Julia Panteleit: Kippen holen
Wir sind die Hauptstadt, wir rauchen und haben nie viel Geld in der Tasche. Schon gar nicht sind wir dazu bereit, für irgendetwas mehr als nötig zu bezahlen. Also kaufen wir unsere Kippen in Polen. Fahren mit dem Auto oder der Bahn rüber nach Frankfurt/Oder, laufen über die triste Brücke nach Slubice und zack. Das geht ganz schnell und ist nur halb so teuer da. Die Fahrt dahin kostet ’n Zehner, oder ein bisschen mehr. Oder weniger, wenn man kein Ticket kauft. Allerdings erheblich mehr, wenn man ohne Ticket erwischt wird. Spritgeld ist auch nicht der Rede wert, wenn man nicht alleine los fährt. Alles in allem ist es eine lohnende Angelegenheit und man ist ab und an wenigstens für ein paar Minuten in einem anderen Land. Wenn es mal wieder nicht für den Sommerurlaub gereicht hat, kann man sich zumindest einreden, diverse Male im Ausland gewesen zu sein. Dass man jedes mal froh ist, Slubice wieder den Rücken zukehren zu können, kann man diesbezüglich getrost verdrängen. Diese besondere Art des Selbstbetruges beschert einem zumindest eine halbwegs finanzierbare Ausübung der Nikotinsucht.
Abfahrt nach Polen zum Kippen holen um zehn Uhr am Ostkreuz. Sitze in der S-Bahn, als mein Handy klingelt.
„Wo biste?" Moppi hustet, seinen Namen nennt er nie, wenn er jemanden anruft.
„In der S-Bahn. Zehn Uhr haben wir gesagt."
„Ja, schon klar. Holger wollt nur wissen, ob er noch’n Bier trinken kann."
Im Hintergrund hört man das Aneinanderklirren von Glasflaschen.
„Kann er im Auto doch auch?! Bin gleich da."
Ich hab einen fiesen Geruch in der Nase. Billiges Parfüm. Als ich ankomme, habe ich das Gefühl, dass Holger schon nicht mehr geradeaus gucken kann. Zehn Uhr, verdammt! Die Frage drängt sich auf, ob er mit dem Saufen schon angefangen oder noch nicht wieder aufgehört hat.
„Wer fährt?", frage ich etwas sinnlos in die Runde. Ich habe keinen Führerschein, habe nie einen besessen, Holger hat seinen schon lange nicht mehr.
„Na icke. Oder möchtest Du, Holger?" Moppi grinst überlegen.
Holger kichert vor sich hin, umarmt mich ein wenig zu fest und steigt mit seiner Molle in der Hand in den Wagen. Im Wageninneren ist es viel zu warm, außerdem riecht es nach altem Fett.
Wir drehen das Radio auf und los geht’s. Rauchen wie die Schlote, was soll’s – gleich gibt es Nachschub. Schnell werden wir von einem blauen Nebel eingehüllt.
Moppis Navi flötet zärtlich „Achtung!", wenn er zu schnell fährt, was er oft tut. Ich sitze auf dem Rücksitz, schaue aus dem Fenster. Mann, was hockt da für ein fetter Brummer? Eine dicke Fliege putzt sich akribisch die Flügel. Tja, Schätzchen – da haste Pech gehabt. In Polen wirst Du wohl aussteigen und nicht wissen, wie Dir geschieht. Allerdings ist mit ziemlicher Sicherheit alles besser zu ertragen, als ein Leben in dieser Karre.
„Was’n das für’n Lied?" Holger dreht den Ton etwas lauter, öffnet ein weiteres Bier, er hat einen enormen Zug. Noch lallt er allerdings nicht.
„Keene Ahnung, is’ uff jeden Fall scheiße."
Moppi kann nicht anders, er flucht ohne Punkt und Komma. Sonst ist er aber in Ordnung. Bisschen zu dick vielleicht, bisschen zu alt für seinen Klamottenstil, aber ansonsten: das Herz sitzt am rechten Fleck. Er kommt aus Brandenburg und der Berliner weiß: die Brandenburger sind diejenigen, die wirklich berlinern. Moppi kann nicht mal das „Z" aussprechen. „Z" gibt es nicht in seinem Wortschatz, statt dessen spricht er stets ein zartes „S" aus, oder ein scharfes „S", also ein „Buckel-S". Je nachdem, wie man es gerade hört oder nennen will. Auf jeden Fall ist es kein „Z".
„Leute, heute kann ick nich’ so schnell fahrn. Ick hab noch swei Scheine offen. Verdammt, ick hoffe, mein Nummernschild war neulich dreckich jenuch. Sach’ ma, Holger, dit eene war doch och in Frankfurt, oder?"
Frankfurt, Oder? Oder? Na sicher. Zum Lachen. Aber lachen kann ich nicht, es bleibt mir im Halse stecken. Holger nickt und nimmt sich ne Kippe. Sein Bier hält er verdächtig schief in der anderen Hand.
„Scheiße, ick muss schon wieda pissen!" Moppi wackelt unruhig auf seinem Sitz hin und her. Der Wagen scheint zu schwanken. Vielleicht sollte ich mir auch ein Bier nehmen. Nicht einmal dazu habe ich eine eindeutige Meinung.
„Du warst doch gerade.", merke ich viel zu streng an.
„Mann, ja – ick weeß. Dit löft einfach so durch. Kaffee oben rinn und denn, na ja. Dit is so, wenn man älter wird, dit werdet ihr Küken schon noch merken. Tanken muss ick och. Is fast leer der Tank. Scheiße verdammte. Ick wollte natürlich in Polen tanken. Dit war der Plan. Hatte ick jetze irgendwie nich so uffm Schirm, das der Tank schon wieda alle is."
„Hier kommt so schnell keine Tankstelle." Holger gibt sich informiert.
„Keene Panik. Wenn’s piept kann ick noch 50 km fahrn."
„Hm." Alles in allem ist mir das ziemlich egal.
„Sach’ ma, Kleene, ma wat janz andret: wat muss ick da hörn?" Moppi dreht sich leicht zu mir um, schaut verständnisvoll.
„Was meinste denn?", entgegne ich, obwohl ich ziemlich genau weiß, was nun kommt.
„Na dein Alter und Du. Löft nich’ mehr so, oder?"
Ich habe keine Ahnung, was ich dazu sagen soll. Also sage ich nichts und gucke aus dem Fenster – an der Fliege vorbei, die sich noch immer sorgfältig putzt. Ich habe das dringende Bedürfnis, sofort mit ihr zu tauschen.
„Na sorry und so, aber ick seh’ euch jar nich’ mehr susammen. Ick gloobe, ick hab den letztens mit so ner Rothaarigen jesehn, am Ostbahnhof. Kann dit sein?"
„Hm."
„Keene Sorge, die kann dir ja nich’ dit Wasser reichen. Ick meine, wat ick da jesehn habe, war schon janz ordentlich. Nee, also Moment – ick meine nur, wie das Weib aussah. Also janz jut sah die schon aus. Trotzdem: ihr seid ja och schon ne janze Weile susammen und so schnell bringt euch swei sicher nüscht auseinander, och keene Rothaarige."
„Scheiß drauf."
Verdammt, ich hab keine Lust, dass wir darüber reden. Wie viele Leute werden mir noch erzählen, dass sie ihn mit der Rothaarigen gesehen haben, deren Namen ich nicht kenne und nicht wissen will? Natürlich merke ich, dass es zwischen uns nicht mehr läuft. Länger schon, viel zu lange. Ich weiß außerdem, dass er sich wieder mit anderen Frauen trifft und selbstverständlich weiß ich von der Rothaarigen. Berlin ist groß, Berlin ist ein Dorf. Man kennt sich, man hört so einiges und überhaupt: man ist ja nicht blöd. Gefragt hab’ ich ihn nicht. Ich hab’ bloß geschaut und wenn er in diesen vier gemeinsamen Jahren nicht durchgängig dicht war, dann konnte er meinen Blick deuten, wenn er wieder ohne mich loszog und sich vorher einparfümierte, als wäre er ´ne Edelnutte. Gesagt hab’ ich nichts. Aber ich hätte gut daran getan, selbst los zu ziehen. Hätte gut daran getan, irgendetwas zu unternehmen, vielleicht den Versuch zu starten, das Ruder herum zu reißen.
„Achtung!" Die Navistimme klingt übertrieben freundlich – zum „Achtung" passt es natürlich überhaupt nicht.
„Wat? Schon wieder nur 80? Scheiße." Moppi schnippst verärgert gegen das Navigationsgerät, als würde die „Achtung" – rufende Frau darin wohnen und persönlich die Höchstgeschwindigkeiten zu seinen Ungunsten regeln.
Holger öffnet ein weiteres Bier und gluckst.
„In 700m rechts abbiegen."
„Hä? Hier? Is’ die bekloppt? Vajisset, Schätzken. Dit hab’ ick schon mal jehabt. Da hat die mich in Neuruppin uff’n Acker gejacht. Nee, nee. Heut nich’. Janz sicher nich."
Ich verwerfe schnell die kurz aufkommende Frage, warum Moppi das Gerät nicht ausschaltet – er ist die Strecke schon Dutzende Male gefahren.
Gut angefangen hat es damals. Verdammt gut. Vier Jahre... irgendwann vor vier Jahren stand ich am Alexanderplatz rum. Wartete auf irgend jemanden, blickte mich um. Da stand er plötzlich. Wollte nichts. Stand nur da und schaute mich an.
„Is’ was?", patze ich los. Dieses Anschauen brachte mich völlig aus der Fassung.
„Allerdings!"
„Und?"
„Du bist schön."
Natürlich war das ein Scheißsatz. Eigentlich. Steht da mit seinen blauen Augen, ziemlich groß und irgendwie unglaublich präsent und dann so ein Satz. Ihm konnte man den glauben, beinahe musste man, weil man es unbedingt wollte. Die Sehnsucht danach, dass einem endlich so etwas passiert war groß. Ich bin mir keiner Schuld bewusst. Der fette Brummer schläft anscheinend und träumt von seinem zukünftigen Leben im Zwischenraum Frankfurt/Oder – Polen. Wenn du wüsstest!
„So einen Scheißsatz pfefferst du wohl jeder entgegen!", antwortete ich mutiger, als ich mich fühlte.
„Wenn du meinst..."
„Ja, meine ich." Natürlich meinte ich das nicht. Provozieren wollte ich ihn, mehr davon hören.
„Gehen wir’n Bier trinken? Ich lad’ dich ein."
Wir tranken Bier. In rauen Mengen. Und dann das ganze Programm: alles, gleich und sofort, voller Leidenschaft, ohne Atem zu holen, ohne an gestern und morgen zu denken und es dauerte nicht lange, da wohnten wir zusammen. Wovon ich immer geträumt hatte, schien nun in seiner Person, mit der Beziehung, die wir führten seine Erfüllung zu finden. Wir hatten schnell das Gefühl, uns schon ewig zu kennen und dennoch nicht genug voneinander zu bekommen. Lachten über Dinge, die andere nicht verstanden. Waren ganz beieinander und miteinander. Manchmal kniff ich mich in den Arm und schüttelte den Kopf. Scheiße, was waren wir glücklich.
„Sach’ ma, war dit eben `n Blitzdings? Scheiße. Scheiße!" Moppi hämmert gegen das Lenkrad. Holger grinst.
„Hör ma, Du Penner, kannst Du och wat andret, als blöde grinsen? Wenn der Lappen nu wech is, dann kannste demnächst mit der Bahn nach Polen juckeln. Und überhaupt, warum hat die Navischlampe nüscht jesacht?"
Ich glaube, wir sind gar nicht geblitzt worden, aber ich hab einfach keinen Nerv, etwas zu sagen. Ich will meine Kippen holen und wieder zurück. Warum will ich eigentlich unbedingt zurück? Wozu die Eile? Und wohin zurück? Zu meinem Kerl, der schon längst die Rothaarige vögelt?
„Verdammter Nebel hier." Kein Wunder, wir rauchen wie die Blöden. Holger trinkt ausserdem wie ein Loch. Moppi öffnet alle Fenster per Knopfdruck. Die Chance für den Brummer. Alles, nur nicht Polen.
Mit beiden Beinen standen wir fest auf der Erde: so hatten wir es uns beide gewünscht, mit allen Sinnen war es erfahrbar: man konnte es greifen, hören, riechen, spüren und schmecken. Und dennoch: dieses Glück machte schwindelig. Etwas in mir flüsterte: Das konnte nicht gut gehen, es war zu perfekt.
„Holger, haste dit jesehn’? Da hat eener `ne Herthafahne aus’m Fenster hängen! Ick piss’ ma wech. Ne Herthafahne! Sweite Liga. Ha!"
„Is’n Ding", grunzt der, raucht und trinkt.
Angekommen, getankt, Kippen geholt. Noch schnell ein polnisches Bier. Sparkurs auf jeder Linie.
„Scheiß Plörre, oder? Aba schön billich."
Rein ins Auto, Radio an. Wo ist der Brummer? Ach da. So ein dummes Vieh! Da waren die Fenster geöffnet, die Freiheit nahe – die Fliege bleibt im Auto und putzt sich die Flügel.
„Mach ma lauter!" Holger scheint plötzlich hellwach zu sein.
„Haste wat jesacht? Ick brech’ ab. Na klar, Holger, für dich mach’ ick den Scheiß och lauter, Was’n ditte?"
„Phil Collins."
„Phil Collins?"
„Phil Collins!"
„Alter, was’n mit dir los?" Moppi lacht. Laut, dröhnend, durchdringlich. Holger sagt nichts dazu. „Nu is’ sein Redeflash wieder vorbei. Scheiße, ick muss schon wieder pissen. Bier und Kaffee nehmen sich da nüscht. Dit polnische Bier is’ besonders übel. Phil Collins och."
Während der Brummer im Auto ein wenig seine dümmlichen Kreise zieht, starre ich erneut aus dem Fenster und denke an vier verdammt gute Jahre. So, als wären sie schon vorbei. So, als erlebte ich sie gerade in einem Stück, vor allem die guten Momente. Es gab viele davon. Und immer weniger in letzter Zeit. So sehr ich mich auch bemühe, ich begreife nicht, wie es dazu kommen konnte, dass uns das Glück abhanden ging. Muss immer etwas Neues kommen, etwas vermeintlich Besseres?
Ekelhaft, dieser Geruch hier im Wagen. Penetrant. Selbst bei geöffneten Fenstern.
„Achtung!"
„Wat Achtung? Mensch, gleich schmeiß ick dit Ding aus’m Fenster! Ick kann hier 130 fahrn, Du Kuh. Und die fahr’ ick nich’ ma."
Als er heute morgen nach Hause kam, roch er wieder nach Edelnutte, eigentlich nach zwei. Swei! Seine Augen waren immer noch herrlich blau.
„Noch wach? Oder schon?"
„Ich fahr’ nach Polen. Kippen holen."
„Kippen holen?"
Er hat gelacht. Vielsagend und wissend. Und ich hatte von nichts ne Ahnung. Hatte keinen Plan, was jetzt zu tun war.
„So. Berlin hat uns wieder. Mann, irgendwie kommt man sich janz kotzich vor, in diesem Polen. Frankfurt is och dit letzte Loch. Sach’ ma, Holger, wie viel Liter hast’n heute schon in dich rinn jeschüttet? Unfassbar!"
Holger antwortet nicht, er schläft. Er schnarcht. Der Brummer scheint auch zu schlafen.
„Jetzt pennt der Sack och noch. Sach’ ma, wo soll ick dich denn rauslassen? Sonnenallee? Nach Hause?"
„Halt hier an.", verlange ich unvermittelt.
„Hier? Hier is’ doch nüscht. Wat willstn hier? Sach’ ma, is dir dit polnische Bier nich’ bekommen?"
Er hält trotzdem an. Ich steige aus und bliebe vor der Tür stehen. Kommt die Scheißfliege mit raus, oder nicht? Klebt völlig bescheuert am Fenster der geöffneten Türe. Rafft anscheinend gar nix, oder will es nicht.
„Äh, wat is’n? Machste die Tür wieda su? Alles okay mit dir?"
„Denk’ schon. Was weiß ich! Also dann. Tschüß." Jetzt bloß nicht den Beutel voller Kippen vergessen. Ich beuge mich auf den Rücksitz und inhaliere ein letztes Mal den Gestank des Wagens.
„Ja, machet jut. Ruf an, wenn wat is’." Moppi schaltet das Navigationsgerät aus, winkt mir kurz zu.
Als ich die Türe ein klein wenig zu heftig zuwerfe, huscht die Fliege im letzten Moment aus dem Auto. An die frische Luft.