Helga Rattay: Neumanns Selbstversuch
Neumann war eigentlich kein Trinker im engeren Sinne. Er war ein nüchterner Mensch, Naturwissenschaftler durch und durch. Aber eines Tages war er darauf gestoßen, dass sich die Welt mit einem gewissen Alkoholpegel besser ertragen ließ. Das war im Frühjahr vor acht Jahren gewesen, am Tag seiner Silberhochzeit.
Man hatte im „Burghards" gefeiert, standesgemäß, wie es sich gehörte. Die Familie war eingeladen gewesen, die besten Freundinnen seiner Frau, ein paar Kollegen aus dem Institut. Er hatte sich darüber gefreut, seine Kinder wieder einmal zu sehen. Jonas lebte damals schon fast drei Jahre in Frankreich, Johanna war ein paar Monate zuvor zum studieren nach Münster gezogen. Es war einsam geworden in der großen Villa, und es ließ sich nicht länger ignorieren, dass seine Frau und er sich nicht mehr viel zu sagen hatten. Selbstverständlich ging das die Gäste nichts an. Diskretion und Contenance, das waren die eisernen Regeln, an denen sich alles zu orientieren hatte, wenn es nach Doris ging. Es ging immer nach Doris, aber Neumann machte es nicht viel aus, sich anzupassen, er war es nicht anders gewohnt. Und so gab er am Abend seiner Silberhochzeit pflichtgemäß den liebenden Ehemann, hielt eine freundliche kleine Lobrede auf das zurückliegende Vierteljahrhundert mit seiner Frau, eröffnete das Buffet, tanzte artig erst mit Doris, dann mit seiner Mutter, sogar mit seiner Schwiegermutter. Später auch mehrfach und voller Genuss mit Colette, der neuen Freundin seines Sohnes. Colette war eine entzückende junge Frau, eine zierliche, gut gekleidete, wohl duftende Französin mit heller Haut und fuchsroten, schulterlangen Haaren. Sie sprach kein deutsch, ihr Englisch war schlecht, aber reizend, und sie unterhielten sich großartig. Dazu mochte auch der ausgezeichnete Bordeaux beigetragen haben, den es zum Essen gegeben hatte, oder der Champagner, den er auf das Wohl des jungen Paares spendierte und den er gemeinsam mit seinen Kindern lachend und plaudernd so lange genoss, bis sich Doris dazugesellte.
„Komm doch bitte einen Moment mit hinaus", forderte sie ihn auf, und er folgte ihr unter den mitleidigen Blicken der Kinder in den Biergarten des Gasthauses. Doris versicherte sich, dass beide ungestört waren.
„Vergiss bitte nicht deine Pflichten als Gastgeber", ermahnte sie ihn, „es ist ungehörig und unangemessen, dich einfach mit den Kindern zurückzuziehen, sie zum trinken anzustiften und dich zu amüsieren, während sich deine Gäste fragen, wo du bist. Von mir ganz zu schweigen." Neumann nickte und wandte sich zum Gehen, doch Doris war noch nicht fertig.
„Und wenn du dich schon aufführen musst wie ein halbwüchsiger, verliebter Gockel, dann such dir doch bitte eine andere Zielscheibe für deine Lächerlichkeiten. Es muss ja nun nicht gerade die Freundin von Jonas sein. Du machst uns beide lächerlich." Jetzt wandte Doris sich ab uns ließ ihn draußen stehen.
Später hätte Neumann nicht mehr sagen können, woher er den Mut genommen hatte. Er hatte seinen Mantel geholt und das Fest zu Fuß verlassen, ohne sich zu verabschieden oder eine Nachricht zu hinterlassen. Auf dem Heimweg war er, mehr durch Zufall, in einer Eckkneipe gelandet und hatte sich dort den Ärger von der Seele gespült.
Doris wahrte Stillschweigen über den Vorfall, sie hatte offenbar entschieden, ihm keine Szene zu machen. Sie strafte ihn stattdessen mit lang anhaltendem Schweigen und nahezu vollständiger Missachtung. So wurde Neumann Stammgast im „Goldkehlchen", und in den Wochen nach der Silberhochzeit experimentierte er zunächst zufällig, doch recht bald systematisch mit dem speziell für ihn optimalen Alkoholpensum. Es lag zwischen dem dritten und dem fünften Bier, wobei die Sorte, bezogen auf die Wirkung, unerheblich war.
Hinter der Theke bediente Doris, eine dralle Blondine mit künstlich blondem Wuschelkopf und extravaganten Fingernägeln, die sich in keinerlei Hinsicht mit seiner Ehefrau vergleichen ließ, wenn man davon absah, dass beide den gleichen Vornamen trugen. Bei sich nannte er sie „Eins" und „Eins a". Das war ihm irgendwann einmal nach dem siebten Bier eingefallen. Er war damals noch in der Versuchsphase gewesen und hatte diese Namensgebung fein doppelsinnig gefunden, was natürlich auch am Alkoholpegel gelegen haben konnte. Seine Ehefrau fand den Zustand, in dem er an diesem Tag nach Hause kam, weder fein- noch doppelsinnig, sondern schmiss ihn aus dem Bett.
„Eins a" meckerte nie und sagte auch sonst nicht sehr viel. Sie war immer freundlich, regte sich niemals auf, weder über ihn noch über andere Gäste, und bediente ihn mit allem, was sein Herz begehrte - wobei einschränkend angemerkt werden muss, dass er natürlich nicht alle seine Wünsche offen aussprach. Das wäre ihm zu peinlich gewesen. Im Grunde seines Herzens war Neumann ein schüchterner Mensch, insbesondere außerhalb des familiären und des nicht minder familiären universitären Rahmens. Beide Rahmen verließ er so gut wie nie, auch vor der Teilnahme an Tagungen, Kongressen und Symposien drückte er sich, so gut es in seiner Position möglich war.
Ohne den Zwischenfall bei der Silberhochzeit hätte sich Neumann niemals in das „Goldkehlchen" verirrt. Für seine Versuchsreihe bot diese Kneipe allerdings aus mehreren Gründen die optimalen Bedingungen:
1) Sie lag genau auf der Mitte seines Heimwegs, der eine Strecke von 2,8 km umspannte und damit per Rad oder zu Fuß besser zu bewältigen war als mit anderen Verkehrsmitteln. Dies ermöglichte ihm ein unauffälliges und gefahrloses Trinken an den beiden Wochentagen, an denen die spätere Heimkehr aus dem Institut seiner Frau deshalb nicht auffiel, weil sie selbst regelmäßig mit a) Pilates (an den Dienstagen) und b) mit ihrem Literaturkreis (an den Freitagen) beschäftigt war.
2) Er konnte sicher sein, dass weder Kollegen noch Gastwissenschaftler seines Fachbereiches, weder Familienangehörige noch private Bekannte sich ins „Goldkehlchen" verirren würden.
3) Doris stand hinter der Theke.
„Na, Professorchen", pflegte sie ihn beim Hereinkommen zu begrüßen, „wie immer?", und Neumann konnte sich darauf verlassen, dass er innerhalb von vier Minuten ein kühles, rotgolden gefülltes Bierglas vor sich haben würde. Das Anzapfen des ersten Bieres begleitete sein Ankommen in der schummerigen Gaststätte: Stammplatz an der Theke anpeilen, Aktentasche abstellen, Mantel aufhängen, dabei mit einem Nicken nach rechts und links grüßen, zurück zum Stammplatz, hinsetzen und dann, ahh…. die ersten Schlucke durch die Kehle gleiten lassen wie die Ankündigung eines wunderbaren Versprechens auf Vergessen.
„Na, noch eins?" Mit dieser Frage läutete „Eins a" stets das Anzapfen des zweiten Glases ein. Eigentlich war es eher ein Ritual, weniger eine Frage, denn Neumann hatte ihr Angebot noch nie verneint. Das zweite Bier baute die mentale Brücke von der Welt der Thermodynamik in die des „Goldkehlchens". Neumann vergaß, wen er im Alltag darstellte und wurde zum Mensch unter Menschen, nicht mehr von ihnen getrennt durch Herkunft, Status oder Bildungsstand, sondern mit ihnen verbunden in der existenziellen Einsamkeit menschlichen Daseins.
Ab dem dritten Bier wurde Neumann redselig. Er erzählte sich von der Seele, was ihn im Verlauf des Tages alles beschäftigt hatte und womit er seine Ehefrau nicht belasten konnte: die Querelen im Institut, der Stress mit den Doktoranden, die unverschämten Studenten, die zunehmenden Schwierigkeiten bei der Beschaffung von Drittmitteln, auch fachliche Probleme. Doris wirkte, als ob er ihr mit seinen Erzählungen eine große Freude mache. Das Glück, das er darüber empfand, hielt verlässlich bis zum fünften Bier an und hätte sich danach mit mehr als fünfzigprozentiger Wahrscheinlichkeit sogar gesteigert. Doch mehr zu trinken barg die Gefahr, dass seine Stimmung kippte. Dabei gab es drei Varianten, von denen ihm 3b die liebste war:
1) Er wurde melancholisch. Dann versiegte allmählich sein Gesprächsfluss, und er starrte in Erinnerung an unerfüllbare Wünsche wortlos auf die Theke.
2) Er wurde weinerlich. Dann plauderte er seine Wünsche und andere Intimitäten aus, und es konnte auch vorkommen, dass ihm Tränen über die Wange liefen, insbesondere, wenn Doris ihn lächelnd in seine Schranken wies.
3) Er wurde euphorisch. Dann hätte er am liebsten die ganze Welt umarmt und fing bei den Frauen in seiner Nähe schon einmal an. Dies hatte in der Regel folgende Wirkungen:
a) Die Wirkung auf unbekannte Frauen, die als Gäste die Kneipe besuchten, war unberechenbar, deshalb eröffnete diese Konstellation eine Vielzahl von Beobachtungsmöglichkeiten,
b) „Eins a" freute sich über seine gute Laune, legte eine Platte in der Musikbox auf und tanzte mit ihm durch die Kneipe.
In allen Fällen beschwerte sich seine Ehefrau beim Heimkommen über seine Fahne, machte ihm Vorwürfe, weil er getrunken hatte und schickte ihn zum Schlafen ins Gästezimmer. Um diese unerfreuliche Nebenwirkung zu vermeiden verzichtete er in der Regel auf eine Überschreitung des Normlevels.
Doch vor fünf Wochen, zu Beginn der Semesterferien, musste Nummer Eins unverhofft auf unabsehbar lange Zeit nach Konstanz fahren, um ihre kranke Mutter zu pflegen. Neumann war allein zu Haus. Keine Lehrverpflichtungen. Sturmfreie Bude. Er kam sich vor wie ein Pennäler, als hätte er das zuletzt vor fünfzig Jahren erlebt. Er war am Freitag wie immer ins „Goldkehlchen" gegangen, hatte, langsamer als sonst, seine Biere genossen, und zum ersten Mal in den acht Jahren hatte er sich die Zeit genommen, „Eins a" in Ruhe zu betrachten. Sie war nicht mehr jung, vielleicht vierzig. Sie war nicht im gängigen Sinne schön, lang nicht so faltenfrei und gepflegt wie die stets perfekte Nummer Eins. Sie erinnerte ihn an eine gealterte Judith auf dem Rubensbild: üppig, schön, geheimnisvoll. Nach dem dritten Bier trank er ausnahmsweise einen Korn. Danach überkam ihn fast augenblicklich das drängende Verlangen, ihre Brüste zu sehen, zu riechen, zu streicheln. Er wollte in dieser warmen weichen Pracht versinken wie ein Baby, dafür hätte er alles gegeben, seinen Ruf, sein Vermögen, seine Ehe, seine Ehre. Aber war nicht alles möglich, wenn er sich klug anstellte? Er nutzte den angetrunkenen Mut, um Doris einige persönliche Fragen zu stellen. Er wollte sie kennen lernen. Er erfuhr, dass sie das „Goldkehlchen" von ihrem Lebensgefährten übernommen hatte, als dieser in den Knast musste. Sie führte es weiter, um Ralle eine Einkommensbasis zu erhalten, wenn er in zwei Jahren entlassen würde. Nein, sie liebe ihn nicht mehr, die Beziehung sei vorbei, aber sie wolle niemanden hängenlassen. Und nein, ob sie dann in der Kneipe bleiben werde, das wisse sie noch nicht, Ralle sei kein einfacher Mensch. Sie hatte Friseurin gelernt, hatte einige Zeit in einem Callcenter gearbeitet, war auch fünf, sechs Jahre auf den Strich gegangen, fühlte sich dafür inzwischen aber zu alt. Irgendetwas würde sich sicher ergeben, zur Not wieder Callcenter, vielleicht auch Telefonsex, da käme es auf das Alter nicht so an.
Neumann gab sich große Mühe, seine Fassungslosigkeit zu verbergen, doch offenbar gelang ihm das nicht ganz. Doris stellte ihm ein neues Bier und einen weiteren Klaren vor die Nase. „Das geht aufs Haus, Professorchen, damit Du das alles verdauen kannst", sagte sie mit einem breiten Lächeln und strich ihm über die Wange. Er kippte den Korn hinunter, trank auch das Bier zügig aus und bestellte mit einem Nicken gleich die nächste Runde, und dann noch einige weitere, bis Doris begann, die Theke zu putzen und damit den Feierabend einläutete.
Als er am nächsten Morgen in ihrem Bett erwachte, einem ausladenden Bett in einem unordentlichen Schlafzimmer, konnte er sich weder daran erinnern, wie er dort hingekommen war, noch wusste er, was in der Nacht passiert war. Doris schlief noch. Sie sah nackt tatsächlich aus wie eine barocke Schönheit, üppig, warm, gemütlich und einladend, und Neumann musste sich sehr zusammenreißen, um sich nicht in sie hinein sinken zu lassen, in ihren Geruch, ihre Brüste, ihre Fülle, ihre Falten. Sie roch so gut, so nach Mensch und Frau und Leben… aber war es sein Leben, nach dem sie roch? Oder könnte es jemals sein Leben werden? Neumann blieb noch eine Weile regungslos liegen und betrachtete die schlafende Frau an seiner Seite. Doris atmete ruhig und tief, selbst im Schlaf schien sie zu lächeln. So viel Zufriedenheit hatte er an einem schlafenden Menschen noch niemals gesehen, so viel Wärme noch niemals gespürt wie bei dieser Barfrau, die hartgesottene Gemüter, vielleicht sogar seine Ehefrau, als „fette Schlampe" bezeichnet hätten. Neumann stand leise auf, klaubte seine Sachen aus dem Haufen, der neben dem Bett auf dem Fußboden lag, zog sich an und verließ die Wohnung, ohne dass Doris aufwachte. Bis zu seiner Villa am Stadtrand war es ein weiter Weg. Doch seine Hoffnung, dass die frische Luft ihm einen klaren Kopf verschaffen würde, erfüllte sich nicht. Er war zu weit gegangen, es gab keinen Weg zurück und sogar den Ausweg ins „Goldkehlchen" hatte er sich verbaut. Zu Hause kochte er sich einen starken Kaffee, er nahm eine Alka-Seltzer und ein heißes Bad, doch das half alles nichts: das Haus, das seine Ehefrau mit exzellentem Geschmack und viel Geld eingerichtet hatte, wirkte plötzlich genau so muffig und eng wie der Rest seines Lebens.
Wenn Neumann noch dazu in der Lage gewesen wäre hätte er den Beginn seines Abstiegs im Rahmen einer Versuchsreihe aufbauen und dokumentieren können. Doch dieses kontrollierte Verhalten ist für einen Alkoholiker im akuten Stadium natürlich eine Überforderung. Das akute Stadium stellte Neumann unmittelbar nach Verlassen der Badewanne mithilfe einiger Flaschen Rotwein her, und da er über einen großen und ausgezeichnet sortierten Weinkeller verfügte konnte er den Pegel kontinuierlich steigern, ohne das Haus zu verlassen. Neumanns Abstieg vollzog sich in Einsamkeit und Stille, bis zur Rückkehr seiner Ehefrau.
Danach wurde es etwas lauter.