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Alfons von Julia Andorfer

Etwas schlug rumpelnd gegen die Klingen des Rasenmähers. Julius Morgenroth blieb  mitten in der Wiese stehen, wenige Schritte vor dem Teich, neigte das Gerät zur Seite und hob einen runden Stein vom Boden auf. Er betrachtete ihn mit einem tiefen Seufzen. Statt ihn sorgfältig in die Reihe anderer Steine zu legen, die als Teichbegrenzung dienten, schleuderte er ihn ins Wasser, wo einige Goldfische erschrocken auseinanderzuckten. Schlimm genug, dass er die geraden Bahnen, die er dröhnend in den Rasen zeichnete, für dieses trübe Wasserloch unterbrechen musste, der Rasenmäher musste komplizierte Bögen machen, vor und zurück fahren, um weder einen Halm des Schilfs zu erwischen noch von den großen Flusssteinen beschädigt zu werden. Aber nun lagen die Steine auch noch an Stellen im Rasen, wo sie nichts verloren hatten. Julius sah zum Zwerg hinüber, den er sich gern als den Bewacher des Gartens vorstellte. Der stand vorbildlich in seiner Ecke direkt an den Blumenbeeten und sah aus, als würde er eine Zustimmung in seinen Bart murmeln.

Julius setzte seine Arbeit gewissenhaft fort und blickte dann von der Terrasse aus auf sein Werk. Das vorher schon wuchernde Gras hatte jetzt wieder genau die richtige Länge, und Blumen wuchsen sichtbar nur noch im Beet, dort, wo sie hingehörten. Nur das Schilf ragte wie ein unartiges Gestrüpp aus dem Wasser, mitten in der makellosen Grünfläche, und irritierte das Auge des Betrachters.

 

Charlotte Morgenroth betrat das Atelier auf dem Dachboden und blieb wie versteinert in der Tür stehen. Der Raum wirkte, als habe sich jemand bemüht, alle Gegenstände auf einer möglichst kleinen Fläche zu verdichten, man hätte sie bequem einsammeln und augenblicklich in einen Lieferwagen verladen können. Sämtliche Bilder, die vorher überall an den Wänden gestanden waren, die gelungensten zuvorderst, waren nun auf zwei Reihen reduziert und lehnten eins am anderen in einer Ecke des Raums. Der längliche Holztisch, auf dem Charlotte Farben, Papier und Leinwände, Pinsel und Stifte bereithielt, war parallel an die kürzere Wand herangerückt, das Arbeitsmaterial versammelte sich fein säuberlich gestapelt am Fensterende des Tisches. Sogar die Staffelei stand jetzt parallel zum Tisch, im rechten Winkel zum Fenster.

Charlotte trat an den Tisch heran und ließ mit hochgezogenen Augenbrauen den Blick über die Anordnung wandern. Sie beschloss, sich nicht aus der Ruhe bringen zu lassen. Wochenenden waren Freiheit, Zeit und Raum, an Wochenenden malte sie. Vor einer Woche war sie zum Fluss gewandert, hatte Skizzen angefertigt und die Eindrücke des fließenden Wassers, der flirrenden Luft und bewegten Bäume aufgesaugt. Gleichzeitig waren vor dem inneren Auge Bilder von Menschen entstanden, Szenen einer Gesellschaft, Vorstellungen ungekannter Leben. Sie fand die Skizzen irgendwo im Stapel auf dem Tisch, stellte ein halbfertiges Bild auf die Staffelei und rückte sie wieder so, dass das Licht von draußen gleichmäßig auf das Bild fiel. Die Suche nach dem benötigten Pinsel dauerte zu lange, mit der Ruhe war es nun vorbei. Sie ließ das Bild stehen, rief nach Oskar, der zweimal bellte und würdevoll an der Tür wartete, lief die Treppe hinunter und musste im Vorraum auch noch ihre Schuhe suchen, die nicht dort waren, wo sie sie abgestreift hatte. Draußen brummte der Rasenmäher.

 

„Gegen sieben kommt jemand und sieht sich meine Bilder an“, sagte Charlotte, als sie an der Wohnzimmertür vorbeiging. „Was heißt gegen sieben?“, rief Julius, der auf der Couch saß und mit Daumen und Zeigefinger Erdnüsse aus einem Schälchen pickte, um die Finger sauber zu halten. „Kommt er nun pünktlich oder irgendwann, wie es ihm gerade einfällt?“

Charlotte zeigte sich im Türrahmen. „Soweit ich weiß, ist er kein Intercity-Zug. Aber vor Mitternacht wird er bestimmt da sein.“ Sie verschwand wieder im Vorzimmer und rief laut von draußen: „Übrigens war ich überwältigt, wie viele Rasenmäher am Dachboden noch Platz hätten, wenn man sich nur ein bisschen schrumpeln ließe. Ich glaube, ein riesengroßes Lineal ist dort gelandet und hat einen Tornado der geraden Linien ausgelöst.“

Im Badezimmer plätscherte es. Julius prüfte eingehend den Inhalt des Kühlschranks und wartete auf Charlotte. Sie sollte ruhig merken, dass er gekränkt war. „Hast du die Wollmäuse nicht gesehen? Ich musste ja zumindest staubsaugen. Wie soll ich das anstellen, wenn überall Dinge herumstehen?“, sagte er, als sie die Küche betrat.

Jetzt sah Charlotte ihn lange an, um schließlich ihr kleines Friedenslächeln zu zeigen.  Ob er nicht beim nächsten Mal warten könne, bis sie selbst den Staubsauger anwerfe. Trotz gefährlicher Wollmäuse.

Julius küsste Charlotte auf die Wange und verließ die Küche, um seiner Frau den Herd zu überlassen. Ginge es nach ihm, müsste man den Aufwand eines frisch gekochten Mahls gar nicht betreiben, gab es doch Fertigkost für jeden Geschmack. Und eine Mahlzeit war so schnell eingenommen, dass die Dauer der Zubereitung in keiner vernünftigen Relation zum Essen selber stand. Allerdings musste er insgeheim zugeben, dass die Gerüche, die von der Küche aus durch das Haus zogen, manchmal etwas höchst Appetitanregendes, fast Betörendes hatten.

Um drei Minuten vor sieben läutete es an der Tür. Charlotte rief etwas, überdeckt vom prasselnden Bratgeräusch. Offenbar sollte er die Tür öffnen und einen gewissen Herrn Klamm hereinlassen. Er nahm dem Gast den Mantel ab und empfand ein peinlich berührtes Bedauern darüber, dass dieser den weiten Weg gemacht hatte, um die künstlerischen Versuche seiner Frau zu sehen, die unbedingt eine Malerin sein wollte. Dabei war Charlotte keine Malerin, sondern Lehrerin, die Kindern nützliche Dinge beibrachte, und sicher keine schlechte. Aber das wollte sie partout nicht wahrhaben.

Charlotte verschwand mit Herrn Klamm auf dem Dachboden, und Julius stach mit einer Gabel in die Kartoffeln im Wasser und schätzte, dass er sie nach zehn Minuten herausnehmen würde. Bis dahin wäre vermutlich auch der selbsternannte Kunstkenner wieder auf dem Heimweg. Ohne Eile deckte Julius den Tisch im Wohnzimmer und summte vor sich hin, als Charlotte mit ihrem Gast wieder die Treppe herunterkam, zwei in Packpapier gehüllte Rechtecke unter dem Arm. „Herr Klamm bleibt noch und isst mit uns“, sagte sie. „Er hat zwei Bilder gekauft.“ Sie blieb im Vorzimmer stehen und strahlte triumphierend.

Am Wohnzimmertisch verteilte Charlotte gebratenen Fisch, Gemüse und Kartoffeln auf drei Teller. Julius betrachtete Klamm mit anerkennendem Kopfnicken und kniff dabei die Augen zusammen. „Sie haben also zwei Bilder meiner Frau erstanden. Da gratuliere ich Ihnen natürlich.“ Klamm, ein hochgewachsener, schlaksiger Mann in seinen Dreißigern, lächelte höflich. „Ich bin tatsächlich beeindruckt. Man sieht, wie sehr sich die Künstlerin“ - sein Blick wanderte hinüber zu Charlotte - „in den letzten Jahren entwickelt hat.“ Es entstand eine Pause, in der man nur das Besteck an die Teller schlagen hörte. Klamm schien es zu schmecken, er machte der Köchin ein Kompliment. Charlotte hatte eine Flasche Wein geöffnet und hob das Glas. Julius beschloss großzügig, ihr die Feierlaune nicht zu nehmen.

„Ich bin ja der Auffassung, dass man sich die Arbeit einer selbstgemachten provenzalischen Gemüsemischung nicht machen müsste“, sagte er lachend, als die Gläser wieder auf dem Tisch standen. „Wir führen viele verschiedene hervorragende Mischgemüse, tiefgekühlt, beliebig portionierbar. Im Grunde merkt man den Unterschied zu einer frischen Zubereitung gar nicht.“ Charlotte streifte Julius mit einem Blick, der ihm wohl mitteilen sollte, dass sie über ihn erhaben war und ihn nicht ernstzunehmen brauchte. „Aber nur im Grunde“, bemerkte sie spitz. Für den Rest des Abends widmete sie sich ihrem Gast mit ergebener, fast schwärmerischer Aufmerksamkeit.

 

Spätabends schlich Charlotte hinaus in den Garten. Julius war zu Bett gegangen und hatte ihre Worte, sich gerade beflügelt zu fühlen, mit kurzem Kopfnicken zur Kenntnis genommen.

Alfons, wie Charlotte den Gartenzwerg nannte, grinste im Licht des Mondes und protestierte nicht gegen den Ausflug auf den Dachboden. Während er Modell stand, nahm das Atelier langsam wieder ein heimeliges Aussehen an, Bilder und Utensilien verteilten sich wieder nach Charlottes Gewohnheiten. Sie eroberte ihren Raum erneut, so wie sie beim Malen auch die Dinge eroberte, sie sich zu eigen machte und im Gewand ihrer Wahrnehmung neu sichtbar werden ließ. Diesmal erlaubte sie sich dabei einen kleinen Spaß.

„So, Alfons“, sagte sie und betrachtete abwechselnd Bild und Vorlage, „findest du auch, dass Kunst niemandem nützt? Das sagt er gern, dein stolzer Zwergenhalter. Ein Bild macht nicht satt, es spart keine Zeit ein, man hängt es an die Wand und läuft daran vorbei. Es ist aufwendig in der Produktion und interessiert nur wenige Menschen. Im Vergleich zu Fertignahrung, versteht sich.“

Hier auf dem Dachboden wirkte Alfons' Gesichtsausdruck verändert. Hinter der süßlich-verschlagenen Fröhlichkeit kam plötzlich auch so etwas wie Furcht zum Vorschein. „Keine Sorge“, sagte Charlotte, „ich bringe dich schon wieder zurück.“

 

Julius träumte wirr in dieser Nacht. Irgendwann, die Bettseite neben ihm war noch leer, stand er schlaftrunken auf und machte einen Schritt vor die Tür. Charlotte malte wohl eine ihrer wilden Landschaften, eines ihrer ungestümen Porträts. Sie malte zwar nach Modellen oder Skizzen, hielt sich aber niemals wirklichkeitsgetreu an die Vorlage. Sie musste ja immer etwas ausdrücken, was auch immer, die ewigen Fragen der Existenz vielleicht, aber was ging es ihn an.

In seinen Pantoffeln schlurfte Julius benommen über den Terrassenboden und über den frisch gemähten Rasen, am Beet entlang bis zur Hecke, und dort stellte er fest, dass der Zwerg nicht an seinem Platz war. Er schüttelte verdrossen den Kopf und ging zurück ins Haus, aber noch vor der Treppe hinauf zum Schlafzimmer änderte er seine Richtung.

Immer dann, wenn sich in Julius ein heimlicher Groll zusammenbraute, begann er unwillkürlich die Schultern hochzuziehen. Bis zur Garage steckte sein Kopf bereits so tief zwischen den Schultern, dass sich die Ohren beinahe auf gleicher Höhe mit ihnen befanden. Immer klang es für Julius spöttisch, wenn Charlotte von Alfons sprach und damit den Zwerg meinte, aber er hätte sie nicht darauf festnageln können. Er wollte gar nicht wissen, was da oben vor sich ging. Er verspürte aber das dringende Bedürfnis, die angeschlagene Ordnung im Garten wiederherzustellen.

Mit der großen Gartenschere glättete er zuerst einige Unebenheiten an der Hecke, steuerte dann aber entschlossen auf das Schilf zu, das sich sanft im Wind bewegte. Erst als keiner der Halme mehr über den Rand des Teichs hinaussah, trug er die Gartenschere zurück. Er stieg die Treppe hinauf, legte sich zufrieden ins Bett und blieb kaum länger als drei Atemzüge wach.

Am Morgen schlief Charlotte zart und unschuldig neben ihm und wachte auch nicht auf, als er gutgelaunt „schnipp-schnapp“ sagte und sie dabei flüchtig auf die Stirn küsste. Julius war am Wochenende gern als erster wach, so konnte er sich sorgfältig um das Frühstück kümmern, mit dem Charlotte sonst oft allzu achtlos umging.

In der Küche lag Oskar neben dem Futternapf und bedachte Julius mit einem müden Blick, ohne den Kopf zu heben. Erst nachdem Julius zwei Messlöffel Kaffee in die Espressomaschine gefüllt und den Knopf gedrückt hatte, sah er das Bild auf dem Küchentisch. Es war Alfons, der ihn von dort ansah, aber er grinste viel breiter als in Wirklichkeit, ein unangenehmes, aufdringliches Grinsen, und er hielt einen Kochlöffel in der rechten Hand, stolz nach oben gereckt wie eine Trophäe. Sein linker Fuß in den tannengrünen Stiefeln stand auf einem Sockel, auf einer großen Tiefkühlpackung Mischgemüse nach provenzalischer Art. An einer Ecke der Packung hingen außerdem Eiszapfen, und das entsprach auch nicht der Wirklichkeit, wie Julius grimmig feststellte.

 

Charlotte wurde von den sanften Strahlen der Morgensonne geweckt, die freundlich ins Zimmer schien. Als sie mit dem Zeichenblock unter dem Arm die Küche betrat und von Oskar schwanzwedelnd begrüßt wurde, stand Julius mit dem Rücken zu ihr und war damit beschäftigt, mit millimetergenauen Handgriffen Geschirr auf dem Tablett anzuordnen und zurechtzurücken. Julius' Kopf steckte eingezogen zwischen den Schultern, die sich in vertrauter Weise auftürmten und nach oben wölbten. Wie ein großer Hefeteig, dachte Charlotte amüsiert.

Sie nahm eine große Tasse aus dem Schrank, die mit dem aufgedruckten lachenden Gesicht, und schenkte sich Kaffee und Milch ein. Es war ein schöner Tag, sie konnte vom Garten her die Vögel singen hören. „Ich werde später essen“, sagte sie vergnügt zu Julius. „Ich bin jetzt am Teich.“