Waltraud Bondiek: Schatten und Risse
Es ist die zweite Zigarette, die sich Ursula an diesem 19. Juli 1952 auf der Fensterbank dreht. Die Packung Feinschnitt geht zu Ende. Die krausen, honigblonden Fäden, die sie in das weiße Blättchen rollt, sind eine Sparportion. Mit der Zungenspitze fährt sie über den Kleberand des Papiers, schließt die Naht, stößt die Enden der Zigarette auf, gibt sich Feuer, raucht. Eine solche Zigarette ist kein Vergleich mit dem, was sie in russischer Gefangenschaft qualmten: Machorka, ein graugrünes, grob gehacktes Zeug voller Blattstiele, ein Männertabak, stark und bitter. Er prügelte die Lungen und den Hunger aus dem Fleisch. Buchseiten, alte Passierscheine, die Prawda, jedes Papier war ihnen Zigarettenpapier. Sie setzt sich. Konrads Brief mag sie nicht einfach aufreißen, sie schlitzt das Kuvert mit der Nagelfeile auf. Als sie den Briefbogen auseinanderfaltet, fällt ihr ein Pappkärtchen entgegen: eine Fahrkarte. Sie dreht sich zum Licht.
Liebe Ursula!
Entschuldige bitte, dass ich mich erst jetzt bei Dir melde. Habe Dich nicht vergessen, im Gegenteil. Die Freiheit hat mich besoffen gemacht. Bin wochenlang nur in der Stadt umhergelaufen. Freiheit, Inbegriff meiner Sehnsucht, das musst du ja erst begreifen. Habe die ersten Nächte unter Brücken geschlafen (Wände hätte ich nicht ertragen). Als Heimkehrer (was für ein Wort für einen, der Heimat und Angehörige verloren hat) weißt du ja nicht wohin. Nach den Brückennächten Gemeinschaftsunterkunft im Männerwohnheim. Lag zwischendurch im Lazarett (die Verwundung, du weißt). Bin leidlich wiederhergestellt und inzwischen ein komfortabler Untermieter (Waschbecken im Zimmer). Habe großes Glück gehabt, denn das Rheinland platzt vor Flüchtlingen aus allen Nähten.
Ich möchte Dich wiedersehen. Die beigefügte Fahrkarte ist einen Monat gültig (kann Dir leider nur die 3. Klasse bieten). Sollte Dein Interesse nach all den Wochen in eine andere Richtung gehen, schick sie einfach zurück. Dann weiß ich Bescheid. Und nun das Wichtigste: ICH HABE ARBEIT und bin in der Lage, eine Frau zu ernähren. Wie geht es dir? Wie kommst Du mit dem neuen Leben zurecht? Ist es bei Euch auch so heiß? Über ein paar Zeilen von Dir…
Von Braunschweig nach Düsseldorf ist es eine Tagesreise. Seit fünf Uhr ist sie jetzt unterwegs und teilt sich eine Holzbank mit immer neuen Menschen. Sie steigen ein und aus, machen sich breit, machen sich dünn, machen Platz für Schwangere, für Männer, die sie „Opa" nennen. Sie reisen mit Kisten, Kästen, Kartons und kläffenden Hunden. „Köter" schimpft einer, „Töle" ein anderer. Sie haben Taschen und Kinder auf dem Schoß, stöhnen über die Hitze und kommen ins Gespräch. Zu Hochzeiten und Beerdigungen wollen sie, suchen Arbeit, haben Sorgen, Krankheiten, irgendwie den Krieg überlebt. Sie beißen in Stullen und packen Bouletten aus, schieben die Fenster nach unten wegen der stickigen Luft, schieben sie wieder hoch, weil rußiger Lokomotivdampf ins Innere zieht; rauf und runter schieben sie die Fenster, werfen Tüten, Papier, abgekaute Äpfel nach draußen.
Ursula kommt sich wie eine Dame vor. Sie reist in einem dunkelblauen, weiß getupften Sommerkleid. Mit dem armseligen Stück aus der Kleiderkammer im Durchgangslager hat es keine Ähnlichkeit mehr – so wenig Ähnlichkeit wie sie mit sich selbst, der jungen Frau, die im Februar 1945 von der Roten Armee aus Ostpreußen verschleppt wurde, in den Ural, nach Sibirien, ans Ende der Welt. „Ein Fummel", meinte Erika, ihre Bekannte, nachdem sie den Saum gekürzt, den Ausschnitt erweitert, die Ärmel herausgetrennt hatte. Das Kleid sitzt gut, der Rock macht einen schönen Gang. Ihr Blick geht zu dem schweinsledernen Köfferchen im Gepäcknetz. Erika hat es ihr geliehen. Wie froh sie ist, nicht mit dem Holzkoffer aus Russland unterwegs sein zu müssen.
Ursulas Gedanken ziehen mit der Landschaft an der Landschaft vorbei. Blauer Himmel über dem Weserbergland. Sanfte Hügel, Flussläufe, Dörfer. Halt in Holzminden. Halt in Höxter. Halt auf offener Strecke, warten, bis das Signal die Weiterfahrt freigibt, das Anrucken des Zuges, der Lokomotivpfiff, das Stolpern der Waggons über Weichen, dann wieder das Rollen, das schneller und schneller fliegende Land. Hinter Höxter jetzt ausgedehnte Felder, das Getreide bereits geschnitten, zu Garben gebunden, zu Hocken aufgestellt. Neben der Bahnstrecke eine Landstraße, auf der Landstraße ein Trecker. Es folgen ein Wäldchen, ein Dorf, ein Weiher. Nach dem letzten Gehöft ein Bahnübergang mit winkenden Kindern an der rot-weißen Schranke.
Soest. Unna. Dortmund. Bochum. Essen. Der Blick nach draußen geht ins Kohlerevier, streift Zechen, Fördertürme, Abraumhalden, Arbeitersiedlungen. In ihren Kopf drängen sich die schweißglänzenden, wie mit schwarzem Fett beschmierten Gesichter der Frauen im Schacht von Kopeisk. Aus ihren Augen werden Löcher, aus ihren Gesichtern Totenmasken. Ursula fährt sich über die Stirn, um die Grubenlichter zu verscheuchen. Der Zug passiert Industrieanlagen, Systeme aus Rohren, Leitungen, Tanks. Durch die geschlossenen Fenster schlängelt sich hochkonzentrierter Fliedergeruch, süß und beizend zugleich. Der Zug nimmt dröhnend eine Brücke, Eisen schlägt auf Eisen, die Gepäcknetze schaukeln. Unter der Brücke ein Kanal, im Kanal eine milchig-grüne Brühe, in der Brühe ölige Schlieren. Das also ist das Ruhrgebiet, denkt sie, der Motor des Wiederaufbaubaus. Wie monströser Blumenkohl quillt der Neuanfang aus unzähligen Schloten: blutbraun, sumpfgelb, schwefelblau. Eine Luftströmung zieht eine Staubfahne vor die Sonne. Violett wie ein Leichenfleck blüht sie am Nachkriegshimmel. Hochspannungsmasten begleiten den Zug aus dem Ruhrgebiet ins himmelblaue Rheintal. Noch eine Stunde bis Düsseldorf.
Ihre Erinnerung an Konrad ist seltsam blass: Es war ihr Ankunftstag in Deutschland und ihre Bekanntschaft einige Stunden alt, als sie nach der Registrierung und ärztlichen Untersuchung zu ihrer Unterkunft gingen, zwei Elendsgestalten, betäubt und überwältigt von der ersehnten, noch unbegreiflichen Freiheit. Sie gab ihm die Adresse der Verwandten, bei denen sie unterkommen würde; er versprach, ihr zu schreiben. Zwei Monate ist das her, Konrad kaum mehr als eine Kontur.
Dieses Rätselhafte am Wiedererkennen eines Gesichts. Mit wenigen Blicken macht sie Konrad auf dem Bahnsteig aus. Und Konrad sie. Sie winken einander zu. Unvorstellbar, dass dieser elegante Mann, der sich durch das Gewühl zu ihr vorarbeitet, dessen wache Augen ein hellgrauer Herrenhut beschattet, der ihr jetzt den Koffer abnimmt, ihr sagt, wie gut sie aussehe, wie ihr Telegramm ihn überrascht und gefreut habe, unvorstellbar, dass dieser Mann unter einer Brücke geschlafen haben will.
„Wie war die Fahrt?"
„Eine halbe Weltreise war es."
Konrad bietet ihr den Arm, sie hängt sie sich ein.
„Wir müssen die Straßenbahn nehmen, ich wohne am anderen Ende der Stadt, drei Treppen hoch, bei einer Witwe, ein Zimmer mit Aussicht."
„Auf die Witwe?"
„Auf den Rhein, du!" Konrad lacht.
Der Bahnhofsvorplatz liegt heiß und staubig in der Nachmittagssonne. Sie zwängen sich in die volle Straßenbahn. Von hinten werden sie eng und enger aneinander gepresst. Als die Bahn klingelnd abfährt, stehen sie so peinlich dicht beisammen, dass sie den Blick aus dem Fenster richten müssen. Ursula spürt die Magerkeit dieses Mannes, seine Beckenknochen an ihrem Bauch, ihren Busen an seinen Rippen. Sie war lange mit keinem Mann zusammen. Sie schwitzt. Er lockert den Schlips. Nein, nicht am ersten Wochenende, denkt sie.
Und jetzt? Auf dem Tisch neben dem Sofa zwei Weinflaschen, ein leeres und ein umgestoßenes Glas, eine im Wachs ertrunkene Kerze. Die malte ihr seinen Haut-und-Knochen-Körper schön. Jetzt, im Mondlicht, liegt er wie aufgebahrt neben ihr. Die Nacht summt wie der Abspann eines Films, und Ursula denkt: Die Gier ist ein Dämon, ein Kannibale, sie will Fleisch, gegen eine solche Gier hat man keine Chance. Sie hätte wissen müssen, wie es endet mit einem Mann, der es zum ersten Mal macht. Ein Sekundenschlaf ohne Erfrischung war es. Wie nicht gewesen. „Spritz daneben", hatte sie noch gesagt, aber die Natur hatte ihn schon überrumpelt. Danach Totenstille und ein Alpenglühen über dem Sofa, auf dem sie noch immer liegen, ein Sofa mit lahmen Sprungfedern. Sie denkt an Joachim und die purpurfarbenen Nächte zwischen den wilden Orchideen an den Hängen im Ural, wo man sie, die Kriegsgefangenen und Internierten, Männer und Frauen, zum Heuwenden eingesetzt hatte, wo sie die Nächte im Freien verbrachten, wo Sternschnuppen und Engel fielen, Himmel und Erde die Plätze tauschten, einen ganzen August lang.
„Der Anfänger hat den Elfmeter verschossen", sagt Konrad in die Dunkelheit und Ursula antwortet, das komme vor. Es mache ihn traurig, sagt er, und sie sagt, hinterher sei man immer traurig.
Am nächsten Tag schleppt sich die Nacht neben ihnen her. Konrad zeigt Ursula Düsseldorf. Lustlos folgt sie ihm durch die Altstadt, an den Rhein, in die Innenstadt. Sie sieht Abriss und Aufbau. Konrad redet von Stadtplanern, Visionen, Architektur. Autogerecht und kompromisslos modern wünsche man sich die neue Landeshauptstadt. In einer Seitenstraße wieder Ruinen, Fensterhöhlen, verkohltes Gebälk, halbe Häuser, die den Blick auf halbe Zimmer freigeben, auf Aborte, Tapetenwände, eingebrochene Zwischendecken. Flammen schlagen neben Ursula aus dem Pflaster. Sie fühlt ihr Herz stolpern. Dann rasen. Vom Himmel fällt Feuer, von Köln bis Königsberg stürzen die Dome zusammen, unendlich langsam und vollkommen lautlos. Sie freift nach Konrads Hand und weist in den sonnengefleckten Schatten unter einer Kastanie.
„Da ist eine Bank."
„Und da ist ein Eisverkäufer."
Auf dem Bürgersteig kommt er ihnen entgegen, eine bimmelnde, weiße Kiste schiebend. Die rollt auf dem Untergestell eines Kinderwagens heran. Ein buntes Fähnchen hat sie sich angesteckt und nennt sich Luigi’s Gelati. Luigis Gelati gibt es in zwei cremefarbenen Sorten, in einer sind bunte Würfel, in der anderen braune Späne.
„Was nimmst du?"
„Und du?"
Ursula und Konrad sehen einander ratlos an.
"Cassata por bella signora, stracciatella por signore", entscheidet Luigi – und dass er eine Mark und zwanzig Pfennig zu kriegen hat, nachdem er jedem drei Kugeln in eine Waffel geklickt hat.
Ein Kuss. So beiläufig wie selbstverständlich passiert er ihnen auf der Bank, wo sie gegen das Schmelz-Eis anschlecken. Um sich nicht zu bekleckern, haben sie sich vorgebeugt. Aus der Waffelspitze tropft es in den Sand, während ihre Zungen über die kühlen, sahnigen Kugeln fahren. Der Kuss danach schmeckt nach Rum, Rosinen, Vanille, enthält Krokant und Stücke von kandierten Früchten.
Arm in Arm schlendern sie durch den Hofgarten weiter zur Königsallee, der Kö, Düsseldorfs Flaniermeile. Juweliere, Modegeschäfte, Bankhäuser, Cafés und Konditoreien. Die Kö ist mehr als Arbeit und Brot. Sie ist ein Lebensgefühl, das beschwingt und leichtsinnig macht und Ursula ein Parfüm schenkt, Soir de Paris, ein nachtblauer Flakon, jede Sünde wert. Konrad lächelt, als sie das sagt.
Doch vor den jäh aufgebrochenen Wunsch und Willen, sich zu lieben, hat Düsseldorf eine Straßenbahn gesetzt, die gerade abfährt, als sie am Triton-Brunnen ankommen. Schulter an Schulter, die Arme auf das warme Eisengeländer gestützt, warten sie auf die nächste, betrachten derweil den Meergott, wie er in barocker Kampf-Pose aus den Steinwogen schnellt, den Speer auf ein Ungeheuer gerichtet, dem das Wasser wie Blut aus dem Maul schießt. In der Luft Sprühnebel, duftige, wirbelnde Organzaschleier, sehr hell, sehr blau, mit Säumen aus Regenbogen.
„Tröste mich!"
Konrad nimmt Ursulas Hand von seinem Geschlecht und legt sie auf seinen Nabel. Ursula streichelt den eingefallenen Bauch, die fleischlosen Rippen, das harte Brustbein. Schweiß hat sich in der Halsgrube gesammelt.
„Die Nacht ist noch lang", sagt sie.
Ihre Finger fahren über die Narben im Nacken und auf den Schultern. Ursula berührt sie wie rohes Fleisch.
„Woher?"
„Von der Sehnsucht."
Er schweigt und Ursula fragt nicht.
„Ich hatte mir einen Kompass gebastelt", sagt Konrad, „wenn ich nach Westen gehe, immer nur nach Westen, muss ich irgendwann in Deutschland ankommen, hatte ich mir überlegt. Bei einem Arbeitseinsatz türmte ich. Die Hunde fanden mich; sie schlugen mich tot. Auf ein weiteres Mal kam es nicht an, tot war ich ja oft gewesen: erfroren, verhungert, an Heimweh gestorben, im Schädel ein Loch. Ein Gespenst geht darin um: Stalingrad, der Kessel, die Schlacht, die Marterschreie der Zerfetzten, die von Blut gesättigte Luft, durch die es mich schleudert ..."
Er führt ihre Hand zu einer Stelle am Hinterkopf und lässt sie die Buckel und Wulste fühlen. Ursula fröstelt. Sie legt ihm die Hand auf die Wange. Er drückt sie wie einen Verband an sein Gesicht.
„Seit ich wieder in Deutschland bin", sagt er, „seit ich die Zahlen der Toten kenne, steige ich Nacht für Nacht einen Berg aus erstarrten Leibern hinauf. Ich schleppe ein Kreuz. Ich schleppe es in der Erkenntnis, dass alles Leiden und Sterben sinnlos war."
Konrad beginnt zu weinen. Ursula nimmt ihn in den Arm, wiegt ihn, tröstet ihn wie ein Kind. Er sagt, dass er sich schäme, vor ihr zu weinen. Sie sagt, dass jeder Krieg zum Weinen sei, dass auch sie die Zahlen kenne, dass hinter jeder Zahl ein Mensch stehe und hinter jedem Menschen andere Menschen mit ihrer Trauer. Dass sie anfangs auch solche Dinge geträumt habe, sagt sie, und dass man irgendwann nicht mehr davon träume. Schweigend liegen sie Seite an Seite, bis der Schlaf kommt, bis ein Türklopfen sie weckt.
„Herr Färber, das Sonntagsfrühstück wartet auf Sie und Ihren Besuch."