Tango tacet von Corinna Gerhards
Will und Marlene Miller sind ein glückliches Paar. Des Morgens sitzen sie an ihrem Fenster mit Blick zum Meer, an einem hübsch gedeckten Frühstückstisch mit frischen Brötchen, frischen Blumen und frischer Freundlichkeit. Sie sieht auf das Wasser während sie an ihrem Kaffe nippt und lächelt. Er sieht auf sie während er an seinem Kaffe nippt und lächelt. Die Möwe vor der Scheibe sieht auf die beiden und hat keinen Kaffe.
Das Orchester nickt und nimmt Platz. Es streicht über die Instrumente, poliert sie tonlos und wartet auf den wahren Meister. Ein kleines Räuspern im leeren Raum. Dann das Ticken des Taktstockes.
Die Wellen schwappen an den Strand, die Kaffeemaschine blubbert, die Vögel rufen im Takt der großen Wanduhr. Und Tick und Tock, ein Rufen ein Blubbern. Gemütlichkeit.
Grazioso.
Die erste Tasse getrunken, schweigend, genießend, schenken sie sich die zweite ein. Er reicht ihr ein Brötchen und sie ihm die Butter und wenn sie beide nach der gleichen roten Marmelade greifen, zieht er schnell seine Hand zurück und überlässt sie höflich lächelnd seiner Frau, die dankbar nickend annimmt, um danach auch sein Brötchen damit zu schmieren.
Sie stehen auf. Sie räumen ab. Ein Schritt nach links wenn er nach rechts geht, eine halbe Drehung von ihm weg, ein Verbiegen des Oberkörpers um nicht in seinem Weg zu sein. Er dankt es. Nickend. Lächelnd.
Der blonde Hund unter dem Tisch klopft mit seinem Schwanz den Takt in den Boden.
Sie reicht es ihm, er reicht es der Spülmaschine, die verschluckt das Geschirr, wie der Kühlschrank die Marmelade, der Brotkasten die Brötchen und das Rauschen des Meeres die gelegentlich gemurmelten „Danke“ und „Bitte“. Die letzten Krümel vom Tisch gewischt, die weiße Tischdecke, die ordentlich gefaltet auf einem Stuhl gewartet hat damit sie keine Flecken bekommt, wieder über den Tisch gebreitet, so hübsch verkleidet.
Die Gummistiefel an ihren schlanken Beinen, der Griff nach der wohlgeordneten Gartentasche mit Schaufeln und Harken und der blitzenden Heckenschere, nach jedem Gebrauch gründlich gereinigt und streifenfrei. Sie lässt sich im Vorgarten auf die Knie nieder und fängt an die wenigen grünen Köpfe die sich trauen aus der lehmigen Erde zu schauen, aus zu ziehen. Dann bohren Finger Löcher in feuchte Erde, ein bisschen zu tief und setzen die Samen für neues Leben und gießen sie und schneiden ein paar Rosen für den Abendbrottisch bevor sie weiter nach Unkraut suchen.
Weit hinter ihr eine verrostete Schaukel die im Wind schwerfällig hin und herschwingt und Geräusche macht die man nicht vergessen kann, wie Fingernägel auf einer Tafel. Der schräge Ton einer Violine. Ein Schaudern.
Das leichte Knarren der Garagentür beim Öffnen, ein Stirnrunzeln in ihrem perfektem Gesicht, ein kurzer Blick zum Ölkännchen, ohne ein Wort. Wasser das in seinen Eimer plätschert und schäumt und auf dem Weg zum Auto kleine Tropfen auf den Betonboden kringelt.
Der Schwamm der zärtlich und vorsichtig den Lack streichelt. Langsam und lustvoll unter seiner Hand und hauchen und polieren, bis alles glänzt und er sich spiegelt im makellosen Lack und glaubt sie sieht sein zufriedenes Lächeln nicht.
Ein Harken, ein Rascheln und feuchte Erde, ein Plätschern, ein Wischen, ein Gurgeln. Die Bläser mit erkennbarer Melodie.
Legato.
Ihr Blick, von ihren Händen, zu ihrem Mann, zum Meer. Ihre Finger verkrampfen sich um den Hals eines Gänseblümchens. Nach einer Weile schüttelt sie sich wie ein nasses Tier und konzentriert sich wieder auf ihre Arbeit bis kein falsches Pflänzchen mehr zu sehen ist.
Die einzelne Klage eines Horns.
Sie gehen zusammen wieder nach drinnen. Er hält ihr die Tür auf, sie bedankt sich mit einem Nicken. Sie gehen ins Schlafzimmer. Während sie dem Geräusch der Dusche aus dem Badezimmer lauscht, sitzt sie auf dem Bett, die Hände die zuvor auf der Tagesdecke vergeblich nach Flusen zum abzupfen gesucht haben, hängen in ihrem Schoß zwischen ihren Beinen und wollen entspannt sein. Als das Geräusch des Wassers verebbt, steht sie auf , geht an den Schrank und legt ihm frische Sachen auf das Bett. Das macht sie immer so. Weil sie weiß was ihm gefällt. Ein leichtes Zucken im Rücken als die Badezimmertür sich öffnet. Seit einer Weile wickelt er sich wieder ein Handtuch um die Hüfte, wenn er heraus kommt. Sie schaut trotzdem weg als sie, an ihm vorbei im seitlichen Wechselschritt, das Bad betritt.
Kleidung die sanft an ihr hinuntergleitet und in einem hilflosen Häufchen auf den Fliesen wartet.
Heißes Wasser im Nacken und den Rücken hinunter und Rinnsale an den Innenschenkeln. Nasses Haar in Schlangen-Kringeln auf den Schultern, bewegend, Medusenkinder, keine Angst.
Das Wasser heißer, den Strahl noch härter und Tropfen, Tropfen, schlagen stärker auf ihren Rücken, auf zartes Fleisch, hinterlassen Flecken und Striemen und rote Haut und Stöhnen.
Staccato.
Die Geigen haben Pause.
Als sie lächelnd aus dem Bad tritt, ist er bereits angezogen.
Die helle Hose und die leichte Bluse achtlos übergestreift und das noch feuchte Haar zu einem lockeren Pferdeschwanz gebunden. Beim Verlassen des Zimmers, ein Kuss im Vorübergehen auf ihren bloßgelegten Nacken. Ein Moment des Verharrens, die Augen geschlossen, bevor sie ihm folgt.
Das letzte Beben der Waschmaschine verebbt und beim Öffnen der Tür enströhmt der frischgespülte Geruch vollkommener Reinheit. Klammes kühles Tuch einen Moment in den Händen, einen kurzen Moment an der Wange, ein Vorübergleiten am halbgeöffneten Mund. Vom Korb, in den Garten und dann frei im Wind, ein Klatschen, ein weiteres dann fliegen und Luft in weißen Laken gebläht vor Lust an Draußen und grünem Gras.
Und er hinter dem Fenster, weil er glaubt sie weiß nicht das er da steht und sie beobachtet, jeden Handschlag, jede noch so kleine Bewegung und diese Liebe in seinen Augen, steht sie da im Sommerkleid und taucht auf und verschwindet zwischen weißem Stoff und riecht das Meer.
Ein Queerflötensolo getragen vom Wind in die Wolken und von dort übers Wasser.
Adagio.
In der Küche, das Gemüse auf dem Holzbrett, das gute Gemüse, aus dem Garten ohne Chemie und Treibhaus und er fängt an es in Streifen zu schneiden. Ordentliche Streifen. Jeder Streifen so groß wie der andere, mit sicheren gleichmäßigen Schnitten, kräftig, ruhig, gleitet der gut gewachste Bogen über die tiefen Seiten des Cellos. Es ist so ärgerlich wenn sie nicht richtig geschnitten sind und beim Garen noch zusammenhängen. Und die Tomatenwürfel, in genaue Quadrate, zum Glück ist das Messer frisch geschliffen.
Sie erhitzt das Öl in einer Pfanne und Wasser im Topf und beobachtet dabei seine Hände, seine Finger um den Griff des Messers gewunden, das immer wieder fast geräuschlos vor und zurück gleitet und kleine Rillen in den Holzfasern hinterlässt in denen sich der Tomatensaft sammelt. Das Fett in der Pfanne rasselt und blubbert, aber bitte im Takt und nicht zu laut. Die Dämpfe steigen auf und sie lässt die Tränen ihrer gereizten Augen ihre Wangen hinabrinnen ohne sie abzuwischen.
Die Nudeln gehen langsam in die Knie und ertrinken im Blasen werfenden Wasser.
Jeder Schnitt ein Zerreißen, jede Dampfwolke ein Ersticken, jeder Tropfen im heißen Öl ein Zisch, Zisch, Zisch – und atmen.
Er nimmt die weiße Decke vom Tisch und stellt die Teller bereit. Der Tanz beginnt von vorne.
Da Capo/ Kopf-Kopf.
Das Nachmittagslicht fällt in das wohlgeordnete Wohnzimmer, kitzelt den hellen Stoff des Sofas, blendet die Gläser der Aquarelle an der Wand. Der Hund in seinem Körbchen atmet ein und atmet aus und schnarcht ein bisschen wenn er träumt und seine Pfoten zucken. Sie blättert eine Seite ihres Buches um, zu neuen Rosensträuchern und gestutzten Hecken und netten Frauen in bunten Schürzen mit Lavendelmuster - Landhausstil - und nicht zu rotem Lächeln. Er malt einen feuchten Pinselstrich auf die Leinwand, so ruhig, so zart, ohne abzusetzen, von links nach rechts, ein streicheln das eine Spur aus aufgestellten feinen Häärchen auf ihrem Rücken hinterlässt.
Einatmen, ausatmen, umblättern, Pinselstrich. Einatmen, ausatmen, umblättern, Pinselstrich.
Ein Blick auf das Meer, ein Blick auf das Bild des Meeres.
Ein Blick auf die Küste mit schäumendem Wasser, ein Blick auf das Bild der Küste.
Ein Blick auf den strahlend blauen Himmel über dem Wasser, ein Pinselstrich dunkelgrau auf die tiefhängenden Gewitterwolken des Canvas.
Flöten und Geigen setzen ein mit freundlichen Synkopen.
Im Takt das Ticken der Uhr, jede Sekunde ein kleines Ticken, jede Minute ein großes Ticken, jede Stunde ein Tack. Einatmen, ausatmen, umblättern, Pinselstrich. Tick. Tick. Tick. Tack.
Lentando.
Ein Seufzen.
Der Hund zuckt mit den Ohren, dem Schwanz, den Pfoten, öffnet plötzlich die Augen, springt auf und schüttelt sich nach seinem langen Traum, er geht herum, atmet schneller und schnüffelt feucht an herunterhängenden Händen. Das Buch wird mit einer getrockneten Blüte gekennzeichnet, geräuschvoll zugeklappt, der Pinsel mit einem leichten Klappern auf dem Holz der Staffelei abgelegt. Ein kurzer Blick zueinander, ein langer Blick nach draußen und der gleichzeitige Griff nach den Windjacken. An der Tür schlägt der Schwanz des Tieres an den Rahmen.
Tür auf, Tür zu, ein Knallen, ein kurzes Verharren. Dann Schritt für Schritt gegen den Wind. Ein glücklicher Hund der vorrausspringt. Die Hände tief in den Taschen, nach vorne gebeugt im Gleichschritt, Marsch. Und Schritt und Schritt und Schritt. Seine Beine sind länger. Sie muss sich anstrengen. Fest und sicher der Basslauf des Pianos.
Andante.
Seine Haare flattern im Wind. Immer flattern sie. Er ist nicht mehr jung. Seine Haare sollten nicht flattern. Seine Haare sollten nicht über dem halb herausschauenden Kragen flattern, weil sie ihm seit Jahren sagt, er solle sich seinen Kragen richten wenn er eine Jacke anzieht. Aber sie zupft ihn nicht mehr zurrecht. Schon so lange nicht mehr.
Hände die sich in Taschen zu Fäusten ballen.
Vom Wind geblasen Klarinetten, leicht schräg und moll für einen Seitenblick.
Hände die einen Stock schmeißen. Hände die das gischtfeuchte Haar des Hundes streicheln und dankbar geleckt werden bis sie sich im Fell verkrallen und ein Jaulen sie zurückfahren lässt.
Füße die im Gleichschritt weiterlaufen, sich schwer aus feuchter Erde erheben und wieder ihren Abdruck hineinpressen. Große Füße, kleine Füße, Hundepfoten, im Gleichschritt und bekannt der Weg. Große Trommeln, kleine Trommeln und dazwischen ein Xylophon.
Ein einziger warnender Ton der ersten Geige.
Füße die ihn, in einem winzigen Augenblick der Unachtsamkeit zur Seite rutschen lassen, so dass er das Gleichgewicht verliert und über den Rand der Klippe rutscht. Er hält sich an einem dünnen Bäumchen fest das er im letzten Augenblick erfasst hat, seine Beine baumeln über dem Abgrund, seine Augen flehen sie an, oder den Himmel oder den Gott an den er nicht mehr glaubt. Sie steht am Rand. Die Spitzen ihrer Schuhe, bereits in der Luft, zeigen auf das Meer. Sie schaut auf die Hände ihres Mannes. Auf die Adern die mit dem Alter heraustreten. Auf die gefeilten Fingernägel. Auf die verkrampften Finger, auf das Bäumchen das sein Bestes gibt, das um sein eigenes Leben kämpft aber sich doch Faser für Faser aus der weichen Erde löst.
Eine elegant geschwungene viertel Pause.
Er schreit nicht, sagt nichts, streckt ihr eine Hand entgegen.
Sie beugt sich nicht hinab, steht nur da und schaut in seine Augen.
Hände die sich langsam in den Taschen entspannen, die eigene Überraschung in ihrem Gesicht, Schultern die locker nach unten sinken, in seinen Augen der Moment des Erkennens, sie verschließen sich zu Dunkelheit, einen Augenblick bevor das Bäumchen aufgibt und zusammen mit ihm, völlig lautlos in der Tiefe verschwindet. Vielleicht sollte man ein Platschen hören, einen Schlag oder ähnliches, aber vermutlich geht es im Rauschen des Meeres verloren.
Die Wellen, wie Atem, ein und aus und lauter, am Ende des Taktes, zerschellen am Felsen und ein und aus und ein und aus, heulender Wind um Klippen und der Schrei einer Möwe.
Fortissimo!
Ein Paukenschlag.
Nach einigen Minuten dreht sie sich um und geht zurück in Richtung Haus. Das Tor der Garage steht noch offen. Sie setzt sich in das Auto und fährt los, ohne sich anzuschnallen, ohne in den Rückspiegel zu schauen. Stark beschleunigend folgt sie den leichten Kurven der Küstenstraße.
Der Hund läuft noch einige Zeit kläffend hinter dem Auto her. Als ihm klar wird, das er es nicht mehr einholen kann, bleibt er stehen und setzt sich an den Straßenrand. Die Zunge hängt ihm aus dem Maul während er schwer atmend auf die weißen Tücher schaut, die fröhlich im Winde an der Wäscheleine vor dem Haus flattern. Sein Schwanz schlägt noch einige Male auf den Asphalt und bleibt dann zuckend liegen.
Pianissimo.
Mesto.
Applaus.