Uta Schürmann: Rouge fatal
Ich spüre jeden Muskel, während ich meine Arme mechanisch bewege. Ein kleines Mädchen starrt mich an, es hat so etwas wohl noch nie gesehen. Alle anderen blättern gelangweilt in Zeitungen oder blicken hinaus, bemüht zu betonen, dass sie meiner Choreographie müde sind und das alles schon kennen. Eine weibliche Stimme erklärt, wo sich die Notausgänge befinden, und ich mache die typische Bewegung der Stewardess, Zeige- und Mittelfinger ausgestreckt, Oberarme locker am Körper, Unterarme zeigen synchron einmal nach vorne und dann zu den Seiten. Vor allem, als ich die Arme zur Seite strecke, schmerzen meine Muskeln. Offenbar habe ich gestern im Fitnessstudio an einem der Geräte die identische Bewegung ausgeführt. Während ich lächelnd durch den Gang laufe und auf die Schöße der Passagiere blicke, um ihre geschlossenen Gurte zu kontrollieren, fühle ich mich stark und mächtig in meinem Körper. Das ist neu. Normalerweise fühle ich mich unsicher und plump. „Spiel nicht schon wieder das Opfer", hat Matthias erst vor ein paar Tagen bemerkt, als ich sein Haus für den Besuch der Ehefrau räumte.
Er gabelte mich in einer Bar auf, in einem Hotel am Flughafen. Ausnahmsweise wechselte ich nicht sofort die Uniform gegen gewöhnliche Kleider, sondern setzte mich direkt an den Tresen, um mich voll laufen zu lassen. Heute wollte ich die Blicke provozieren, die meine Uniform immer hervorruft. So sah er mich. Ein unscheinbares Mädchen im Kostüm einer männlichen Sexphantasie, das einen Wodka Martini nach dem anderen kippte. Er trug natürlich seinen Ring. Er nimmt ihn niemals ab. Ich habe dieses Stück Metall schon überall auf und in meinem Körper gespürt, es im Mund gehabt und mir an seinem Finger sonst wo hin stecken lassen. Für ihn war es lächerlich einfach mich abzuschleppen. Er ist kultiviert, wohlhabend und dreißig Jahre älter als ich. Er ist die weibliche Phantasie des George Clooney. Da saßen wir, zwei Prototypen urbaner Erotik, und wussten schon beim ersten Wortwechsel, wo der Abend hinführen würde.
Später in der Umkleidekabine beobachte ich eine dicke Frau, die nackt neben mir steht. Sie hat geduscht und das Wasser tropft über die Wellen und Wülste ihres Körpers. Sie tupft sich mit ihrem Handtuch ab, das nichts bedeckt. Jede ihrer Gesten demonstriert, dass sie kein Problem mit ihrer Nacktheit hat. Ich werfe einen Blick in den Spiegel, während ich den Haken meines BHs schließe. Mit kaltem Blick analysiere ich meine Schwachstellen, kartographiere meinen eigenen Körper wie ein Landvermesser, prüfe die Erhebungen und Furchen, berechne, wie viel Masse abgebaut werden müsste. Fünf Kilo, um mehr Selbstachtung zu gewinnen. Zehn wären besser. Je dünner eine Frau ist, desto aufmerksamer wird sie von Männern behandelt. Absolut antifeministisch, aber es sind nun mal Tatsachen. Ich sehne mich nach diesem leichten, straffen Körper, der Zerbrechlichkeit ausstrahlen würde. Nach den Möglichkeiten, die er mir bieten würde. Nach der Liga, in die ich aufsteigen könnte.
Nach dem Training treffe ich Claudia. Wir sind seit Jahren befreundet, obwohl ich sie nicht ausstehen kann. Meine absolute Unfähigkeit, anderen Menschen meine Abneigung zu vermitteln, führt dazu, dass ich vielen eine wertvolle und zuverlässige Freundin bin. In einigen Wochen werde ich als Claudias Trauzeugin fungieren. Sie ist seit der Schulzeit mit Dirk zusammen, die Beiden haben bereits eine sechsjährige Tochter, was zweifellos ein Versehen und jedenfalls der einzige Bruch in ihrem bürgerlichen Lebensentwurf ist. Sie haben das arme Kind Cora Felicitas genannt, obwohl sie immer nur Urlaub in Dänemark machen und wirklich nichts Mediterranes an ihnen ist, solange man nicht ihre Stammpizzeria mitzählt, einen Laden mit karierten Tischtüchern in einem Nachkriegsbau, der die typische Bonner Kombination von italienischem und chinesischem Essen serviert. Claudia läuft mir entgegen, neben sich eine attraktive Frau unseren Alters, die ich noch nie gesehen habe und die, während sie die Straße hinunter geht, einige Blicke auf sich zieht. Sie ist völlig overdressed, offenbar absichtlich. Sie wird mir als Dirks Cousine Sophie aus Berlin vorgestellt, eine Facette in Dirks Familienbiographie, über die ich nur staunen kann. Claudia scheint sie richtig zu hassen. Diese Ahnung bestätigt sich, als wir vor Rossmann auf die flotte Cousine warten, die sich rasch ein paar frische Nylonstrümpfe kaufen muss. „Soweit man weiß, ist die ein richtiges Flittchen", raunt Claudia mir zu und kneift die Lippen zusammen. Ich schließe Sophie spontan in mein Herz.
Matthias ist Professor in Bonn, seine Frau lebt in München. An den Wochenenden besucht sie ihn. Unter der Woche führen wir unser Parallelleben, seit mittlerweile fünf Jahren. Am Anfang öffnete sich mir eine neue Welt. Ich lernte gutbürgerlich zu kochen, mich erwachsen zu kleiden und gewöhnte mich an die weltmännischen Aufmerksamkeiten eines älteren Mannes. Ich begann Dinge, die mir vorher als Requisiten eines Hollywoodstars erschienen waren, mit Selbstverständlichkeit in Besitz zu nehmen und mich mit ihnen zu umgeben. Mein Schlafzimmer sieht aus wie die Garderobe eines burlesken Nachtclubs, es ist voller Netzstrümpfe, Flakons, Negligees, Kristallspiegel und weißer Lilien. Meinen Freundinnen fiel der neue Stil natürlich auf, aber sie hielten es für eine Attitüde des Jet Sets, zu dem sie mich als Stewardess zählten. Fast niemand wusste von den schlaflosen Nächten, in denen er mich stöhnend an Wände drückte, und niemand weiß von den heutigen schlaflosen Nächten, in denen ich mir Vorwürfe mache, weil ich den Tafelspitz zubereitet habe, obwohl er mir immer wieder voller Wut auseinandersetzt, dass er alt wird und nicht mehr schwer essen kann.
Der Mädelsabend anlässlich Claudias anstehender Hochzeit findet in einem spanischen Restaurant statt, das mit Klinkerwänden, an denen Schinken hängen, wenigstens so exotisch wie Fuerteventura ist. An den meisten Tischen sitzen Paare, uns hat man an einer Tafel im Zentrum des Raums platziert. Es ist ein Ritual, das man als Frau zu lieben hat. Endlich offen über Männer sprechen, kichernd Prosecco trinken, ständig darauf anstoßen, wie fabelhaft wir sind. Noch lauter werden, wenn die Männer an den anderen Tischen genervt hinüberblicken. Mit den Jahren hat sich etwas verschoben. Manche machen witzige Kommentare zu ihren Ehemännern, denen die Eingeweihten lachend zustimmen. Die Alleinstehenden produzieren sich als sexuell erfolgreich, während eine weitere Gruppe ihr Elend auf der Welt beklagt und schwört demnächst Nonne zu werden. Die feinen Hierarchiegespinste der Frauen durchziehen unser aufgesetzt fröhliches Tischgespräch. Da keiner von meiner Beziehung weiß, sitze ich in dieser Runde am untersten Ende der Nahrungskette, als keusche Untertanin der Braut, die heute den Triumph der unumstößlichen Stabilität ihrer Beziehung feiert. Sophie sitzt am anderen Ende des Tisches und gibt sich nicht die geringste Mühe zu verbergen, wie gelangweilt sie von der ganzen Veranstaltung ist. Die anderen Frauen haben sich längst gegen sie verbündet, sie misstrauen ihr, weil sie nicht klar einzuordnen ist, sie ist unsicheres Terrain, das friendly fire an der Tapas Bar. Nur ich grinse ihr zu.
Vor etwa einem Jahr meldete ich mich zum Online Dating an. Ich kämpfte lange mit mir, nicht wegen des Treuebruchs, sondern aufgrund meines Stolzes. Schließlich war ich die Geliebte eines Professors, und jetzt sollte ich mich selbst anpreisen, um mich mit irgendwelchen geringeren Akademikern zu verabreden. Ich traf ein paar Männer, mit zwei oder drei von ihnen schlief ich. Einer hatte eine Katze, die neben uns auf dem Bett saß und mich anstarrte, während er auf mir lag. Hätte nur noch gefehlt, dass sie mir sein Sperma von meinem Bauch geleckt hätte. Ich schüttle mich bei dem Gedanken daran und rühre weiter in einem Topf, der auf dem Induktionsherd in Matthias’ Designerküche steht. Es ist Montag, der Wochentag, an dem ich mein Revier zurückerobere. Wie immer inspiziere ich die Spuren, die seine Frau hinterlassen hat. Es gibt einen Schrank, den nur wir beide öffnen. In ihm liegen die elaborierten Zutaten und Küchengeräte, mit denen er nichts anzufangen wüsste. Sie hat neue Lesezeichen in den Zettelkasten mit ihren Rezepten gelegt, langsam blättere ich alles durch. Offenbar gab es Wild mit einer speziellen Rotweinsauce, das hat ihn bestimmt zu langen Vorträgen über zu fettes Essen provoziert. Ich streiche über die kleinen Blätter, die sie vor weniger als vierundzwanzig Stunden berührt hat. Dann ziehe ich behutsam jedes einzelne Lesezeichen heraus und stecke sie danach allesamt an andere Stellen. Das mache ich jeden Montag. Am Freitag lege ich dann jeden Zettel wieder zurück an seinen alten Platz. Ich warte auf den Tag, an dem ich den Mut haben werde, ihr diese Zeichen zu hinterlassen.
Später in dieser Woche begleiten Sophie und ich Claudia und Cora Felicitas auf den Spielplatz. Sophie sitzt in einem schwarzen Etuikleid, sehr hohen Pumps und einer riesigen Sonnenbrille auf einer Bank, mit einem doppelten Caffé Latte to go in der Hand, und lächelt über die befremdeten Blicke der Mütter. Die sitzen wie Legehennen im Sandkasten und unterhalten sich miteinander, während ihre Augen die ganze Zeit den Kindern folgen. Auf weiter entfernten Bänken hängen gelangweilt die Au Pairs in Leggins, ununterbrochen am Telefon sprechend. Sie gehören nicht zum inneren Zirkel der Hennen, genauso wenig wie Sophie und ich, weshalb wir jetzt als Hohn und Spott auf unserer Bank sitzen und genussvoll über die anderen Frauen lästern. Eine Woge der Zuneigung erfasst mich, wenn ich Sophie ansehe. Claudia sitzt verhalten neben uns und lächelt immer wieder zur Sandkastengruppe hinüber. Sie kennt die Namen der meisten Spielplatzkinder, aber keinen einzigen Namen der jeweiligen Mütter. Auch sie ist für die anderen hier eine namenlose Gebärmaschine, ein still sorgender Schatten der Gesellschaft kleiner Menschen. Ein Mädchen redet mit Nachdruck auf Cora Felicitas ein. Beide tragen glitzernde Haarreifen und frauenhaft geschnittene Blusen. Sie agieren mit dieser affektiert erwachsenen Gestik und sprechen mit erhobener Stimme altkluge Sätze, wie es Mädchen dieses Alters oft tun. „Schon ganz die Mamas", murmelt Sophie.
Am Freitag beschließe ich, die Lesezeichen im Zettelkasten nicht zurück zu legen. Im Badezimmer kämme ich mir mit ihrer Bürste mein Haar, bis zwischen ihren dunklen einige meiner blonden Haare stecken. Im Schlafzimmer besprühe ich ein Kopfkissen mit meinem Parfum. Ich ziehe die Decke zurück und betrachte die offensichtlichen Flecken auf den Laken. Er wechselt nie die Bettwäsche, bevor sie kommt.
Am Wochenende lenke ich mich mit exzessivem Training ab. Ich kämpfe immer noch gegen meinen Körper, aber es gibt jetzt zunehmend Augenblicke, in denen wir zusammengehören. Danach lege ich mich auf die Sonnenterrasse, zu all den anderen nackten Frauen. Einige betrachten unter halbgeöffneten Lidern, wie ich mir das Handtuch vom Körper ziehe und es auf einer Liege ausbreite. Es herrscht schläfrige Ruhe, Gesichter sind dick mit Cremes bedeckt, nasse Haare trocknen in der Sonne, Schenkel glänzen von Sonnenöl. Überall sehe ich die Abdrücke von Bügel-BHs auf der Haut. Mit dem Gefühl von Intimität schließe ich die Augen.
Sie hat alle Haare aus der Bürste entfernt und jeden einzelnen Zettel wieder zurückgelegt. Sie hat alle Spuren verwischt. Und damit gleichzeitig meine Präsenz bezeugt. „Hast du das Kopfkissen absichtlich mit deinem Parfum voll gesprüht?" fragt mich Matthias, „das Schlafzimmer hat das ganze Wochenende danach gerochen." Betont ruhig lackiere ich meine Fingernägel und schüttle den Kopf. „Ist eben ein ziemlich schweres Parfum, und ich hab schließlich jede Nacht hier geschlafen, da riecht das Bettzeug dann eben danach. Vielleicht solltest du es einfach wechseln, bevor deine Frau kommt." Ich hole einmal Luft. „Oder willst du sie damit provozieren? Sie weiß doch bestimmt schon längst von uns." Er reagiert panisch, wie immer in dieser Sache. „Niemals darf sie davon erfahren! Und sie weiß auch nichts!" Ich denke an die Flecken auf den Laken und lächele. „Natürlich nicht." Ich schwenke meine Hände leicht in der Luft, um die Nägel trocknen zu lassen, und werfe ihm den einen tiefen Blick zu, der immer funktioniert. Er nähert sich mir und legt seine Hände auf meine Hüften, streicht einmal leicht darüber, bevor er fest zupackt und mich ins Schlafzimmer schiebt. Er presst mich an die Wand und drängt meine Beine auseinander. Ich gehe darauf ein, während ich in aller Seelenruhe meine feuchten Fingernägel an die Tapete drücke. Genau dort, wo die Nachttischlampe ihren hellsten Schein wirft, leuchten meine roten Abdrücke, Chanel, Farbe Rouge Fatal. In den nächsten Wochen spiele ich CSI, anders herum: Ich fingiere Spuren überall im Haus. Die Herausforderung dabei ist, dass es nur Zeichen sein dürfen, die ausschließlich sie lesen kann. Ich beginne, die Dinge des Alltags in weiblich und männlich aufzuteilen und bemerke erst jetzt, wie viel mehr als bloß einen Mann sie und ich uns teilen. Ich versehe ihren metallischen Fön mit gut sichtbaren Fingerabdrücken und lege ihn in eine andere Schublade. Ich benutze ein paar ihrer Abschminktücher. Ich lege eine Zitrone, der ich die Haut abgezogen habe, ins Gemüsefach. Ich vertausche die Feilen in ihrem Necessaire. Mit der Zeit werde ich dreister. Ich hinterlasse Abdrücke meines Lippenstifts am Zahnputzbecher. Haare auf dem Kopfkissen. Vertausche einige ihrer Tampons mit einigen einer anderen Marke. Und sortiere jede Woche ihre Rezepte neu, nach immer abwegigeren Systemen. Nach den Wochenenden kontrolliere ich, schmerzhaft erregt, jede einzige Stelle und bewundere die Akribie, mit der sie noch die kleinste Spur entdeckt und entfernt hat. Die Zeichen werden mein dringlichstes Interesse, sie sind die Marksteine innerhalb meiner Routine der dämmrigen Gänge in den Flugzeugen, der anonymen Flughäfen, der monotonen Bewegungen an den Fitnessgeräten und der gesichtslosen Orte, an denen die Feierlichkeiten um Claudias Hochzeit stattfinden. Jede Spur ist Teil einer unbestimmten Sehnsucht, die verzweifelte Suche nach einer Botschaft, die mich irgendwie retten könnte. Und eines Tages ist sie da, diese Botschaft, so dermaßen unerwartet und plump in ihrer Art, dass ich mir zunächst einrede, es müsse sich um ein Versehen handeln. Aber es besteht kein Zweifel. Mitten in ihrem Rezeptkasten, zwischen den Anleitungen für Tafelspitz und Schupfnudeln, liegt ein Zugticket nach München und ihre Visitenkarte, die sie mit einer Büroklammer daran befestigt hat.
Ich fahre also hin. Im Zug beobachte ich ein kleines Mädchen, das die Schaffnerin in ihrer Uniform anstarrt, und muss lächeln. Lange stehe ich dann vor ihrem großen Haus. Sie hat mich sicher bereits durchs Fenster gesehen, aber lässt mir die Zeit, die ich brauche. Fünf Jahre waren es schon. Endlich klingle ich an ihrer Tür. Sie öffnet. Alles, was ich in diesem Moment begreife, ist: Sie sieht genauso aus wie ich, nur älter. Das gleiche unscheinbare Gesicht, die gleichen betont weiblichen Accessoires und Kleider einer Professorengattin. Dieselbe Frau. Die Frau, nach der ich mich gesehnt habe, diese Frau kannte ich schon längst.