Strassenkatze von Franziska Hauser
„Elena!“
Ich umarme sie und dann sehen wir uns an. Dieser erste Blick, wenn man jemanden wiedersieht, nach langem, das fragende, zweifelnde, suchende.
Das letzte Mal hatte ich sie vor zwei Jahren mit langem, blonden Haar gesehen, jetzt hat sie kurze, dunkelblonde Locken. Sie ist größer als ich, aber sie hat so eine S förmige Art dazustehen, lang, dünn und schlaksig, daß der Größenunterschied aufgehoben wird dadurch. „Wo gehstn hin?“ fragt sie und steckt die Hände in ihre Hosentaschen. „Ich hab einen kleinen Laden, zusammen mit meiner Schwester, hier in der Nähe, den muß ich jetzt aufmachen.“ Elena hat Zeit und kommt mit.
Der melancholische Ausdruck in ihrem zarten Gesicht, mit den großen Augen, scheint mir jetzt noch ausgeprägter als damals, vor fünf Jahren im Maxim-Gorki-Theater, wo wir uns kennengelernt hatten. Wir waren Komparsen im selben Stück und hatten eine gemeinsame Garderobe. Ich war Studentin, Elena ging noch zur Schule und tanzte Ballett seit zwölf Jahren. In der Garderobe hatte ich ihre beneidenswert perfekten Brüste bewundert. Sie war umwerfend schön und ich fühlte mich Mausgrau in ihrer Gegenwart.
Ob es an ihrer anhänglichen Katzenart lag, oder an meiner pragmatischen Spontaneität, daß ich sie gleich fragte, ob sie bei mit einzieht, weiß ich nicht mehr. Ich hatte gerade ein Zimmer zuviel und brauchte eine Mitbewohnerin.
„Wo sind denn deine Locken?“ fragt sie und erst jetzt fällt mir auf, daß es ist, als hätten wir die Frisuren getauscht. Ich habe immer dunkle Korkenzieherlocken gehabt und ihr Haar war so glatt wie Schnittlauch. „Die sind verschwunden, seit dem Baby, durch die Hormonumstellung“ sage ich und ziehe die Jalousien hoch. Während Elena sich im Laden die Lampen, den Schmuck und die Klamotten ansieht, koche ich Tee.
Sie ist immer noch wie eine Katze, denke ich. Ihre Anwesenheit ist kaum spürbar, sie redet wenig und es ist angenehm, wenn sie da ist, aber ich habe das Gefühl sie könnte jeden Moment einfach wieder verschwunden sein. Ich bringe den Tee und sie ist noch da.
Als sie damals bei mir einzog, schlief sie zwei Nächte in ihrem neuen kleinen Zimmer, in ihrem schmalen Bett und vom dritten Abend an, in meinem großen Zimmer, im großen Bett. Sie blieb einfach liegen bei mir, nach dem Fernsehn, zwischen den vielen Decken und Kissen, auf ihre liebesbedürftige aber unabhängige Katzenart. Daß das so blieb, störte mich nicht. Nur wenn ich nachts einen Mann mit nachhause brachte, musste ich mit ihm in Elenas Bett. Da das nicht sehr oft vorkam, gab es keinen echten Grund den unbenutzten Zustand ihres Chaoszimmers zu ändern. Elena brachte keine Männer nachhause, sondern ging mit ihnen mit.
Sie brauchte viele Drogen, viel Alkohol und viel Sex. Da sie von allem nie genug bekam, war sie immer auf der Suche. War manchmal verzweifelt über zu viele Pflichten, zuviel Langweile, zuwenig Geld und zuwenig interessante Menschen. Wenn wir in einer Kneipe saßen, beobachtete sie die Leute, die aufs Klo gingen und hatte den richtigen Blick dafür, wer Drogen dabei hatte. Dann ging sie hinterher und bekam was ab. An ihrem Leben hing sie nicht sehr. Sie wollte nie Kinder kriegen. Sie rollte sich da zusammen wo es warm war, ging zu jedem, der sie streichelte und ging wieder weg, wann sie wollte.
Sie konnte eifersüchtig sein, wenn ein Mann, mit dem ich die Nacht in ihrem Bett verbracht hatte, am Frühstückstisch saß. Dann war sie mürrisch und eingeschnappt. Aber auch das tat sie so unaufdringlich, daß es keine wirklich störende Eigenschaft war. Die Männer waren an dem bezaubernden Wesen, das lautlos beleidigt durch die Zimmer stolzierte, dann oft interessierter als an mir. Aber das schien sie nicht zu registrieren.
Wir wohnten in der Rosa-Luxemburg-Straße, über einem der ersten Ostberliner Sexshops. Manchmal waren unsere Freunde verschwunden. Durch die Klingelanlage rief ich: „Wir kommen runter“! „Ja, wir warten“, rief es zurück. Wir rannten die Treppe runter und mussten vorm Sexshop warten. Den Laden haben wir nie von innen gesehen, aber manchmal kam der Inhalt raus: Eine halbnackte Frau in Strapsen und Korsage stöckelte über die Straße, zum Nähmaschinenladen gegenüber. Ihr Reißverschluss ging nicht auf.
Im Hof waren die Fenster mit rostigen Metallplatten vernagelt. Die Jungs aus der Wohnanlage in der Almstadtstrasse kamen in unseren Hof zum Fußballspielen. Wir waren gerade aufgestanden und aßen Frühstück, als die Jungs den Ball gegen die Metallplatten warfen, das krachte wunderbar und ging nicht kaputt.
Wir lehnten uns aus dem Küchenfenster, da knallte eine eiserne Tür auf, in der breitbeinig und wütend eine furchteregende Erscheinung stand. Groß, breit, mit blondem Turm auf dem Kopf und in einer Bekleidung, die man Bekleidung nicht nennen konnte, zumal sie nicht korrekt saß, eine riesige Brust hing über ihrer Verankerung. Die Hände in die Hüften gestemmt brüllte es aus einem saftigen Riesenmund:
„Seid ihr noch janz dichte, oderwat?! Hier arbeiten Leute drinne! Ick dreh euch glei n Hals um, wenn ihr hier nochmal jegendonnert!“ Und die Tür knallte wieder zu.
Die Kinder verließen den Hof verschreckt, ohne den Ball im Gehen auf die Erde zu tippen. Wir überlegten, ob die Jungs, wenn sie Männer sind, je einen Sexshop betreten werden, nachdem sie jetzt wissen, was sie da drin erwartet.
Elena hatte keinen Job und ich jobbte nachts im Varieté als Scherzartikelverkäuferin. Wenn es nicht ausverkauft war, konnte ich so viele Freunde reinholen wie ich wollte. Es war eine Zeit, in der ich in jeder Bar, jedem Club, jeder Kinokasse von Berlin Mitte jemanden kannte. Ganze Nächte verbrachten wir ohne einen Cent auszugeben. Wir hatten kein Geld und wir brauchten auch keins. Wo wir etwas umsonst kriegten und wie wir uns reinschummelten, wussten wir. Im Kino, eine Etage höher, jobbte eine Freundin am Einlass, ihre Schwester unten im Bistro, meine Schwester an einer Bar in der Nähe und andere Freundinnen und Kolleginnen überall im Berliner Nachtleben, so daß wir die Stationen nur abklappern mussten. In warmen Sommernächten nahmen wir beim Ausgehen manchmal nichts mit, als unsere Kleidung. Der Wohnungsschlüssel lag in einem Loch in der Hausflurwand, von der man ein Stück der Holzverkleidung herausnehmen konnte. Wir brauchten kein Geld, keine Fahrkarten, keine Handys. Das fühlte sich dörflich an und wir kamen uns frei vor, in diesen Strassenkatzennächten. Unabhängig von allem.
Als Elena eines nachts alleine unterwegs war und sich so betrunken die Treppe heraufgearbeitet hatte, daß davon alle meine Plakate abgerissen waren, erzählte sie, sie hätte sich in der vergangenen Nacht an einer Bar mehrmals ausgezogen, für jedes Bier daß sie nicht bezahlen konnte. „Man, das war ne schlimme Nacht, du hättest mich davon abhalten sollen!“ Für wen sie sich ausgezogen hatte wusste sie nicht „Ach, irgendwelche alten Männer“.
Mit dem Tanzen hatte sie aufgehört, seit sie nicht mehr bei ihrem Vater wohnte, der sie immer hingebracht hatte. Sie war mit vierzehn aus einer westdeutschen Kleinstadt nach Berlin zu ihrem Musikervater gezogen, weil es ihr dort interessanter zu sein schien. Aber der Vater war kaum da.
Ich nahm sie oft mit ins Varieté, mein Job war es, die Gäste beim Einlass und in der Pause mit dem Bauchladen zu unterhalten. Ich war Unterhaltungspersonal und verkaufte Zigaretten, aus denen Wasser spritzte, Teleskopgabeln, Kompottschalenbrillen, lustige Nägel mit Verband, die aussahen als steckten sie im Finger.
Elena hing irgendwann bei den Artisten, Musikern, Schauspielern, Clowns und Alleinunterhaltern in der Garderobe herum. Der Conferencier hatte sie sich geangelt. Aber als die Show nach ein paar Wochen abgespielt war, war er weg. Weg von der Bühne und weg aus ihrem Leben.
Ich organisierte ihr eine Probeschicht an der Bar. Aber in der lauten Bahnhofsatmosphäre, die im Saal herrschte, zu arbeiten, war nichts für Elena. Über die Köpfe der Gäste sah ich, wie sie ein Tablett mit viel Bier trug und meine Ahnung, daß die Probeschicht keine gute Idee war, bestätigte sich sofort, jemand kam ihr entgegen und sie kippte sich vor Schreck alle Biere in den Ausschnitt. Später sah ich sie Gläser polieren und sie sah unglücklich aus. Das war nicht die richtige Welt für eine Katze, die sich in der Garderobe, hinter der Bühne viel wohler fühlte, dachte ich. Die anderen Barmädchen waren teilweise Artistinnen, die in der aktuellen Show gerade nicht mitspielten, aber auch Medizin, Jura und BWL Studentinnen. Elena war keine Studentin, keine Schülerin, keine Tänzerin, sie war nur ein Mädchen, das am Leben war und nicht wusste wozu. Als es mitten in der Show laut klirrte und gar nicht mehr aufhören wollte, wusste ich: Elena!
Sie hatte beim Abstellen des letzten polierten Glases alle anderen runtergerissen, mitsamt der Glasplatte, auf der sie standen. Mit ihren Händen konnte sie nichts anfangen. Ihre Hände sahen schön aus, wenn sie rauchte, waren aber für alles andere relativ ungeeignet. Elena war verschreckt von ihrer Probeschicht und ich fand sie hinter der Bühne bei Xavier, dem technischen Leiter, der mal beim Moskauer Staatszirkus gearbeitet hatte. Er massierte ihr die Schläfen und sagte er kenne bestimmte Beruhigungsdruckpunkte. Er erklärte uns noch wie man ein Kamel dazu brächte wieder aufzustehen, wenn es sich auf den Dompteur gelegt habe.
Im Varieté gab es jedenfalls keinen Job ohne Hände und ohne viel reden für Elena.
Wir hatten eine kleine schwarze Katze von Elenas Vater, wir hatten sie Zoe genannt. Zoe lief auf dem Badewannenrand entlang, während wir badeten. Sie rutschte ab und war unter dem Schaum verschwunden. Elena schrie und versuchte die Katze zu finden, konnte sie aber nicht festhalten, so daß sie immer wieder hochflog und der Schaum auch, dann war sie wieder weg. Irgendwann erwischten wir sie und warfen sie aus der Wanne.
„Weißt du noch wie wir Zoe in der Badewanne gesucht haben?“
Jetzt sitze ich Elena gegenüber, sie hat die langen Beine im Sessel angezogen und pustet in ihre Teetasse. Wieder rede ich mehr als sie und ob es sie interessiert, ist nicht ganz klar. Ich sehe in ihren großen Augen mit den dunklen Schatten etwas trauriges, das ich vor zwei Jahren noch nicht gesehen hatte. Das unruhige, nervöse sehe ich nicht mehr. Etwas ist anders, aber ich weiß nicht, wonach ich sie fragen soll. Sie erzählt von ihrem Freund, der Konzertveranstalter ist und daß sie mit ihm jetzt am Rosa-Luxemburg-Platz wohnt, nur ein paar Häuser neben unserer alten Wohnung.
Damals hatte es einen Typ gegeben, der hing an Elena. Er war eine Art Bruder, er liebte sie und sie behandelte ihn meist schlecht. Sein Nachname war Beckmann, er wurde Bex genannt. Elena fand ihn total unerotisch. Aber sie quälte ihn, weil sie ihn trotzdem brauchte, als Mann in ihrer Nähe, der sie anhimmelte, bedingungslos liebte und sie für einen guten Menschen hielt.
Bex bekam mit, daß Elena einmal den Satz gesagt hatte: „Ich schlafe mit jedem Mann, der auf meiner Bettkante sitzt und Gitarre spielt. Da kann ich nicht anders“. Bex spielte Gitarre, und einmal hatte er es doch probiert, mit der Bettkante. Es hatte funktioniert, er saß auf der großen Sonne, die auf ihre Bettdecke gestickt war und irgendwann hatte sie sich um ihn herum geringelt. Bei diesem einenmal beließ er es und blieb der beschützende Bruder.
Nach drei Jahren mussten wir ausziehen. Das Haus wurde saniert und ich wollte nicht wieder mit Elena zusammenziehen. Mir gefiel die Rolle nicht mehr, die ich hatte, wenn wir zusammen waren. Ich hatte sie sehr lieb und es war nicht so, daß sie mir lästig gewesen wäre, ich fühlte mich nicht ausgenutzt oder zu sehr gebraucht von ihr, das hätte man von außen vielleicht so sehen können, aber so war es nicht. Ich wusste, daß sie mich nicht brauchte, aber ich wollte nicht mehr ihr Gegenpol sein. Elena war so unvernünftig, daß ich nur vernünftig sein konnte. Gegen ihre katzenhafte Unberechenbarkeit, war ich eine unscheinbare Maus.
Ich setzte sie in die Wohnung einer Freundin und besuchte sie anfangs noch manchmal, dann sah ich sie nicht mehr oft.
„Ich hab Bex vor ner Weile getroffen, er sagt du hast ne Band?“ Elena nickt. „Ja, wir spielen am Wochenende in nem kleinen Club in Pankow, kommst du?“ Als wir uns verabschieden, habe ich das Gefühl, ihr noch ein bisschen wichtig zu sein.
Der Club ist voll, aber ruhig. Ich sehe ihre Mutter in der Menge und ich sehe Bex. Wir setzen uns an die Bar und er sagt, daß er froh darüber ist, wie gut Elena jetzt wieder aussieht. Ich sehe zur Bühne, wo sie im beigen Seidenminikleid mit Nudelträgern, auf langen Beinen, hohen Schuhen und S-förmiger Haltung das Mikrophon einrichtet. In mir kommt das Gefühl wieder hoch, das ich schon hatte, als sie bei mir im Laden saß: Sie hat irgend etwas durchgemacht in den letzten zwei Jahren. „Wieso sah sie denn schlecht aus?“ frage ich Bex. Er zieht die Augebrauen hoch, „Wusstest du denn nicht, daß sie Krebs hatte?“ Etwas sticht in meinen Magen. Nein, das wusste ich nicht. Bex erzählt daß, der Krebs sich in einer ihrer beneidenswert perfekten Brüste eingenistet hatte. Nach der Chemotherapie wuchs ihr Haar in Locken nach. Sie hat fast ein Jahr im Krankenhaus verbracht, Keyboard gelernt, Songs geschrieben und aufgenommen. Bex hat ihr die Technik besorgt. Der Krebs ist erstmal weg und Elena hat im Moment viele Auftritte solo und mit Band. Sie hat eine Single rausgebracht, unter dem Label ihres Vaters. Bei seinen Auftritten singt sie backround und tourt mit ihm durch die halbe Welt.
Elena singt. Ich habe sie noch nie singen gehört. Sie singt so wie sie ist, weich, langsam, melancholisch und schön. Sie wirkt ganz souverän in ihrer versonnenen Abwesenheit. Sie singt für sich selbst, eingebettet in ihre Band, in ihre Musiker, die sie beobachten und sich nach ihr richten. Die Katze, die eigentlich eine Frau ist, hat sich immer nehmen lassen, genommen hat sie sich nur was sie knapp zum Überleben brauchte. Jetzt steht sie da, singt und verschenkt ihre Seele an alle die ihr zuhören, lebt in ihrer Musik und ich verstehe jetzt, daß sie danach immer gesucht hat. Sie hängt am Leben, und das Leben hängt an ihr.