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 Müllers Krise von Dietmar Gauch

Müller öffnet den Briefkasten. Zuvor hat er seine Topfpflanzen gegossen und das Gepäck in die Wohnung gebracht. Sie schien größer als in Erinnerung.

Müller geht mit zwei Briefen nach oben. Zieht sich die Schuhe und die Jacke aus. Endlich, denn der Rückflug währte lange.

Müller beugt sich über den Schreibtisch. Die Schere in der Hand. "Arbeitslos" steht da, in dem einen, auf dem Briefbogen. Jedenfalls ließ sich darauf schließen.

Anscheinend habe ich jetzt viel Zeit, denkt Müller.

Viel Zeit habe ich gerade hinter mir.

Müller legt sich zwei Tage ins Bett. Dann treibt ihn der Hunger nach draußen. Durch seinen Mund entweichen Nebelfäden. Der Vorrat scheint grenzenlos.

Er tauscht die verbliebenen Devisen. Kauft sich Brot und Butter. Marmelade braucht er noch nicht. Zitrone für den Tee.

Früher konnte ich mir mehr leisten, denkt Müller.

Zuhause öffnet er die Reisetasche. Füttert die Waschmaschine. Die immerhin funktioniert.

 

Am nächsten Morgen meldet er sich beim Amt. Er ist nicht allein. Muss lange warten. Meine Zeit ist nichts wert, denkt Müller.

Als sein Name ertönt, erhebt sich mit ihm ein anderer. Kein Bruder. Allenfalls Bruder Kain.

Müller schiebt sich vorbei. Noch hat er nicht alles vergessen.

 

Müller beugt sich über den Schreibtisch. Was kann ich, schreibt er auf ein Blatt Papier, rechts daneben ein senkrechter Strich, links: was kann ich nicht. Von dem, was er dann kann, wählt er aus, womit sich Geld verdienen lässt. Von dem, was er kann und womit sich Geld verdienen lässt, wo er dahinter stünde.

Viel bleibt nicht übrig. Eigentlich nichts.

Ich bin nicht geschaffen für diese Welt, denkt Müller und fällt auf seinen Stuhl. Vielleicht wäre eine Reise angebracht. Nach den Strapazen hier. Eine Fern-, eine Entfernreise.

Er stellt zwei Pflanzen auf den Boden. Öffnet das Fenster. Schaut auf blaue Autodächer und auf weiße.

Nachher breche ich fremdes Rückenmark, denkt Müller. Nachher mutiere ich zur Nachricht.

Das fehlte noch.

 

Müller nimmt ein Buch aus dem Regal. Schlägt es auf und zu. Zu und auf. Er könnte Musik hören. Die Wäsche ist noch nass.

Müller verschließt die Tür.

Warum eigentlich?

Er geht zurück. Lässt die Tür offen.

Mir ist alles egal, denkt Müller.

Wenn mir alles egal ist, ist alles erlaubt.

Er spaziert über die Straße, ohne auf Verkehr zu achten.

Er löst seinen Schal. Schwenkt ihn als Fahne. Trällert Kinderlieder.

Ich kenne Sie von irgendwoher, sagt er zu einem fremden Mann. An einer Frau huscht er still vorbei. Du gefällst mir, flüstert er Meter später.

Er bleibt stehen. Dreht sich um. Könnte sie einholen. Aber er kann nicht. Nicht ohne Mut. Als würde ihn etwas festhalten. Als hätte Erde seine Füße verklumpt und verklebt. Leider.

 

Sein Schal angelt im Schmutz. Er verschiebt den Riegel. Alles ist noch da. Müller verzieht seinen Mund. Voller Abscheu und Entzücken.

 

Vielleicht habe ich übertrieben, denkt Müller und kauft eine Zeitung. Die Urlaubsfotos hat er schon unterm Arm.

Hochland, Wüste, Meer.

Da möchte ich auch mal hin.

Müller gießt Tee ein.

Er hockt auf einem Vogel namens Strauß.

Bin ich das, das bin ich gewesen.

Er lacht. Warum eigentlich? Er weint. Sehr stabil bin ich noch nicht, denkt Müller.

Er öffnet das Fenster. Schaut hinauf, nur hinauf zum grauen Himmel. Wenn ich eine Wolke wäre, was könnte aus mir regnen?

Müller starrt ins Leere. Die Leere starrt zurück.

Vielleicht stelle ich die falschen Fragen? Vielleicht stelle ich die richtigen Fragen falsch?

Ihn friert. Er schließt das Fenster. Nimmt die Pflanzen vom Boden. Geht Kreise, bis ihm schwindelt. Dann fällt er auf seinen Stuhl.

Nehmen wir eben, was da ist, denkt Müller. Er greift zur Zeitung und studiert die Konkurrenz.

 

Müller trifft Sabine. Sabine trifft Müller. Wie war dein Urlaub? Was macht die Arbeit? Was die Liebe? Ein Thema schwieriger als das andere.

Liebst du, fragt Müller.

Sabine erzählt von einem Mann, der ihr Luft nahm und deshalb Atem. Jedes Fenster, das sie öffnete, schlug er wieder zu.

Vielleicht hatte er nicht genug zu tun?

Sabine bleibt stehen. Schaut in sein Gesicht.

Er mustert ihre Haare. Frisch geschnitten und gefärbt. An ihrem Ohr klebt eine Muschel.

Sie schaut noch immer.

 

Es ist recht kalt hier, klagt er deshalb und schüttelt sich demonstrativ.

Und ich dachte schon –

Ja, wispert es aus ihm, dann setzt er wieder Schritte. Du dachtest richtig.

Er hört sie neben sich seufzen.

Warum habe ich nicht selbst, was ich jetzt brauche, denkt Müller: Mitleid.

Und nun, fragt Sabine.

Sondierungsgespräche.

Mit wem?

Müller schaut auf und in ihre Augen.

Aha.

Austausch.

Auch körperlicher Art, fragt sie.

Er hebt und senkt seine Schultern.

Und wenn ich will, dass du gehst, dann gehst du?

Klar.

Sabine atmet zweimal tief.

Das dürfte eine Weile halten.

 

Das Amt sitzt in einem kleinen, hellen Zimmer. Es steckt in einer Frau mit Brille. In einer Brille mit Frau.

Was führt Sie zu mir, fragt das Amt.

Geld, sagt Müller.

Das Amt schielt in seinen Computer.

Müller riecht an seinem Handgelenk. Es riecht nach Sabine, nach weiblichem Kerosin.

Da müssen Sie noch Geduld haben.

Ich war in Urlaub.

Dann sind Sie jetzt erholt.

Wofür, fragt Müller.

Sie wissen wofür.

Ich bin ungeeignet.

Niemand ist das.

Ich bin niemand.

Das Amt atmet zweimal tief.

Was haben Sie bisher getan, fragt das Amt.

Kontakte aufgefrischt. Telefoniert.

Das ist zu wenig.

Was wäre genug?

Wenn Sie uns nicht mehr brauchen.

Was machen Sie ohne Leute wie mich?

Das Amt rückt seine Brille zurecht.

Denken Sie um.

Auf etwas, das von Krisen lebt?

Warum nicht, sagt das Amt.

Keiner gibt seine Krisen zu.

Hier schon.

 

Müller lässt seine Augen wandern. Er hat noch nicht genug. Seine Triebwerke sind warm gelaufen.

Er stellt sich an die Tür zum Warteraum. Ihr müsst nur hart genug rangehen, ruft er. Dann geben sie euch schon was.

 

Müller plündert vorerst sich selber aus. Im Keller findet er eine Glocke aus Messing, ein Federballspiel, einen Hamsterkäfig, eine Axt, eine Waage. Er schwitzt und schnauft nach oben. Wischt sich über die Stirn. Geht unschlüssig Räume ab. Vielleicht haben die Beraubungen bereits stattgefunden. Die Wohnung jedenfalls scheint schon länger als Versteck zu dienen.

Müller sortiert Kleidung aus und Geschirr. Werkzeug und Brettspiele. Bilderrahmen und Vasen. Ich nehme den Leuten vom Müll die Arbeit ab, denkt Müller. Ich überlasse das Gerümpel den Hinterbliebenen Anderer.

Entschlossen rollt und schnürt er einen Teppich zusammen. Dann macht sich an die Bücher. Viele sind entbehrlich. Manche nicht. Er liest von einem Mann, der vom Lande kommt und um Eintritt bittet. Er liest von einer Mutter, die heimlich raucht. Gerade was mir gefällt, sollte ich unter die Leute bringen, denkt Müller.

Er packt Ernst Kreuder in eine Bananenkiste. Und Freytag. O'Brien. Dos Passos. Er stellt sie wieder ins Regal. Er legt sie in seine Hand. Streicht über ihre Rücken. Steckt seine Nase hinein. Blättert herum. Ich bin reich, denkt Müller.

 

Scheint gut gelaufen zu sein, sagt Sabine.

Das, was mir nicht gefiel, ging am Schnellsten weg.

Falsche Preispolitik?

Oder richtige.

Und jetzt, fragt Sabine.

Die Menschen haben sich nur für Gegenstände interessiert.

Sie sind schwer zu erreichen.

Also Handtaschenklau?

Vielleicht finde ich einen dankbareren Weg.

Aber du klingst enttäuscht.

Du nicht, fragt Müller.

Wenn du wenig erwartest, hältst du Enttäuschungen klein.

Müller stellt sein Glas beiseite. Nimmt seine Ellbogen vom Tisch.

Ich sollte dich zum Vorbild nehmen.

Das solltest du nicht, sagt Sabine mit einem Hauch Schwermut in der Stimme. Menschen wie ich brauchen Menschen wie dich.

Jetzt auf einmal?

Müller zeigt verwunderte Augen. Ihre suchen nur den Salzstreuer. Das war früher anders, sagt er.

Sabine schaut auf. Dieser Mann, von dem ich dir erzählt habe, der mich fast erstickt hat.

Müller nickt.

Ihm fehlte der Überraschungsmoment.

Und mir traust du den zu?

Jedenfalls begleitet er dich.

Dich nicht?

Sabine schneidet Fleisch zurecht. Spießt und gabelt in den Mund.

Müller wendet sich ab. Dann, um ihr noch mehr zu entlocken, wieder zu.

Du meinst, ohne mich würde dir langweilig?

Sabine kaut und schluckt.

Ein bisschen gefährlich kann es im Leben schon zugehen.

In dem der anderen?

Sabine nickt und lächelt.

Meine Krisen ersetzen deine?

Sabine nimmt einen Schluck Wein. Ihre Wangen sind rot angelaufen.

 

Die Wohnung ist ungemütlich geworden. Und einsam. Sehnt er sich schon wieder nach ihr? Unbestimmt. Bestimmt aber nach seinen schwarzen Halbschuhen. Habe ich die auch verkauft?

Unter dem Bett findet er nur alte Zeitschriften. Dafür fehlt ihm jetzt die Stimmung.

Müller drängt in seine Stiefel.

Unter einem Schaufenster mit teuren Autos bleibt er stehen. Die scheinen ihm nichts anzuhaben. Die konnte er sich noch nie leisten. Die erinnern ihn an nichts.

Tapfer geht er zum nächsten Glas. Vieles entlarvt sich als Gerümpel. Doch noch immer lockt und strahlt genug.

Ich bin verwöhnt, denkt Müller. Bestechlich. Herdenvieh.

Wenigstens kauft er sich nochmals eine Zeitung. Setzt sich auf eine Bank. Neben ihm eine Flasche Korn, deren Etikett nur noch ins Leere verweist. Es riecht nach Fäkalien. Ihn friert. Er schlottert nach Hause. Dort hält er sich das Papier vors Gesicht. Alles, was er liest, langweilt oder ekelt ihn. Er blättert zu den Arbeitsangeboten. Putzt heraus. Bringt Verzierungen an. Je besser ihm das Zierwerk gelingt, desto hässlicher kommt er sich selber vor.

 

Einmal beschimpfen und anschreien 2 Euro, schreit Müller. Oder nehmen Sie etwas anderes. Krisen aller Art. Preiswert. Fremde Krisen für Vorsichtige. Oder mutiger die Geldbörse weg. Was immer Sie brauchen, ich arrangiere es für Sie.

Die meisten Passanten tun so, als hätten sie nichts gehört.

Zwei Tage ohne Alkohol. Gefährliche medizinische Diagnosen. Geben Sie sich einer Krise schamlos hin.

Sonst geht es ihnen noch gut, ruft eine Frau.

Ich schminke Sie um zehn Jahre älter. Bereiten Sie sich vor. Lernen Sie Dankbarkeit. Drohbriefe ab 10 Euro. Geben Sie Ihrem Leben einen Tick.

Ein blasser Mann kommt mal von der einen, mal von der anderen Seite. Was kann ich Ihnen anbieten, fragt Müller schließlich. Der Mann bleibt stehen. Zögert. Einmal beschimpfen bitte.

Sie Muttersöhnchen. Sie Tropf. Sie Versager. Sie Taugenichts. Sie Trottel. Sie Nichtsnutz.

Menschen sammeln sich wie sprießende Glockenblumen.

Aus Ihnen wird nie etwas.

Gelächter.

Am besten werfen Sie sich gleich aus dem Fenster.

Der blasse Mann bedankt sich. Müller dankt zurück. Der Nächste bitte, ruft er und ist nun schon heißer.

Eine Frau erkundigt sich nach dem Angebot, für zwölf Stunden auf die Wohnungsschlüssel zu verzichten.

Eine gute Wahl, lobt Müller.

Lieber doch nicht, sagt die Frau.

Schade.

Müller schaut der Frau hinterher. Tritt von einem Fuß auf den anderen. Holt dann kräftig Luft: Krisen aller Art. Ein hartnäckiger Verehrer. Eine verlorene Brille. Ein totes Haustier. Kostengünstig. Frei Haus. Ich streite mit Ihnen, ohne wegzulaufen. Gestalten Sie Ihre Krisen selbst.

Kann ich mich an Ihrem Geschäft beteiligen, fragt ein Mann mit flaumig rundem Gesicht.

Was können Sie denn, fragt Müller.

Schreien.

 

Müller zieht es zurück zur Bühne. Seine Jacke hat er schon an. Zweimal hält ihn das Telefon fest. Dann die alten Zeitschriften. Wieder klingelt es. Langsam läufts, denkt Müller und sagt seinen Namen.

Eine Frau sagt etwas von einem Bewerbungsschreiben.

Ich brauche derzeit keinen.

Ich rede von Ihrem, sagt die Frau und lacht.

Ach ja, sagt Müller.

Ich wollte mich mit Ihnen unterhalten.

Jetzt, fragt Müller.

Übermorgen.

Müller verspricht sein Erscheinen. Kratzt sich am Kinn.

Plötzlich hat er etwas vor. Etwas Bewährtes, weniger Sperriges. Etwas, wo nicht irgendwann die Polizei kommt.

 

Müller hat schlecht geschlafen. Er schaut auf die Uhr. Beschleunigt seinen Schritt. Als hätte ich die Arbeit bereits angenommen, denkt Müller.

Sie müssen Herr Müller sein, sagt ein Mann.

Ich dachte, Sie wären eine Frau.

Da sind Sie der Erste, schmunzelt der Mann.

Legen Sie doch ab. Setzen Sie sich. Bitte.

Müller macht, was der Mann verlangt. So unauffällig wie möglich.

Der Mann nimmt Müllers Brief zwischen die Finger.

Müller schaut in ein braungebranntes Gesicht. Auf dessen Stirn verhaken sich zwei Falten. Sein Mund liest lautlos mit. Wohin schaue ich noch? Müller rutscht auf dem Stuhl herum. Gefällt Ihnen das Foto?

Der Mann verdreht das Papier. Auf einem Strauß zu sitzen ist bequemer als man denkt.

Der Mann nickt. Ihre Schrift ist etwas schwer zu lesen, sagt er.

Müller sagt lieber nichts.

Können Sie Fremdsprachen?

Aus der Schule.

Also Englisch und Französisch?

Eher Englisch und Latein.

Verstehe, sagt der Mann und kämpft mit seinen Mundwinkeln.

Und Gruppen haben Sie auch schon geleitet?

Eher unterhalten.

Also nein, fragt der Mann.

Nein, sagt Müller.

Tja, sagt der Mann und legt den Brief beiseite. Dann sagt er nichts mehr. Nur seine Augen zucken.

Kann ich das Foto wiederhaben?

Wir sind noch nicht fertig, sagt der Mann und streckt den Rücken.

Glauben Sie, fragt Müller teilnahmslos und wie gelähmt.

So ungeeignet wie Sie sich darstellen, sind Sie bestimmt gar nicht.

Nein?

Eine Zusammenarbeit wäre durchaus möglich.

Wirklich?

Der Mann schweigt für einen Moment. Wahrscheinlich fehlt Ihnen nur das Selbstvertrauen.