Andreas Kurz: Männer im Mond
Nur sehr selten war das Wohnzimmer meiner Eltern so bevölkert gewesen wie an jenem Abend. Theo, mein älterer Bruder hatte gerade nichts zu tun, hing verkrümmt wie ein Schwerverletzter im Sofa, hatte den Reißverschluss seines fleckigen Overalls bis über den Bauch geöffnet und ließ einen Urwald an Haaren herausquellen. Neben ihm hatte es sich Rosemarie, „das Rosl“, wie alle nur zu ihr sagten, bequem gemacht, ihre blanken schönen Beine wie Trophäen aus einem kurzen Rock von sich streckend, eine Tasse Kaba in der Hand, ihr Lieblingsgetränk. Das Rosl war seit kurzem meine Schwägerin und ich mochte sie, weil sie so herrlich ordinär sein konnte, ein Zustand, der mir fehlte und nach dem ich mich sehnte, schien es doch das ersehnte Tor hinaus aus drückender Langeweile zu sein. Ich war gerade vierzehn geworden und der Tumult in meiner Hose war aufregend, aber auch sehr verwirrend. Oft hatte ich das Gefühl, von einer fremden Macht ferngesteuert zu werden, einer Macht, die mir Befehle gab und mich zwang, unaufhörlich an Dinge zu denken, die wenig mit meinem gewohnten Leben zu tun hatten, dafür umso mehr mit dem Dschungel, aus dem wir alle entstammten. Die Nachbarn waren da, Herr und Frau Berthold, beide hager wie Hungerkünstler und mit Stimmen zarter als ein Windhauch in der blauen Abenddämmerung, wie meine Schwester es mal ausdrückte in ihrer Deutscheinser-Art, mit der sie sonst ziemlich nerven konnte. Bertholds hatten wie so oft die alte Paula mitgebracht, die sonst keiner mochte und der man sich doch annehmen musste, schon aus christlicher Nächstenliebe, sie hatte ja niemanden mehr, seit ihr Mann in Russland geblieben war, vor hundert Jahren, wie mir schien, und die jetzt mit dem gleichen verständnislosen Gesichtsausdruck in den Fernseher glotzte wie unser stinkender Hund, der es sich davor auf dem Teppich bequem gemacht hatte.
Mein Vater kam rein und murmelte so etwas wie Sans oben?, worauf aber keiner antwortete, ja sich nicht mal ein Kopf drehte, weil sie ja schon eine ganze Weile oben waren und jetzt der Sand dran war, die Bodenproben und das ganze wissenschaftliche Zeug. Er verschwand durch die Tür in das kleine Nebenzimmer, wo er oft saß und zum Fenster hinausblickte, was ich kaum ertragen konnte, wenn ich es bemerkte, denn mein Vater stand doch irgendwie für das, was mich mal in Zukunft erwarten würde, und ich wollte nicht einer sein, der zum Fenster hinausblickte und den anderen bei ihrem Leben zusah. Mein Vater war früh in Rente gegangen, seine Kriegsverletzungen machten ihm zu schaffen, der Durchschuss im rechten Bein und die Splitter in der Brust, vom Russki abgefeuert und von meinem Vater irgendwo in der torfigen Unendlichkeit inmitten Tausender Birken eingefangen. Mein Vater sprach eigentlich nie darüber, und wenn, dann unterbrach ihn meine Mutter und sagte, dass man endlich seinen Frieden damit machen müsse. Jetzt kam meine Mutter ins Zimmer und eilte gleich wieder hinaus, die vielen Leute brachten sie durcheinander, sie wollte es jedem recht machen, fragte immer wieder, ob etwas fehlen würde, auch wenn niemand etwas forderte oder wollte, erhielt aber meist keine Antwort. Auch jetzt sprach sie mit sich selbst, sagte, dass es gut wäre, wenn alle versorgt seien, versuchte auch noch zu lächeln, was nicht ihre große Stärke war, entschwand wieder nach draußen in die Küche, und ich denke mal, sie hat sich kein bisschen für das interessiert, was da im Fernsehen zu bestaunen war, Menschen auf dem Mond, ungeheuerlich. Da sprang ein seltsam schwereloses Männlein im aufgeplusterten weißen Raumanzug herum, die ganze blaue Erdkugel spiegelte sich winzigklein in seinem nachtschwarzen Helmvisier und der Boden unter seinen Füßen war nicht unsere Welt, sondern eine andere treibende Kugel, durch so etwas Unbegreifliches wie Vakuum und Schwerelosigkeit von uns getrennt.
Herr Berthold mit dem Knochengesicht eines unheilbar Kranken, murmelte etwas von der Hybris der Menschheit, ein Wort, das ich damals nicht verstand und es für etwas Technisches hielt. Er redete wie einer, der unser aller Schicksal genau kennen würde und nur seine Frau stimmte ihm zu. Sie gehörten irgendeiner christlichen Pfingstgemeinde an, die keine richtige Kirche mit Turm und Schiff und Holzbänken hatte, sondern nur einen gemieteten Saal im Gemeindezentrum, wo sie ihre Zeremonien abhielten, und sie taten mir leid dafür. Wenn schon in einer Sekte, dachte ich mir damals, dann sollte diese wenigstens nackte Mädchen auf einem Altar mit warmen Öl übergießen oder etwas in dieser Art. Das hätte sogar mich dazu gebracht hinzugehen. Wegen ihrem Glauben besaßen sie wohl auch keinen eigenen Fernsehapparat und mussten zu den Sündern hinüber gehen, wie ich mir scherzhaft ausmalte, denn ich war mir sicher, dass sie uns hinter verschlossenen Türen so nannten, wir waren jene, die am jüngsten Tag von einem zornigen Gott aussortiert würden und nicht bis in alle Ewigkeit weiterleben und beten müssten wie sie.
Frau Memlinger kam rein, die Nachbarin von vis-a-vis, mit der meine Mutter die meisten Nachmittage verbrachte, Kaffee trinkend, Kuchen essend, sich weiß Gott was erzählend, ich wollte es nie wissen. Sie musterte uns streng, musterte das dick gepolsterte weiße Männchen im Fernseher und murmelte Nausgeschmissenes Geld, bevor sie zu meiner Mutter in die Küche ging und ganz bestimmt nicht über den Mond sprach, sondern über irgendwelche Leute aus dem Ort, für die sich außer ihr keiner interessierte.
Obwohl die Fenster geöffnet waren, stand die Luft im Raum und der Zigarettenrauch trieb als zäher Nebel knapp unter der Decke. Immer wieder rumpelte ein Laster vorbei, toste durch das Zimmer, um sofort von der nächsten Kurve verschluckt zu werden. Unser Haus stand an der Hauptstrasse und seine Fassade war so grau wie der verwirbelte Schmutz der Fernlaster an ihrem Heck. Es hatte ein Dach gegen den Regen und ein paar kleine Fenster, damit etwas Licht in sein Inneres fallen konnte. Es sollte uns alle hier vor dem Wetter und dem Winter schützen und es machte das ganz passabel, wenn man nicht mehr als eben das von einem Haus erwartete. An der Rückseite gab es Garagen, einen gepflasterten Hof und etwas Garten mit Apfelbäumen, deren Äste sich wie die Arme von Verzweifelten reckten.
Im Flur klingelte das Telefon, meine Mutter nahm ab und man konnte hören, wie sie sagte, dass sie Theo gleich schicken würde. Sie gab meinem Bruder einen Zettel mit der Adresse darauf und der Marke des Wagens. Er sollte gleich losfahren, forderte sie ihn auf, das Geschäft ginge schließlich vor und das da, sie deutete auf den Fernseher, seufzte und winkte ab. Theo lächelte, und ich wusste, er lächelte über unsere Mutter, die mir oft seltsam vorkam, weil sie vom Leben nichts zu erwarten schien, außer dass es am Morgen eines jeden Tages hell und am Abend wieder dunkel wurde.
Ein Opel Olympia-Rekord, sagte Theo zu seiner Frau, an der Straße nach Unterbrunn. Warum er das ausgerechnet zu ihr sagte, die sich nicht die Bohne für seinen Beruf interessierte, wunderte mich, vielleicht weil es auf dem Zettel stand. Das Rosl legte die Trophäenbeine andersherum übereinander, und Theo quälte sich vom Sofa hoch, stellte die Bierflasche seitlich auf den Blumentisch neben die kupferne Gießkanne und sagte zu mir, bei nem alten Oly wäre es sicher der Verteilerfinger. Oder kein Benzin. Um auch etwas zu sagen, meinte ich großspurig, ich würde auf die Batterie tippen. Aber ich wusste es natürlich nicht, es konnten genauso gut hundert andere Dinge kaputtgegangen sein. Wir wetteten um ein Bier. Natürlich begleitete ich meinen Bruder, das tat ich oft. Er durfte das machen, was ich mir für mich gewünscht hätte statt in diese Schule gehen zu müssen mit ihren hallenden Fluren und dem Geruch von Bohnerwachs. Dann schon lieber Autos reparieren, den Abschleppwagen fahren, die Tankstelle führen, das hätte mir damals gefallen.
Wir setzten uns in den gelben Hanomag und brausten los. Theo zündete sich eine Roth-Händle an und ich beneidete ihn. Nachher würde er zum Rosl ins Bett steigen, es wäre ein guter Tag gewesen, ihre Beine würden ihm gehören, und ich hatte noch keine Vorstellung von dem, was sonst noch so ablief. Aber ich stellte es mir aufregend vor.
„Mondlandung, was?“, sagte er und pfiff durch die Zähne.
Ich sah ihn von der Seite an und grinste.
„Yeah!“, sagte ich.
Der Opel parkte etwas unbeholfen schräg am Fahrbandrand, das Heck mit den spitzen Ecken ragte in die Fahrbahn, die Motorhaube war geöffnet wie das Maul eines toten Fisches, der an den Strand gespült worden war. Eine sehr schlanke junge Frau saß etwas abseits auf einer Decke im Gras und ich spürte genau wie mein Bruder, dass sie etwas besonderes war, nicht wie die anderen hier aus dem Ort. Der Wagen hatte ein Berliner Kennzeichen und das sah man äußerst selten, lag diese Stadt doch wie eine Insel mitten in der Zone, also dort, wo sie nichts hatten, wie ich mir manchmal vorstellte, wenn meine Mutter Post von ihren fernen Verwandten aus einem Kaff namens Weißwasser bekam. Wir stiegen aus und gaben die Lässigen. Mein Bruder spannte seine Muskeln und ich alles mögliche, was sich in meinem Körper anspannen ließ. Es war ziemlich viel. Die junge Frau stand nicht sofort auf, als sie uns sah, sie schien auch weder aufgeregt noch besorgt zu sein. Es war ein ungewöhnlich warmer Sommerabend und richtig dunkel war es noch nicht. Sie trug ein orangefarbenes Kleid aus Frotteestoff, sehr gerade geschnitten, ärmellos und so kurz, dass es schwer für mich wurde, an etwas anderes zu denken als an jene dunkle Gegend, in der ihre Beine endeten. Ich wusste, dass mein Bruder dasselbe fühlte, obwohl er ähnliche Beine zu Hause hatte, vielleicht einen Tick kräftiger, bäuerlicher. Ihre Stimme war leise, mehr ein Flüstern und dennoch verriet sie großes Selbstvertrauen. Sie duzte uns gleich, behandelte uns wie Freunde, sagte, sie hieße Tatjana und wollte eigentlich nach Garmisch. Der Wagen passte überhaupt nicht zu ihr, ein spießiges Opa-Auto. Sie hätte viel besser in einen kleinen Fiat Spider gepasst, mit Mühe vielleicht noch in einen VW Karmann Ghia. Im Inneren ihres Wagens herrschte weibliches Chaos mit Tüchern, Deckchen und irgendwelchen Fummeln, deren Sinn sich immer erst erschloss, wenn eine Frau es sich entsprechend kunstvoll umbinden oder überstreifen konnte. Aber ich wäre sofort bei ihr eingestiegen und mit ihr davon gebraust, wenn sie mich gefragt hätte, ohne mit der Wimper zu zucken und ohne mich noch einmal umzudrehen.
Mein Bruder wollte wissen, wo es fehlte und sie zog nur gleichgültig die schmalen Großstadtschultern hoch, was ihren Rock noch ein wenig weiter nach oben rutschen ließ und meinen Mund so trocken machte wie die Mondoberfläche, die ich die vergangenen Stunden ehrfürchtig angeglotzt hatte. Theo probierte den Anlasser, der schnurrte fröhlich los, worauf er mich angrinste und sagte, ich schulde ihm ein Bier. Der Motor sprang aber nicht an. Theo zog die Benzinleitung am Vergaser ab und ich durfte mich hineinsetzen und starten. Im Wagen roch es betäubend nach ihrem Parfum und noch etwas anderem, dunklerem, was es für mich schwer machte, auch nur diesen läppischen Schlüssel herumzudrehen. Das Benzin spritzte aus der Leitung über den Kotflügel hinweg auf die Straße. Benzinmangel sei es also nicht, meinte mein Bruder ohne die Frau aus den Augen zu lassen. Sie stand nur so da, ungeheuer entspannt, fast gleichgültig, als wäre es ihr egal. Heute würde ich vermuten, dass sie zugedröhnt war, stoned, aber damals kannte ich nur besoffene Männer und aus den Fugen geratene Frauen, Drogen hatten unser Nest noch nicht erreicht gehabt, wer ein Haschbruder oder ähnliches werden wollte, musste seinen Hintern schon in die nächste Großstadt bewegen, wenigstens bis nach München.
Theo deutete nach oben, mitten in die klare heraufziehende Nacht und zum Himmel, der nur zögerlich seine Grenzenlosigkeit preisgeben wollte. Triumphierend hielt er den Verteilerfinger hoch und meinte, dass es doch seltsam wäre, so nen beschissenen Finger brächten sie nicht hin, aber zum Mond fliegen könnten sie. Tatjana lächelte ihn an und ich spürte, wie er unsicher wurde, denn ihr Lächeln trug keine Spur Bewunderung in sich, sondern hatte eher etwas nachsichtiges, als würden Eltern das nichtsnutzige Gebrabbel ihres Kindes würdigen. Aus den Augenwinkeln betrachtete ich ihre Wuschelhaare, die Sommersprossen auf den Wangenknochen, die Arme ohne jeden sichtbaren Muskel nur straff, glatt, weiß. Sie war schon so etwas wie ein Hippie-Mädchen. Mit ihr konnte man vielleicht ins Bett steigen und Spaß haben, aber eine wie sie blieb nicht bei dir, blieb bei keinem, gehörte zu niemanden, war morgen wieder fort. Brauchte vor allem keinen von uns.
Wir hängten den Opel hinten an die Kette, eine alte Matratze schützte die Stoßstange vor Kratzern. Die meisten Fahrer konnten den Anblick ihres hilflos am Haken baumelnden Wagens kaum ertragen, Tatjana hätte wohl nicht mal mit den Augen gezuckt, wenn ein Greifarm ins Dach gefahren wäre und das Ding, das mal ihr Auto gewesen war, in die nächste Schrottpresse befördert hätte. Sie saß neben mir vorne im Hanomag und ich spürte, wie sich in meinem Bruder etwas veränderte, was alles in Frage stellte und nur mit ihr zu tun hatte, ihrer Art sich zu geben und mit uns zu sprechen. Sie schien irgendwie alles in Frage zu stellen, was unser Leben war. Plötzlich schämte ich mich dafür, stolz darauf gewesen zu sein, in diesem Abschleppwagen sitzen zu dürfen und über die leeren nächtlichen Landstraßen zu brausen.
Mein Bruder fragte sie, wo sie die Nacht über bleiben wolle und sie antwortete ihm mit ihrer leisen, aufreizenden Stimme, dass sie keine Ahnung hätte und sich schon etwas ergeben würde. Es klang wie eine Einladung, sie einfach mitzunehmen. Ich musste an unserem staubgrauen Haus aussteigen und sollte ausrichten, dass er sich noch einen Wagen vornähme, der Kunde sei schließlich König. Ich sah die beiden davonbrausen, der alte Olympia schlingerte wie ein toter Fisch am Haken hinterher. Im Wohnzimmer hockte noch immer die alte Besetzung, Bertholds tranken Tee, die alte Paula hatte sich vom Fernseher weggedreht und betrachtete die Blumen am Fenster oder auch nur ihre dicke Knubbelnase.
Auf dem Mond wurden Bodenproben genommen und wenn sich die Astronauten unterhielten, piepte es. Ich sagte in die Runde, dass sich Theo noch einen Wagen vorknöpfen wollte und fand, dass das ziemlich doppeldeutig klang. Es interessierte noch nicht mal das Rosl. Gegen Tatjana sah sie für mich jetzt aus wie die Landpomeranze, die sie ja war. Sie hatte ein leeres, junges, gelangweiltes Gesicht, in dem es kein Geheimnis zu geben schien. Unser Wohnzimmer schien mir plötzlich sehr eng geworden.
Zum ersten Mal stellte ich mich zu meinem Vater ans Fenster im Nebenraum, und gemeinsam sahen wir den Fernlastern hinterher, die die Straße runter zur Autobahn rollten.
„Sans also tatsächlich oben?“, meinte mein Vater, die Unterarme am Fensterbrett ins Kissen gedrückt wie eine dösende Katze. Dabei sah er noch nicht einmal zum Himmel, sondern ließ den Kopf gesenkt.
„Ja“, sagte ich.
Das grelle Licht der Tankstelle glühte wie eine Raumstation herüber. Der Abschleppwagen parkte an der Seite vor der Halle. Der Opel hing am Haken und niemand kümmerte sich um ihn. Mein Bruder hatte sicher einen neuen Verteilerfinger dabei gehabt, jede Wette. Es wäre eine Kleinigkeit gewesen, ihn einzubauen und die Karre wieder zum Laufen zu bringen. Tatjana hätte ihn angelächelt und wäre in der Nacht verschwunden. Ein unerträglicher Gedanke. Ich sagte zu meinem Vater, dass die Mama gemeint hatte, für so einen Schmarren hätten’s Geld, aber für was anderes nicht.
„Für an Schmarren hams immer a Geld“, sagte mein Vater und wahrscheinlich tat ihm in diesem Moment irgendwas in seinem Inneren ziemlich weh.