt.“
Ali jedoch bedauert, dass er morgen früh eine Verabredung in Wien habe. Beruflich. Aber wenn er seine Geschäfte rasch erledigen könne, wolle er mir nachreisen. Und alle 40 Kollegen zu meiner nächsten Lesung mitbringen.
Natürlich bietet ihm Elvira an, ihn im Auto mit nach Wien zu nehmen.
Ich gebe auf. Mache mich mit dem Gedanken an eine schlaflose Nacht vertraut. Hoffentlich gibt es in meinem Hotelzimmer eine Minibar, damit ich mich nicht allein an der Hotelbar betrinken muss.
Simon flitzt mit seinem Staubsauger durch die Wohnung, klopft die Teppiche im Garten aus, reibt die Fensterscheiben mit einem Rehleder spiegelblank. Seine Wan-gen sind vor Eifer gerötet und eine feuchte Strähne hat sich aus seinem blonden Schopf gelöst und über die Stirn gelegt. Sie ist schuld, dass ich plötzlich diese Zärt-lichkeit empfinde. Ich werde ihn gleich anrufen.