Tante Anna und Selma von Nadja Spiegel
tante anna
ich sage: tante anna ist künstlerin. ich sage: tante anna hat eine katze, die katze heißt selma.
ich sage das, weil das die einzigen erinnerungen sind, die tante anna noch hat.
ich denke: tante anna war künstlerin. ich denke: tante anna hatte 16 katzen, sie hat die erste genommen und auf ein papier gezeichnet. alle 15 katzen, die danach kamen, hat sie in den bauch der ersten katze gezeichnet. das bild heißt: selma.
ich denke das, aber ich sage es nicht. die sätze liegen mir im mund, ich knote sie mir um die zunge, drücke sie gegen meine backenknochen, meine backenknochen mahlen, zermahlen, das knirschen drückt an der schläfe. die sätze, die ich denke, sind erinnerungen, die in tante annas kopf an den falschen stellen vergessen aussehen. es sind viele filmausschnitte. alle heißen: selma.
selma 9
als tante anna die metallkette aus dem ring löst und durch den türspalt linst und ina fragt, ist es, als würde sie das wort auf ein stückchen papier schreiben und so lange mit den fingern falten und auffalten, bis das papier zerfasert.
ja, ina. mein atem ist groß und weit und läuft zäh aus meinem mund. hallo tante anna.
wie tante anna die tür aufreißt und lacht und hektische flecken an ihrem hals lecken, sieht sie aus, als hätte man sie zu heiß gewaschen und als wäre sie eingegangen, weil ihr das nachthemd und die strickjacke mindestens zwei nummer zu groß sind. ich bin der einzige besuch, den tante anna noch bekommt, außer der pflegerin, die keinen vornamen hat, nur einen nachnamen. frau huber.
schön, sagt tante anna, komm, sagt sie; selma 9 läuft um ihre füße herum achter.
filmausschnitt 1. selma 1. ich sitze auf dem klodeckel in tante annas bad, selma 1 auf meinen schoß gebettet, und putze mir die zähne; tanna anna schneidet mir die fußnägel. vorher hatte ich an tante annas tür geklingelt und gesagt ich schlaf heut bei dir und tante anna hatte sich die grüne, blaue und rote farbe aus dem atelier aus dem gesicht gestrichen, in der rechten hand den pinsel zwischen daumen und zeigefinger haltend, an ihrem rechten fuß selma 1, und gesagt na dann komm rein, ich hab kakao da.
man müsste alle abgeschnittenen nagelenden sammeln, man könnte ein bild daraus machen, sagt tante anna und ich frage, tante anna, warum hast du keine kinder. tante anna lacht, beim lachen rutscht ihr die zahnbürste aus dem mund und hinterlässt einen breiten, weißen streifen am kinn. damals waren alle frauen, die ich kannte, mütter. nur tante anna nicht.
ich hab doch selma; ich hab doch meine selma, die selma ist mein kind, sagt tante anna und wäscht mir die zahnpasta vom kinn.
selma. damals war selma braun und hatte braune augen. das war selma 1.
selma 9
magst du einen tee, magst du einen kaffee. tante anna fragt nicht, tante anna sagt und tut und zwar wasser aufsetzen, der wasserkocher zischt, sie gießt das wasser in die tassen, deren hänkel alle abgebrochen sind. schön, dass du da bist, sagt sie, lächelt, ihre zähne sind gelb, ein schneidezahn fehlt. selma streicht um tante annas füße, tante anna wärmt ihr in der mikrowelle alaskafische auf, lacht, als selma miaut, sagt jaja, gleich, mein schatz. an ihrer wange ist farbe aus dem atelier, ich streiche ihr über die wange, es ist einer der tage, an denen die farbe frisch ist.
was danach kommt, ist wie immer an tagen, an denen sie meinen namen kennt, selbst wasser aufsetzt und fische aufwärmt und die farbe frisch ist: tante anna fragt während selma isst und ich antworte bis selma sich auf tante annas schoß zusammengerollt hat. es sind dieselben fragen, jede woche, es sind andere antworten, jede woche.
wie geht’s in der schule, fragt tante anna und ich sage, ich hab keine schule mehr, tante anna, ich hab doch abitur gemacht, vorletzte woche, weißt du? ich hab’s dir erzählt. ach ja, hast du. aber sie zögert zu lange, ihre stimme bricht am ach und dehnt sich am ja, dass es ein nein sein muss. du gehst nach new york, ja? wie ich, ja?
ja,wie du. ich atme laut, ich warte, als tante anna nichts sagt, sage ich, der flug geht nächste woche. der flug nach new york, ich fahr als au pair hin, ein jahr. ich lege tante anna die hand an die schulter, selma 9 schnurrt, reibt das köpfchen an meine füße. ich bin dann weg, tante anna, ich hab’s dir erzählt, du weißt, ich bin bald weg.
weg. tante anna formt das wort mit den lippen, bricht sich die stimme daran. weg. sie sagt das wort, als würde sie selma sagen.
mama kümmert sich dann mit frau huber um dich, während ich weg bin, wir haben das ausgemacht, du und ich, vor zwei monaten. ich habe das schon oft erzählt, an guten tagen nickt tante anna nur, wie heute, nickt und sagt ich komm schon zurecht, an schlechten tagen sagt sie, wegweg, wie joachim und ich und erzählt mir von joachim und ihr, wie sie mit achtzehn mit ihm nach new york gegangen ist, weil der dort ein tattoostudio aufmachen wollte. sie erzählt, dass aus dem tattoostudio nichts wurde, weil joachim keine nadeln in häute stechen konnte, ohne dass ihm schwindelig wurde davon.
was sie nicht sagt: aus ihr wurde dann auch nichts außer dem satz ich male und aus mir soll mehr werden, als aus diesem satz und aus ihr.
filmausschnitt 2. selma 3. es ist die schönste erinnerung, die ich von tante anna habe. ihre lippen sind rot, früher hatte tante anna viele liebhaber. tante anna war schön. in wir sind in tante annas atelier, das eigentlich nur ihr keller ist, an den wänden hängen ihre bilder. zuvor hatte ich gefragt darf ich deine bilder sehen. die treppe hatte unter unseren schritten geseufzt, der schlüssel im schloss geklickt, die türe gestöhnt, ihr aufschwingen, das sich anhörte, wie hochzeitskleider, die über parkettböden gezogen wurden, hatte sich in mein trommelfell genistet. da. das da ist aus venedig, sie zeigt auf ein bild, ich kann mich weder an dieses, noch an ein anderes erinnern. nur an tante annas augen, die an den bildern klebten, an ihre hände, die die luft in streifen schnitten und an einen einzigen satz: du erinnerst mich ein wenig an mich, ina, weißt du, nicht nur wegen den roten haaren.
früher durften alle tante annas bilder sehen. jetzt häuft sie sie unter weiße vorhänge im keller und nur selma darf sie vielleicht anschauen. zeigst du mir deine bilder, habe ich tante anna einmal gefragt, seit ihr gedächtnis ein loch ist. sie sagte nicht nein, sie wiederholte zeigst du mir deine bilder und bettete selma auf ihren schoß, sang ihr ein schlaflied vor.
ich war trotzdem einmal im keller, das war, als tante anna beim treppensteigen stürzte, weil ihr fuß im letzten schritt hängen blieb und es polterte und krachte und knackte. es war nicht fair, dass ich im atelier blieb, als der krankenwagen mit sirene davon fuhr, es war nicht fair, dass ich die weißen laken, die an den wänden an der decke hingen, zur seite schob und mir die bilder ansah.
ich weiß noch: die katzenaugen auf den bildern sahen traurig aus und es gab nur ein einziges bild ohne katze und katzenauge, es stand im rechten eck des zimmers: eine runzlige, von alterflecken scheckige hand hielt zwei katzenbabys, eines hatte den winzigen mund über den kleinen finger der hand gestülpt, ein anderes umarmte den daumen der hand.
selma 9
was willst du später machen, ina?
tante anna fragt und ich antworte und selma schläft auf tante annas schoß.
du könntest malen, ich bin mir sicher, du malst schöner als ich. du könntest malerin werden, ina, du malst schöner als ich.
ich nicke, ich sage tschuldigung, ich stehe auf, ich gehe aufs wc. der teppichboden unter meinen füßen hat neue schmutzige flecken, ich laufe auf zehenspitzen bis zur badezimmertür, stoße die tür auf, und den blick voran: am boden, am spiegel, kleben haare, rote haare, tante annas haare, viele haare, haarbüschel. im waschbecken liegt eine schere. tante anna, rufe ich, laufe durch den gang in die küche durch die küche ins wohnzimmer: tante anna sitzt da wie vorhin, sieht aus dem fenster, ihre hand streichelt das fell von selma 9 in ihrem schoß, streicht es auf, streicht es ab, aufabauf. ich löse ihr die haare aus dem zopf. hast du dir die haare geschnitten, meine stimme ist durch einen spitzer gedreht. tante anna schaut durch mich hindurch, zuckt die schultern. nein, nein, vielleicht war ich beim friseur.
du hast dir die haare geschnitten, tante anna, ich hab’s im bad gesehen.
sie zuckt die schultern, ich hab sie mir nicht geschnitten und ich hebe ihr selma aus dem schoß, ziehe sie an der hand mit mir ins bad, ans waschbecken, zeige auf die haare, auf die schere, zeige auf ihren kopf. du hast dir die haare geschnitten.
tante anna sagt lange nichts und dann: selma.
ich seufze, ich sage, ich mach schon, geh rüber, geh du zu selma und sie lächelt und ihr lächeln liegt nicht richtig in ihrem gesicht, es ist schief.
filmausschnitt 3. selma 5 es ist ein samstagabend. ich bin bei tante anna, weil mutter und vater weggefahren sind. tante anna und ich liegen auf dem teppich, er riecht nach waschmittel und farbe, wir trinken weißwein zusammen, ich mag den wein nicht. um mitternacht will tante anna nudeln kochen, sie findet den kochlöffel nicht, wir suchen in der küche, im wohnzimmer, wir finden ihn im schlafzimmer auf dem nachtkästchen, wir lachen, tante anna lacht lauter. später kleben die nudeln aneinander, die tomatensuppe ist versalzen, es macht nichts, tante anna ist künstlerin und keine köchin, wir essen die nudeln mit ketschup. hast du genug pfeffer, fragt tante anna und ich schüttle den kopf und tante anna fragt was willst du nach dem abitur machen, ina? ich sage, ich weiß nicht und drehe die spaghetti am löffel um die gabel, in tante annas mundwinkel ein wenig ketschup, sie legt den kopf schräg und kneift die augen zusammen, du weißt nicht. ach, du bist ja noch jung. willst du noch pfeffer vielleicht? ich sage hast du schon gefragt und ihre stimme hört sich an wie du wirst nicht mehr jünger, ina und du musst eine berühmtere künstlerin werden als ich.
es war ein samstagabend im film. das war der anfang, ich habe mir das lange überlegt. das muss der anfang gewesen sein, weil es nämlich so war: am sonntag der nächsten woche wusste tante anna nicht mehr, wo sie ihre autoschlüssel am samstag hingelegt hatte, die woche darauf fand sie ihren kamm in der besteckschublade wieder. in den folgenden monaten vergaß sie ihren kuchen im ofen und beim familientreffen fragte sie kann mich jemand mitnehmen später? und als wir später im regen draußen an der haustür standen und ich sagte he, das ist doch dein auto, war ihr gesicht ein entgleister zug.
das war der anfang. seither frisst das vergessen tante annas kopf auf, frisst alles auf. mich auch. und nur selma nicht.
selma 9
ich wische die haarhäufchen aus der kehrschaufel in den mülleimer, stelle den besen ins kämmerchen zurück. wo war frau huber, als du dir die haare geschnitten hast, frage ich und weiß, dass tante anna es vergessen hat. dass ich gehen muss, sage ich auch und sie nickt, sie begleitet mich zur tür, sie löst die metallkette aus dem ring und die türschwelle ist die stille zwischen uns, selma läuft um ihre füße achter.
an der wand hängt eines ihrer bilder, meistens zeigt sie darauf, wenn ich gehe und fragt, wer hat das gemalt, das gefällt mir nicht. heute ist nicht meistens, heute sagt sie du kannst das besser, du wirst eine künstlerin, ina, eine berühmte. und ich, ich werde taub, ich werde blind, eines von beidem, das schlimmere von beidem oder nein, etwas viel schlimmeres, etwas, das mir nicht beim sterben hilft, sagt sie, ihr blick sticht in meinen. ich will lügen, will sagen nichts schlimmeres, tante anna, nichts schlimmeres, aber sie fragt, wer wird sich später an mich erinnern, ina.
selten bin ich froh, dass sie sich bei meinem nächsten besuch nicht mehr an dieses gespräch erinnern können wird. heute ist selten.
filmausschnitt 4. selma 7. wir stehen vor tante annas badezimmer, tante anna hat selma im badezimmer eingesperrt, es ist später nachmittag. schon seit gestern, sagt sie, ich hab es nicht mehr ausgehalten, ich hab gesagt, sie soll leise sein, sie hat gefaucht, da hab ich sie eingesperrt. die taschentücher in ihrer hand zittern an ihrer wange und sind nass und zerknittert, dass wir selma rauslassen müssen, sage ich und tante anna sagt nein und nochmal nein, wird laut und weint, dass sie sich nicht alles gefallen lasse, dass selma sonst ja nicht so sei, schreit sie, kreischt sie. ich nehme tante anna in den arm, streiche ihren rücken so lange, bis sie ruhig wird. als ich selma später aus dem badezimmer lasse, springt sie mir an den fuß, reißt an meiner jeans, die krallen haken sich in mein bein, sie faucht, sie macht einen katzenbuckel; der boden ist voll urin und kod. es ist der einzige abend, an dem ich tante anna weinen sehe. sie ist wütend auf mich, sagt sie, wie selma am anderen sofaende sitzt und faucht, sobald tante anna die hand nach ihr ausstreckt. tante anna sieht mit verheulte augen aus, wie sie aussehen muss: alt und liegengelassen.
selma 9
ich muss los, tante anna, sage ich und tante anna sagt, ich will nicht vergessen werden und selma schnurrt und nagt an tante annas hausschuh. ich nicke, ich sage, ich vergesse dich nicht und tante annas blick ist ein leergetrunkenes martiniglas. vergiss mich nicht in new york, sagt sie, ganz leise und schnell sagt sie es. ich rufe an. das werde ich, ich werde anrufen und werde erklären, dass ich mein abitur gemacht habe, dass ich in new york bin und dass die frau, die jeden tag kommt, frau huber ist. künstlerin musst du werden, sagt tante anna, sie lächelt. ich nicke, ich sage nichts, ich habe ihr einmal gesagt, dass ich das nicht will, dass ich nicht malen kann. sie hatte es beim nächsten besuch vergessen.
tante anna
ich sage: tante anna ist künstlerin. ich sage: tante anna hat eine katze, die katze heißt selma.
ich habe 4 filmausschnitte und zwei vorstellungen.
vorstellung 1: wir sind in japan. tante anna schneidet selma 9 die öhrchen ab, dann die zunge und dann die beinchen, sie stellt die öhrchen, die zunge und die beinchen in den kühlschrank und vergisst sie.
vorstellung 2: wir sind in japan. tante anna brät selmas bauch und ihren kopf in einer pfanne mit olivenöl an und schneidet das fleisch mit einem messer ein um zu sehen, ob es schon durch ist.
ich stelle mit tante anna so vor. ich kann mir tante anna so vorstellen.
irgendwann wird sie vergessen, wer selma ist und vergessen, dass man katzen nicht essen soll.