zu essen von Markus Jensen
Steinkauz, und wie ich ihm ahnungslos Weihnachten verdarb, Hamburg 1991.
Natürlich hieß er ganz anders, aber es wäre gemein gewesen, ihm keinen Spitznamen zu geben, Steinkauz brauchte einfach Steinkauz. Er: undefinierbar zwischen Anfang vierzig und Anfang sechzig, entweder zu früh oder zu spät gealtert, heillos einsam, dünn und blass, mittelgroß, in ausgebleichter Hose und Strickjacke, ein so unscheinbarer Nischenexistenzler, dass er schon wieder auffiel. Alles an ihm war vogelig: hinter der verkleinernden, dicken Billigbrille die erstaunlich klaren und trockenen Augen in den etwas eingefallenen Höhlen, was ihn eulenhaft aussehen ließ – ein hagerer Kauz mit leise raunender Stimme und dünnem, wie gerupftem Resthaar, steingrau, und steingrau, dachte ich, war auch sein Leben in seinem Horst hoch oben unterm Dach.
Ich: damals vierundzwanzig. Mich umgab eine zuverlässige Depression, und in der Arbeit neben dem Studium ruinierte ich mir meinen Rücken, als Auslieferungsfahrer für ein Feinkostgeschäft an Hamburgs Goldküste. Letztlich war es der beste Job, den ich je hatte. Ich verdiente gut, ich mochte die meisten Kunden und umgekehrt, ich hatte bei vielen älteren Witwen ein gewisses Melancholischer-Schwiegersohn-Image: „Ach, Sie sind so ernst.“
Zweimal die Woche schleppte ich vorgepackte Warenkartons, Wasserkästen, Champagner-Sixpacks oder frischeste Tartarhäppchen auf Rosenthal-Porzellan aus dem Laden in einen kleinen, engen Toyota-Bus und klapperte mein bergiges Revier ab, von Blankenese bis Flottbek, von der Elbchaussee bis an die Osdorfer Landstraße, die größten Gefälle der Stadt. Manchmal fuhr ich von der feuchten Bude eines bettelarmen invaliden Rentners direkt weiter zur Elbblick-Villa eines zigmillionenschweren Verlegers, und beide bekamen dieselben blauen Bier-Kästen, beide saßen in ihren Küchen und beide tranken Flensburger Pilsener.
Unter den Stammkunden befand sich auch Steinkauz. Er kam nie in den Laden, um dort Kartons packen zu lassen, sondern bestellte telefonisch. Seine Waren waren rein vegetarisch und die mit Abstand haltbarsten: literweise Gemüsesäfte und H-Milch, Müslis und vor allem unzählige Beutel mit Haselnüssen und Reis und Leinsamen und Reformhaus-Schwarzbrot und Zucker und Mentholbonbons. Man konnte sich ernähren von diesem für Monate wegstaubaren Zeug, theoretisch. Da es passenderweise in Russland drunter und drüber ging, kam ich auf die Idee, Steinkauz kaufe gezielt für den Ernstfall, und ich verglich ihn mit den Luftalarm-geprüften Witwen, die bei Ausbruch des Golfkrieges massenhaft Waschpulver und Pfeffer bestellten. Vielleicht, vielleicht lagerte er alles hinter der Tür, wo ich das Schlafzimmer vermutete, und er besorgte sich sein wirkliches Essen woanders, zugleich aber fand ich es undenkbar, dass einer wie Steinkauz überhaupt aus dem Haus ging, dass er ausflog. Und so hatte auch ich ein bisschen Spaß – an meiner rührseligen Phantasie, er würde tatsächlich und ausschließlich das essen, was ich ihm brachte. Dass es stimmte, merkte ich etwas zu spät.
Anfang des Jahres lernte ich ihn kennen, als ich den Job bekam, und jedes Mal, wenn er auf meiner Liste stand, sagte ich mir, ah, die komplette Zweiwochen-Vogelfutterration, und ärgerte mich erst leise im Laden, dann im Wagen laut stöhnend, denn seine Lieferungen beanspruchten immer mindestens zwei, riesige, randvolle Kartons. Da er im vierten und letzten Stock eines alten Hauses mit hohen Decken und ohne Aufzug wohnte, war ich nach der Tour durchgeschwitzt, erst recht, wenn ich statt zweimal dreimal hochsteigen musste. Ich schleppte alles in ehemaligen Bananenkartons, braun, fest und griffig, die Böden brachen nie durch, und seine Waren wurden von der hanseatischen Ladenbesitzerin geradezu seetauglich gepackt: obenauf die traurigen Beutel mit Trockenzeug, leicht, aber darunter die Flaschen und Tetrapacks in zwei Lagen, bittere Säfte und tote Milch, Asketen-Kilos als Kielgewichte. Im Sommer kam ich mir vor wie ein Kuli in den Tropen, come-Mister-tally-man-tally-me-banana.
Steinkauz war mein kräftezehrendster Kunde. Den Wagen konnte ich nicht vor der Tür parken, sondern musste mit den Gewichten den Weg über die Auffahrt hochwanken und es irgendwie schaffen, ohne abzusetzen den obersten Klingelknopf zu drücken, schnaufend, die erste Ladung riskant über dem angewinkelten Oberschenkel des Spielbeins gehalten und mit dem Bauch gegen die Hauswand gepresst, denn diese Monsterkartons erst abzusetzen und dann wieder aufzunehmen, hätte meine Kräfte überstiegen. Nach dem Summer öffnete ich mit einem kunstvoll balancierten Tritt den Eingang, und es folgte die Bewältigung des Treppenhauses, das sich, als zusätzlicher Schwierigkeitsgrad, auch noch mit jedem Stockwerk verengte. Hier lagerte schon der Geruch nach Pfefferminz, Menthol, der weiter oben stechend wurde. Keuchend kam ich unter dem Dach an. Von der offenen Tür herunter grüßte ein runder Kirchentags-Aufkleber: Mit mir kann man reden!
Unvorstellbar, dass irgendwer außer mir diesen Spruch je gesehen, geschweige denn befolgt hat. Wenn ich die erste Fuhre in die kleine spartanische Wohnung wuchtete, saß Steinkauz immer am Esstisch, war also nach dem Summer-Drücken und Türöffnen sofort wieder auf seinen einzigen Stuhl zurückgesprungen, mitten ins Nest, vielleicht um ein paar Minuten lang meinen Atem und die näher kommenden, schweren Schritte auf der knarzenden Treppe zu hören. Einziger Besuch. Er erwartete blinzelnd wie ein nervöser Kontorist die Lieferung, und seine Antwort auf mein „Guten Tag“ klang fahrig, war ein eilig gepresstes Konzentrat aus Hallo, Nja oder Tach.
Wahlweise stellte ich mir vor, er leide unter einer diagnostizierten psychischen Störung und sei deshalb früh pensioniert worden oder aus einem Büro geflogen, oder er war Beamter gewesen, betraut mit einem lächerlichen Spezialgebiet, in finsterster Provinz, dreißig Jahre lichtlose Schreibstube. Sicher schien nur: Er kränkelte. Ich bezog das auf seine Ernährung. Gleichzeitig war denkbar, dass ihm ein Arzt ausgerechnet dieses Zeug als Essen verordnet hatte.
Während ich die Kartons keuchend vor seiner Nase auspackte und die Gewichte vernichtete, las er stumm die gelbe Rechnung, so übertrieben lange, als sollte ich glauben, er addiere wirklich die Zahlenreihe im Kopf. Er verglich die Waren auf dem Esstisch genau mit der Liste und diese wiederum mit seinem eigenen säuberlichen Kinderschrift-Merkzettel. Es kostete eine Unmenge Zeit, und ich sagte ihm nur aus Höflichkeit nicht, dass doch eh immer alles stimmte. Dann hob er die Augenbrauen und nahm seinen Kugelschreiber auf. Er drückte langsam die Mine herunter – das bewussteste Klick, das ich je gehört habe. Er holte eine Zeitung aus dem Papierkorb unter dem Tisch, legte sie vor sich hin, dazu die Rechnung und den ewigen Postscheck, setzte einen Krakel, nur zur Minenprüfung, immer in die linke untere Ecke der Zeitung, neben den Text. Immer denselben Krakel, jedes Mal, irgendwann fiel es mir auf.
Kurzfristig, wenn Steinkauz seinen Scheck präsentierte, hielt ich ihn zu gerne für einen funktionalen Analphabeten. Dieser Wisch war schon mit Schreibmaschine ausgefüllt, als hätte ihm seine vielleicht noch existierende achtzigjährige Mama das Papier vorbereitet und ihn damit krächzend zum Krämer geschickt. Schräg oben stand nur zur Verrechnung, dann als Empfänger das Geschäft, Ort und Datum. Er trug per Hand den Rechnungsbetrag ein, langsam, strich den Rest der Zeile linealgenau durch und setzte auf die untere freie Zeile entweder fünf oder sechs überflüssige Schraffuren, immer fünf oder sechs, ohne System, aber im Rhythmus. Der Scheck musste noch signiert, abgesegnet werden. Er tat das mit seiner fein säuberlichen, schrecklich lesbaren Schrift, während ich ihm über die Schulter zuschaute und eigentlich hoffte, er würde mit Steinkauz unterschreiben. Das fertige Papier las er noch einmal genau, hielt es mir halb entgegen und sagte dann, im Takt, die Summe an, wobei sein Zeigefinger unausgewogen hin- und hersprang, getreu der deutschen Zahlensprache: „Einhundert, vier, zehn, Mark, und neun, und achtzig, Pfennig.“
Ich tat, als würde auch ich das kontrollieren, natürlich stimmte es, ich brummte gutmütig „mhm“ und wartete, bis er den Scheck, wie eine Urkunde, zögernd aus der Hand gab. Dann verstaute er die Zeitung wieder im Abfallkorb. Vielleicht war es jedesmal die gleiche Zeitung – aber immer eine andere Seite, das erkannte ich am frischen Krakel. Anschließend verabschiedete ich mich, und er stand hinter mir auf, mit immer derselben Bewegung, sagte „ja“ und schien mit einer Hand winken zu wollen. In meinem Lieblingsbild von ihm war sein ganzes Leben eine lange, korrekt gerechnete Zahlenkolonne, die irgendwann abgehakt wurde, vom Tod, nach fünf oder sechs Tagen im Hospital. So würde Steinkauz wenig Mühe bereiten, alles hätte seine Richtigkeit.
Dass er tatsächlich nie das Haus verließ, vermutlich seit jenem Kirchentag nicht mehr, merkte ich Ende September. Nach dem Lieferakt kam er mir aus der Wohnungstür hinterher und rief, als müsste er ein fast vergessenes Sozialritual hastig dranhängen: „Ist der Sommer vorbei??“ Die Frage verhallte im Treppenhaus. Ich weiß nicht, welche peinliche Smalltalk-Wendung mir einfiel, aber dann im Wagen parodierte ich ihn, mit demselben Psychiatrie-Glotzen, „ist-der-Sommer-vorbei?!“, zugleich kam ich mir schäbig vor, weil ich glaubte, ihn zurückquälen zu müssen, und weil im Vergleich zu seinem Leben sogar meines ein tolles war.
Einmal im November, als ich oben ankam, hatte er offenbar zu lange gewartet, war aufgestanden, um nach Schritten zu horchen, und kämmte sich in der Tür vor meinen Augen die bleichen, flusigen Haare zurück, wie in einem Anfall von altersschwuchteligem Balzverhalten. Ich rechnete damit, dass er mich plötzlich berührte, ich grinste und überlegte mir für alle Fälle eine milde, therapeutische Reaktion. Am Tisch merkte er dann, dass er diesmal den Rechnungsbetrag nicht extrem deutlich hingeschrieben hatte, diskutierte, ob er ihn nachbessern könne, sprang erstaunlich schnell hoch, federnd, ging zu einer Küchenschublade, riss sie auf und holte etwas heraus. Ich erwartete ein Messer. In der Hand hielt er eine Lupe. Während er gebannt seinen eigenen Scheck studierte, hätte ich neben ihm fast mit dem Fuß aufgestampft.
Dass er nie Trinkgeld gab, nicht einmal Weihnachten, registrierte ich kaum, nicht bei ihm. Ich nahm an, er wisse einfach nichts von solchen Dingen. Vermutlich bedeutete ihm Christi Geburt etwas, siehe der Kirchentagsaufkleber, aber ich als Heide machte mir herzlich wenig daraus, im Gegenteil, ich konnte das Frohes-Fest-Gewünsche der Kunden nicht leiden und tat so, als wäre dies ein normales Dezemberdatum. Ich arbeitete gern am Heiligabend. Die Chefin gab mir die rappelvolle Liste, mit einigen Festbraten-Panikbestellungen, und natürlich wurde es, was Trinkgelder anging, ein Sterntaler-Tag. Auch Steinkauz hatte angerufen, wohl selbst überrascht, dass jemand heute noch seine Nahrung auslieferte. Ich ärgerte mich, weil er einfach Zeit und Kraft kostete.
Immerhin gab es oben im vierten Stock, als ich mit rotem Kopf eintrat, etwas Ungewöhnliches.
Weil Weihnachten war, variierte er unser Bezahlungsritual. Jetzt stand auf dem Tisch eine Schreibmaschine. Mit einem polsternden Frotteehandtuch darunter. Es war ein altes, aber gut gepflegtes Gerät, kein Markenfabrikat. Gleich nachdem ich ihm die Rechnung hingelegt hatte, tippte er jetzt auch den Betrag ein, live. Er konnte das, flott und geübt – also doch irgendeine Schreibstubentätigkeit. Ja, dies musste die Maschine sein, mit der er jahrzehntelang gearbeitet hatte. Ich fand mich wunderbar bestätigt, und die Performance seines Postschecks gewann dadurch enorm. Er trug den Betrag vor und sagte, dem Fest angemessen, fast kokett lächelnd: „Mustergültig.“ Und ich wiederholte, einen Tick zu sarkastisch: „Mustergültig.“
Doch das merkte er nicht, denn es war etwas falsch gelaufen, ganz falsch: Er hatte in der Aufregung um seine hergezeigte Maschine vergessen, die Waren zu prüfen. Er starrte die gelbe Rechnung an. Sicher fürchtete er, man habe im Laden seine feierliche Stimmung teuflisch lachend vorhergeahnt und wolle ihn gerade jetzt betrügen. Ich, von seiner eigenen Unruhe angesteckt und eigentlich solidarisch, packte aus und aus und aus. Alles lief heute anders. Irritiert wurde ich bereits in der Mittellage: Unter den üblichen traurigen Tüten steckte ein Pott Margarine. Das warf mein Weltbild noch nicht um, aber weiter unten, bei den richtigen Gewichten, folgte die faustdicke Überraschung: eine Dose. Er hatte eine noch nie dagewesene Dose bestellt. Corned Beef.
In meinen Augen war er bis dahin ein beinharter Vegetarier gewesen, ich hatte Steinkauz schon anfeuern wollen, „halt durch, halt durch!“, aber das war jetzt sinnlos. Hier sah ich Fleisch, aber wenigstens, ästhetisch konsequent, freudloses Fleisch: ein festes Stück ermordetes, gekochtes, gesalzenes, zermahlenes, gepresstes Tier. Ich hätte zu gerne gesehen, wie er das öffnete, wie er das aß, wie er kauend aussah. Inzwischen, die Lieferung stimmte, ich hatte vor mich hingeträumt, versuchte er ein Gespräch anzufangen, über seinen Kühlschrank. Richtig, er hatte ja Margarine bestellt. Ich sah in die Küche: Ungewöhnlich, dass eine Pfanne auf dem alten Herd stand. Und der Kühlschrank? Wozu besaß er einen? Ich brachte ihm doch nie etwas Verderbliches. Im Kühlschrank musste der Plastikpott vollkommen einsam liegen, wie ein Kunstwerk. War Steinkauz ein heimlicher Beuys-Verehrer? Xmas, Fettzylinder in Aggregat?
Als er im Feiertags-Ausnahme-Gerede wie nebenbei die Margarine auf ihr Haltbarkeitsdatum prüfte und den Becher umdrehte, verzweifelte Steinkauz. Unten auf dem Boden konnte er den grünlichen Stempel nicht lesen, der war verschmiert gedruckt. Wir beugten uns beide darüber, aber es half nichts: keine Entzifferung. Und Steinkauz traute sich nicht, den Deckel probeweise zu lüften, das wäre für den Fall eines Umtausches unkorrekt gewesen. Er blickte flehend zu mir hoch, wollte noch heute einen neuen, lesbaren: Becher. Vielleicht auch nur: einen Stempel. Aber nicht das machte mich verrückt, nein, zu allem Unglück fehlte bei der hastigen Kontrolle der Fleischlieferung ausgerechnet auch dort noch etwas: der kleine seitliche Aufdrehschlüssel. Zwar konnte ich versichern, dass man diese Dose auch anders aufbekam, mit einem handelsüblichen Öffner. Aber Steinkauz besaß keinen.
Ich war schon weit in der Zeit, unruhig zog ich mein Dienst-Portemonnaie, zählte das Geld für Margarine und Corned Beef ab und gab es ihm bar. Entnervt packte ich die für ihn untauglichen Sachen zurück. „Tut mir leid“, sagte ich, „aber heute kann ich nicht noch mal fahren, viel zu viel zu tun.“ Während er die korrekte Summe für Fett und Fleisch in der Hand hielt, blieb sein Gesichtsausdruck kükenhaft verzweifelt, als wollte er tschiep machen. Ich schnappte meinen Bananenkarton und sagte aufmunternd: „Nächste Woche einfach wieder bestellen, ich guck vorher persönlich nach Stempel und Schlüssel.“
Ich dachte nicht weiter an seine Pfanne, hastete runter zum Wagen, musste dringend die restlichen Kunden besuchen, es eilte. Hinten in meinem Iso-Container wartete eine ganze Gans. Ein richtiger Festbraten.