Winterspeck von Christine Zureich
„Für die Korrekturfahnen brauche ich Grün oder Rot. Ich arbeite doch am Katalog.“
Frau Vogel reißt entsetzt die Fliegenbeinaugen auf. „Aber das geht nicht! Grün kriegt nur der Chef! Das Welterbe-Team folgt ganz der Farbordnung der Landesregierung - der Chef also Ministergrün; Herr Strang eins drunter, Rot. Abteilungsleiter kriegen Schwarz, normale Angestellte Blau, so ein normales Dunkelblau.“ Sie greift in ein Schachtel Stabilo-Stifte und hält zwei hoch. „Ihnen steht als Volontärin Gelb oder Hellblau zu. Rosa oder Braun ginge auch, müsste ich aber erst bestellen, und das kann zwei Wochen dauern.“
Die erste Begegnung mit Meinerichs Farbsystem. Generaldirektor Meinerich, ohne weitere Direktoren unter sich; ‚General’ klingt einfach besser. Hintenrum nennt man ihn auf der Hütte Mobber Dick.
Fettes Los, ausgerechnet hier der erste feste Job.
Und dann, nach einem Jahr angedrohter Kündigungen und anderer Demütigungen: ein neuer Schreibtisch mit dunkelblauen Tintenrollern im Kunstlederetui. Dabei war das Volontärsgelb noch die geringste Demütigung; andererseits werden offizielle Anfragen wirklich nicht ernst genommen, wenn sie kückenfarben unterschrieben sind.
Schlimmer war schon diese PR-Brief-Aktion. Jemand hat ‚Mit freundlïchen Grüßen’ geschrieben und ich muss mit Bleistift einen dritten Punkt auf jedes einzelne der 7500 Anschreiben malen. Druckkosten sparen, persönlicher Auftrag vom Chef. „Mache Se das auch so, dass es aussieht wie Fliegendreck, wir sind hier Weltniveau, Frau Fichte, das muss echt aussehen.“ Ich tupfe vier Tage lang.
Mies auch der Freitag, an dem er plötzlich anfängt von einem Kinderkatalog zur aktuellen Ausstellung. Montagmorgen will er das druckfertige Manuskript von mir zu sehen kriegen. Und ich hatte schon das Hotel-Special in Metz gebucht, ein Versöhnungsweekend mit dem Ex. Ich versuche Meinerich auf Dienstag herauszuhandeln, aber nein: „Sie gefährden unser ganzes Projekt, Frau Fichte. Wenn wir an dieser Stelle in Verzug geraten, wird das Folgen für Sie haben. Wir geben hier immer 100 Prozent. Sie sind doch noch nicht urlaubsreif?“
Ich sage dem Ex ab, statt zweitem Frühling neue Eiszeit. Aber: Nach einer 50 Stunden Nonstop-Schicht ist der Kinderkatalog fertig.
Montagmittag dann das Meeting; Meinerich meint, es gebe gerade andere Prioritäten, eine Weinprobe mit dem Minister, die Powerpointpräsentation zum Geburtstag des Bürgermeisters; er würde noch mal auf mich zurückkommen. Wir beide wissen, das wird nie passieren, und der Kinderkatalog wandert auf die gleiche Müllkippe, auf der mein Privatleben schon seit Monaten im Sterben liegt.
Und dann hat der Hund ein paar Tage später noch die Chuzpe, vor mehreren Journalisten und ein paar Kollegen über meinen Singel-Status herzuziehen, oben auf einem der neu instandgesetzten Hochofen-Kamine.
„Na, Frau Fichte, auch mal wieder ein Höhepunkt. Sie sind doch Single, nit wahr?“
Der Ausblick auf die Schlacke-Halden Hermann und Dorothea ist phantastisch - Frankreich, der Saarbogen -, aber Höhenangst und Wut lassen mich zu einem einzigen Schweißplacken zusammenschmelzen. Das Baugerüst ächzt unter der Extrem-Belastung. Gleich da hätte ich Meinerich an seinem Trench-Revers packen und in die Tiefe stürzen sollen. Ich schlucke eine weitere Wochendosis Rescue Remedy.
Unmöglich auch die Klo-Sache: Ich sitze gerade mit dem zuständigen Gebietsreferenten des Denkmalamts – gutaussehend, kein Ring – über einigen historischen Details der Windmaschinen, da platzt der GD herein. „Ja, die Frau Fichte ist eine tüchtige Kraft, eine unserer Besten; daher ziehe ich sie mit sofortiger Wirkung von diesem Projekt ab. Sie, Frau Fichte, fertigen in den nächsten Wochen Fotos an. Ein einheitliches Erscheinungsbild ist für unsere Corporate Identity von immenser Wichtigkeit, auch im Sanitärbereich. Ich will jede Kloschüssel, jeden Rollenhalter, jede Armatur, jeden Seifenspender, jeden Türgriff. Ein strategischer Auftrag, wichtige Dokumentation. Danke, Frau Fichte.“
Beschissen.
Zu einer anderen Gelegenheit bewirft Meinerich mich mit Würfelzucker von der Kartenspielsorte. Die Hahnenkamp aus seinem Vorzimmer ist wieder einmal krankheitshalber weg und ich muss einspringen. Ein Pik, ich erinnere mich genau, trifft mich mit der Spitze an der Schläfe. Ich habe den Kaffee aus der falschen Silberthermoskanne serviert, ein Angriff auf seine ästhetische Integrität sein kann. Für jeden anderen sehen die beiden Kannen aus wie geklont. Aber dieser Mann misstraut sogar seinem GPS-Gerät.
Er meint ja immer, anderen in Geschmacksfragen voraus zu sein. Allein die Männeroper beim Kataloglayout. Das Ding ist fertig, er kommt dazu und schmeißt alles noch mal um. Bis weit nach Mitternacht wird mit dem Grafiker millimeterweise um jedes Bild geschachert, dann ist endlich das Layout in der ursprünglichen Fassung wieder hergestellt.
„Sehen Sie, ich habe das Ganze doch noch erheblich verbessern können, Frau Fichte, an so etwas können Sie Ihr Auge schulen,“ sagt er. Dann nutzt er die günstige Gelegenheit, dem Grafiker seine kostbaren Lack-Füllfederhalter vorzuführen; zufällig hat er ein halbes Dutzend aus seiner umfangreichen Sammlung einstecken. „Schauen Sie nur, schreibt wie Butter,“ sagt er und setzt eine Unterschrift um die andere auf ein Blatt, das vor lauter Gerneraldirektorgernotaugustameinerich bald grün liniert ist. Autogrammstundendämmerung.
Der einzige Trost die ganzen Monate: Das Volontariat ist meine Eintrittskarte in den Kulturzirkus. Manche würden ja alles tun, Ausstellungen machen zu dürfen. Unter Umständen sogar morden.
Und plötzlich soll ich seine persönliche Referentin sein? Befördert ohne Vorwarnung, in ein Zimmer mit direktem Zugang zu Mobber Dick, und null Bezug zu Ausstellungen. Ein Dead-End-Job.
Ich reiße das neue Kunstlederetui auf und kritzle in Normalangestelltenblau auf die Schreibunterlage. Bei näherer Betrachtung sind es lauter Galgenmännchen, dicke Galgenmännchen. Aus ihren Mündern hängen Würste.
***
„Sehen Sie, ich habe doch gleich gesagt, dass in Ihnen eine gute persönliche Referentin steckt,“ sagt Meinerich und sticht mit dem Kuchengäbelchen einen großen Bissen Torte ab. „Ihre Backkunst, Konditoren-Niveau! Die Frau Hahnenkamp soll mir mit ihrem Pumpernickel künftig vom Leib bleiben.“
Ich bin selbst überrascht, Backen war nie meine Stärke, bisher gab es nicht mal ein Kuchenblech in meinem Haushalt, nur ein einziges uraltes Rezeptbuch von meiner Oma; aber gerade das scheint dann für meine Zwecke ohnehin geeigneter als jede moderne Sammlung. Frankfurter Kranz, Kalter Hund, frittierte Apfelbeignets – das ganze Wirtschaftswunder. Allein vom Probieren sitzen meine Hosen strammer. Die Investition in meine kulinarische Kompetenz hat sich sichtlich gelohnt.
„Frau Fichte,“ greint es von nebenan, „sagen Sie, hätten Sie noch ein Stückchen von dem Kuchen? Mein Arzt braucht ja nicht davon zu wissen…“. Ich zwinkere ihm verschwörerisch zu, und reiche ihm ein zweites Stück Schwarzwälder Kirsch. „Sie arbeiten hart, da braucht man auch mal eine Belohnung, bei dem nasskalten Wetter sowieso,“ sage ich. Ich muss mich nicht mal zum Lächeln zwingen, mir ist wirklich danach, denn dem Arzt werden auch ohne ein zerknirschtes Geständnis die jüngsten Entwicklungen des Generaldirektors nicht verborgen bleiben. Auf der Hütte ist es jedenfalls keinem entgangen – Meinerich legt in rasantem Tempo zu. Aus den Apfelbäckchen sind Bowlingkugeltaschen geworden. Die Schuhe: Aschenputtelstyle drei Nummern zu eng, und an dem riesigen Bisamrattenmantel, in dem er aussieht wie Ivan Rebroff bartlos, lassen sich die vier untersten Knöpfe nicht mehr schließen. Hunderte von Tiere ließen ihr Leben, und jetzt hält das Teil nicht mal mehr den Ranzen warm.
„Ein ordentlicher Wiener Einspänner, Herr Doktor, Sahne, kein labbriges Milchzeug obenauf und einen Brandy.“ Unser Morgenritual. Als zweites Frühstück oder Pre-Lunch-Snack serviere ich aufgeschnitten Lyoner, die saarländische Nationalwurst, Eiersalat mit Speckstreifen und Mayonnaise oder auch mal Cracker mit Gänseleberpastete. Wo es jetzt auf Weihnachten zugeht, steht immer ein gut gefüllter Teller mit Gebäck und Schokolade in Greifweite. Dominosteine liebt er besonders.
Weihnachten selbst macht mir ein bisschen Kummer, ich werde nicht persönlich für die nötige Kalorienzufuhr sorgen können, die ganze Hütte macht bis Dreikönig dicht. Da muss eben vorausgeplant werden. Wenn Handwerker, Politiker oder andere Geschäftspartner anrufen, lasse ich anklingen, dass der Generaldirektor sich am meisten über Hausmacher-Leberwurst in Dosen, Schokotrüffel oder Liköre freuen würde. So hat er auch ordentlich was für zu Hause.
Doch dann kommt schon um den dritten Advent herum von der ahnungslosen Hahnenkamp Entwarnung: „Wie soll das nur weitergehen mit dem Chef?“, sagt sie. „Dieses Jahr hat er ja schon vor dem Fest zugenommen. Wenn seine alljährlichen acht Kilo Weihnachtsspeck von Muttern noch draufkommen, brauchen wir für ihn einen Flaschenzug. Na, wenn das Große Fressen ihn glücklich macht.“
Aber das ist es ja: das Kalorienhoch hält nie lange an. Sobald der Blutzucker sinkt, geht es wieder los. Eben beispielsweise bekam ich - keine Stunde nach drei Stück Sachertorte - den Auftrag, die Weihnachtsfeier zu organisieren: „Machen Sie’s genau wie letztes Jahr,“ lautet die Anweisung. „Wenn Sie mir auf die Sprünge helfen würden, Herr Doktor…im letzten Jahr war ich ja noch gar nicht hier.“ Und schon ist der Doktor an der Decke. Man höre ihm nicht zu, 1000 Mal müsse er alles sagen usw., usw. Zum Glück ist er dann gleich nach Hause. Dafür kommt Kollege Kai vorbei. Ich freue mich, Besuch ist selten, wenn man nah dran sitzt am Betriebs-Epizentrum.
„Sag mal, habe ich das eben richtig gesehen, der Doktor ist schon weg?“
„Zum Glück,“ sage ich.
„Mist,“ sagt er, aber nur, weil er was Wichtiges zu Besprechen hat, und ihm Meinereich seit Wochen entwischt. „Charlotte, wir haben doch auch besseres zu tun, als auf Arbeit rumzusitzen. Lass uns auf den St. Johanner Weihnachtsmarkt. Ein bisschen friedliche Adventstimmung braucht der Mensch, vor allem, wenn er hier schafft.“
Ein Rohr am Giebel der Glühweinhütte bläst gnadenlos die Weihnachtsatmo raus. Seifenschaumschnee. Langsam beginnt die Wärme aus den Tassen sich im Körper auszubreiten. Kai beißt gutgelaunt in seine Rostwurst mit Senf, dann vergeht auch ihm das Grinsen: im Gedränge zahlloser Jacken und Mäntel blitzt plötzlich ein vertrautes Stück braunen Pelzes hervor – die Bisamratte, der offenbar weitere Knöpfe fehlen; man sieht jetzt auch Brust.
„Manchmal kommt es besonders dick,“ zischt Kai und wir gucken beide schnell in eine andere Richtung, doch der Doktor hat uns schon entdeckt und steuert geradewegs auf uns zu.
„Na, Frau Fichte! Immer essen und trinken? Passen Sie ein bisschen auf sich auf, denken Sie an Ihre Linie. Sind etwas fülliger geworden, in letzter Zeit. So wird das nie was mit den Männern. Einen schönen Feierabend wünsche ich. Muss noch auf einen Ortstermin!“
Wie absurd: Das Ferkel fühlt sich schlecht weil der Eber es fette Sau nennt. Mit heißem Gesicht starre ich hinter ihm her. Nicht lange und der Weg, den sich der Eisbrecher mühelos gebahnt hatte, ist wieder verschwunden, als wäre er nie da gewesen. Nur, dass unsere Stimmung jetzt hin ist.
Die Weihnachtsfeier. Sieben Gänge – ein Gang mehr als im letzten Jahr leiere ich aus dem gleichem Budget. Als es soweit ist, lobt Frau Vogel die Tischdeko, die schöner sei als je zuvor, der Doktor hebt nach dem Fisch sogar sein Glas und spricht einen Toast: Auf die gute Organisation. Ganz gegen meinen Willen fühle ich mich geschmeichelt.
Nach dem Käse dann seine Jahresabschlussrede. Weltklasse, Weltpremiere und so weiter und deshalb weltbeste Weihnachtsgeschenke fürs Welterbeteam. Theatralisch langsam hebt er den Deckel eines enttäuschend kleinen Lederköfferchens. Gold? Rangkompatible Gelschreiber für alle? Gutscheine für einmal Elektroschock zum ordentlich Abschalten nach Feierabend? Aber dann sind es einfach nur Zigarren. Der Doktor lächelt selig, als er jedem eine aussucht. Ganz vorsichtig hebt er sie aus der Kiste. Fast wäre man lieber eine von ihnen.
„Für Sie, Frau Fichte, habe ich hier eine schöne Lady-Cigar mit feinem Vanille-Aroma. Sie werden viel Vergnügen damit haben.“
Kollege Fred knufft mich in die Seite und flüstert: „Clinton und Lewinsky!“
„Danke für den Kommentar,“ sage ich und versuche das blöde Ding in Gang zu rauchen, ohne dabei an den Expräsidenten oder Näherliegendes zu denken. Nach und nach verstummen die Gespräche und alle nuckeln an ihren Zigarren, als ob es um ihr Leben ginge. Der Doktor in der Mitte, und wir, das Weltklasse-Team, zu seiner Rechten und Linken. Wenn man es nicht besser wüsste, könnte man uns für die ergebenen Jünger halten und das Ganze für das letzte Abendmahl. Und irgendwie stimmt es, es wird ja tatsächlich sein letztes Abendmahl in diesem Kreis gewesen sein.
***
„Was für ein Timing!“, ruft mir die Hahnenkamp am 7. Januar statt einer Neujahrs-Begrüßung, entgegen. “Der Fahrstuhl fährt nicht, der Wartungsdienst kann wie immer frühestens in zwei Stunden, und unten steht der Chef und macht mich über Handy verrückt, weil er gleich ein wichtiges Telefonat mit dem Minister hat. Es geht um viel Geld. Die nächsten fünf Jahre Ausstellungsarbeit.“
„Soll er halt das Gespräch von unten führen,“ sage ich, obwohl ich weiß: der Doktor ist ohne sein Büro quasi impotent. Alle Unterlagen griffbereit zu haben ist das eine, vor allem braucht er aber den größten Schreibtisch im Haus, die vier Fenster, das Vorzimmer.
„Ich hab schon gesagt, ‚Chef, da bleibt nichts anderes übrig, Sie müssen die Treppen rauf’. Ich bin ja mal gespannt! Sieben Minuten hat er noch.“
Das Gesicht rot-blass. Immerhin drei Etagen. Keuchen, Husten. Die Bisamratte offen, nicht ein Knopf. „Ist Ihnen nicht gut Herr Doktor Meinerich.“ Ich halte ihm eine Tarte au Chocolat entgegen. Ohne Rücksicht auf Benimm stopft er sie sich mit beiden Händen in den Mund. Der Puls hämmert ihm sichtbar gegen die Schläfen. Zitternd greift er noch mal zu.
Da – Explosion! Leblos sackt der Doktor in sich zusammen, die Kalorienbombe ist hochgegangen. Martinshorn; Rettungskräfte, die fluchend mit ihm auf der Trage durchs Treppenhaus müssen. Dann der Hausmeister oben aus dem Lift: „Ihr müsst doch nur den Hebel umlegen, dann fährt er wieder. Den muss heute einer in der früh festgestellt haben, das klebrisch Ding. Wie Schokopudding.“
Mir wird schwarz vor Augen. Was habe ich getan? Mein Gott, ich habe den Chef ertortet, an meinen Fingern klebt noch Teig!