Gerhard Reininger: Ending up
Die ersten Augenblicke seines Lebens erschienen Henry seltsam verdreht, als er sich im eisernen Griff einer resoluten Krankenschwester wiederfand, die das kaum abgenabelte Kind kopfüber an ein Holzlineal hielt, den abgelesenen Wert mit lauter Stimme weitergab und das rosafleischige neue Stück Leben auf die schweißnasse Brust seiner Mutter legte, die Henry als Frucht des Samens, aus dem er innerhalb von Monaten gewachsen war, mit ungläubigen Lächeln empfing und bestaunte wie die ersten Schritte, die er ein Jahr später machen sollte, hin und her gerissen zwischen der alles umfassenden Schwerkraft und den zielgerichteten Kontraktionen seiner Muskeln, gesteuert durch sich verknüpfende Nervenzellen in Henrys Gehirn, welches ihn bereits in jungen Jahren befähigte, sich in der Schule durch eine schnelle Auffassungsgabe einen der ersten Plätze zu sichern und die besten Voraussetzungen für eine Karriere im Bankgeschäft zu schaffen, wodurch Henry zu Ansehen und Wohlstand kam und seine Chancen bei der immer hungriger werdenden Suche nach immer jüngeren Frauen stark begünstigt wurden, was ihn allerdings nicht davor bewahrte, eines Tages die ersten grauen Haare an seinen Schläfen zu entdecken, sich seiner Familie zu entfremden und darüber nachzudenken, was das Leben noch für ihn bereit hielt außer der Befriedigung der Bedürfnisse seines Körpers und darüber hinaus jeden Morgen während des Frühstücks, an einem mit Himbeermarmelade bestrichenen Brötchen kauend, den Leitartikel der Times zu lesen und zu überlegen, welche Strategie heute wohl die beste wäre, um im Zentrum der Stadt einen Parkplatz zu ergattern, während er gleichzeitig auszublenden versuchte, dass er den Besuch seiner Mutter im Pflegeheim schon zu lange hinausschob und er seiner Frau nicht mehr vormachen konnte, gerne mit ihr zu schlafen, seit er festgestellt hatte, dass ihm bereits mit Mitte fünfzig Sex nichts mehr bedeutete und er nicht wusste, ob er darüber besorgt oder erleichtert sein sollte und ob es wohl damit zusammenhing, dass er zu echter Liebe niemals fähig war sondern allenfalls zu einem Gefühl der Zuneigung und Achtung, die er allerdings nie für sich selbst empfand, so dass er dem Hass auf sich selbst und dem Ekel am Ende nichts entgegen zu setzen hatte und er an seinem neunundsechzigsten Geburtstag Gebiss, Gleitsichtbrille und Hörgeräte mit dem Hammer in Stücke schlug und sich mit seinem Sportwagen um den dicksten Baum der Allee wickelte, was seinen sofortigen Tod zur Folge hatte und ihn in derselben Sekunde erkennen ließ, dass wir alle aus einem Nichts in die Welt geworfen - und seit diesem Augenblick auf der Reise dorthin zurück - durch unsere Existenz stolpern, Jahr um Jahr gefangen in Kleinkinderkörpern, in pubertären Krämpfen, schließlich in den Konventionen unserer Brut und zuletzt in der zahnlosen Gebrechlichkeit alles Organischen und uns mühen und plagen und zappeln und schreien und lachen und krakelen auf dem schmalen Grat zwischen Leben und Tod, um am Ende mit eigenen Augen zu sehen und endlich zu glauben, dass unsere Asche gerade mal so in eine Müslischale passt und unser Leben in einen einzigen Satz.
Denn was ist es schon mehr als ein kurzes ekstatisches Zittern, dass wir hier vollbringen in dieser wimpernschlagkurzen Spanne, die wir Leben nennen und die eingebettet ist in den Fluss der Zeit und bestimmt wird durch die Funktion und Leistungsfähigkeit unserer zufällig evolutionierten Sinnesorgane, welche uns suggerieren, wir wären aufrecht gehende Wesen auf der festen Oberfläche eines Kontinents, du und ich, und wir ständen uns gegenüber auf Armeslänge, berührbar und rot glühend im Infrarotblick einer irrtümlich vorbei schlängelnden Grubennatter, die Welt ein Haufen kleinster Teilchen in einem Kraftfeld, etwas, dass sich unsere Sinne ausdenken, etwas, dass in Wirklichkeit – oh mein Gott, was für ein Wort, Wirklichkeit! – gar nicht existiert, ein Schwall von Worten, nein falsch, von Schwingungen der Luft, moduliert mit Hilfe steuerbarer Muskelstränge und Bänder in Kehlköpfen und Rachenräumen, aus verformbaren Körperöffnungen ausströmend und hineinfließend in die fleischigen Auswüchse an den Schädelseiten anderer Menschen, dort feinste Härchen streifend, Trommelfellchen über waghalsige Knochengelenke stimulierend und endlich als elektrischer Reiz in unser Bewusstsein gelangend, um dort als akustisches Exkrement entsorgt zu werden und den Müll anzureichern, den wir permanent in uns aufnehmen, während wir uns durch Zeit und Raum und unser Leben bewegen und dabei dem Trugschluss unterliegen, wir hätten es auch nur andeutungsweise in der Hand, welche Richtung dieses Leben nehmen soll in dieser Welt, in der wir ab und an auf andere Individuen treffen oder zumindest an ihnen vorbei schrammen, uns aneinander reiben beim Versuch, einzelne davon festzuhalten, damit sie uns begleiten auf unserer Irrfahrt und sei es nur einen Augenblick lang, für eine kurze Wegstrecke, bis wir wieder weiter können oder uns ein anderer Mensch trifft, oder eher benutzt wie ein Papiertaschentuch, zerstörbar, zerknüllbar, zerfallend in den Händen anderer oder aufblühend in derselben extremen Weise durch das unerklärliche Wunder der Liebe und der Transzendenz treiben unsere Sehnsüchte unsere Körper schlingernd von Pol zu Pol, hetzen sie von Ort zu Ort, von Mensch zu Mensch, immer in der Hoffnung, endlich Ruhe zu finden in einem Bild, einem Plan, einem Traum, dem nachzujagen sich als lohnend erweisen könnte in dem Versuch, dieses kleine Leben mit mehr zu füllen als materiellen und emotionalen Häppchen, die am Wegesrand bereit liegen und von denen wir glauben, sie wären wichtig und immer eingedenk der Tatsache, dass es sich bei der Suche nach so etwas wie Lebenssinn um ein Luxusproblem handelt, das nicht zur Debatte stünde, fände sich unsere Seele beispielsweise in dem Fleisch dunkelhäutiger Sklaven wieder, die gerade auf einem überfüllten Schoner auf dem Weg nach Amerika angekettet wurden, einem jener Seelenverkäufer, auf denen wir als Handelsware mit existenziellen Schwierigkeiten zu kämpfen hätten in Körpern, deren Entwicklungschancen gegen Null tendierten, einem Schicksal ausgeliefert, das uns unsere eigene Rasse angedeihen lässt in ihrer Maßlosigkeit und Gier, die auch heute noch – mehr schlecht als recht verborgen unter einem viel zu eng sitzenden Mantel aus Zivilisation – in unseren Köpfen steckt und jedes nur denkbare Ventil verwendet, um ab und an hervor zu brechen, ähnlich einer überreifen Frucht, zuckersüß und unwiderstehlich mit praller Haut und einem Duft, der den Geruchssinn stimuliert, diesen einzigen aller Sinne, der direkt auf unser Gefühlsleben einzuwirken vermag, ungefiltert, ohne Verzögerung, durch Lockstoffe unseren Körper steuert, olfaktorische Fingerabdrücke, Düfte aus Drüsen, ausgeschieden, weggegeben, sprachlose Zeichen, luftleichte Flaschenpost in fremde Körperuniversen, die ihrerseits wie auch andere Instanzen aus Herz oder Großhirnrinde Fragen aufwerfen wie:
Woher kommen wir?
Warum sind wir hier?
Wie ist alles entstanden und zu welchem Zweck?
Und wohin führt es uns?
Und warum belügen uns unsere Sinne?
Und warum ist am Ende jeder alleine?
Und sollten wir die rote oder die blaue Kapsel wählen?
Fragen wie diese. Ja, Fragen wie diese sind es, die die Begrenztheit menschlicher Einsicht schaufensterhaft bloß stellen und uns klein machen, ameisenklein und uns bewusst werden lassen, dass wir uns den Wert und die Verfügbarkeit von Dingen nur einbilden, weil wir uns in unzähligen Konventionen darauf geeinigt haben, dass Dinge Wert besitzen wie beispielsweise das Stück Baumwollpapier, auf dem in kunstvollen Schwüngen Zahlen abgedruckt werden, die es zum universellen Tauschmittel machen sogar über Ländergrenzen hinweg, die selbst wieder nichts anderes sind als Linien auf Karten, gezogen entlang von Flüssen und Bergketten und auch willkürlich mitten durch Städte und Seen, um zu trennen, was eigentlich vereint bleiben sollte und diese Trennung nur deshalb zu Stand kommt, weil sich eine Mehrheit darauf verständigt hat, aus Gründen die von hehren Zielen bis zu plumper Machterhaltung reichen, ein Spiegel der Befindlichkeiten, die in diesem Ameisenstaat vorherrschen, der heran wuchs seit Noah die Arche verließ, um noch einmal neu anzufangen, womit und zu welchem Zweck auch immer. Ein Impuls im rechten vorderen Großhirnlappen lässt den linken Arm nach oben schnellen noch bevor wir dran denken, es zu tun und führt zu der Erkenntnis, dass selbst unser Ich eine Einbildung ist, ein Konstrukt aus Nervenimpulsen, nirgendwo greifbar und nirgends ersichtlich und wir schneiden die Schädel auf und durchforsten die Herzen und finden doch nichts außer Blut und fleischiger Masse, für immer verbergend, was uns selbst ausmacht und dich von mir unterscheidet und mich von dir.
Und anderntags sitze ich in meinem Körper in der Abendsonne über dem Grand Canyon. Gerade haben wir gemeinsam Henrys Asche in die Schlucht rieseln lassen, wie es sein Wunsch war. Die Müslischale ist leer.
Ein leichter Wind weht über die Ebene und spielt mit den Härchen auf meiner Haut. Seit Menschengedenken fließt der Colorado tief unten in seinem Bett und kein Laut dringt von dort herauf. Es ist schön hier.
Henrys Asche, vom Winde verweht irgendwo da unten, ist alles was von ihm blieb. Der Rest ist die Erinnerung an vergangene Zeiten und die magere Beute an Dingen, einstmals angeschafft mit Zeit und Geld und in dem Gefühl, sie besitzen zu müssen und nun aufgeteilt unter irgendwelchen Leuten, die durch bestimmte Umstände dazu auserkoren wurden, seien es Abstammungslinien oder Seelenverwandtschaften. Niemand besitzt irgendetwas wirklich, wir spielen nur eine Zeit lang damit herum, im Glauben, es müsse jetzt unbedingt so sein. Und dann endet alles, irgendwann, irgendwo und Neues beginnt. Ich habe dich gefragt, ob er dir fehle und du sagtest ja. Was genau es ist, dass dieses Gefühl bei dir auslöst, konntest du nicht sagen. Wir haben uns darauf geeinigt, dass es die Gewohnheit sein könnte, das Vertraute, die Konstanz im gewählten und gewachsenen Muster des eigenen Lebens. Und dann kommt dieser Tod und reißt ein Loch hinein und wir müssen es mühsam wieder reparieren, unser Leben. Wir sind Fischer, jeder von uns, aber wir verbringen die meiste Zeit nicht damit, hinauszufahren und Beute zu machen, sondern damit, unsere Netze zu flicken und die Wunden zu lecken, die das harte Tau in unsere Handflächen reißt. Langhalsige Vögel kreuzen den Horizont auf dem Weg zu ihren Schlafplätzen, der Tag geht zu Ende. Du fragst, wie es wäre, wenn es hier nicht mehr weiter ginge, wenn hier an der Kante des Kliffs Endstation wäre, das Ende aller Dinge. Und ich denke darüber nach und verenge die Augen zu Schlitzen im blendenden Licht der rötlichflachen Strahlen. Was wenn es tatsächlich so ist? Ich wende den Kopf und blicke hinüber zu unserem Pickup. Staub hat sich überall darauf verteilt, aufgewirbelt von den mächtigen Reifen, neu verteilt entlang der endlosen Straße von Ost nach West. Das Ticken des Motors dringt leise herüber und mischt sich in das Lied der Zikaden. Metall entspannt die verkrampften Muskeln und fällt in einen traumlosen Schlaf. Das Ziel ist erreicht, es bleibt nichts mehr zu tun, es könnte hier und jetzt nicht besser sein. Warum also weitere Tage anhäufen, einen jeden aufs neue am vorherigen messen, weiter streben nach einem Glück, einem Ziel, das niemand kennt? Es ist das unersättliche Auskosten, das uns weiter treibt, die Gier nach Leben, das Streben nach Glück. Wie jeder zuvor, werden auch wir daran scheitern. Und wie eine störende Wolke kurz die Sonne verdunkelt, trübt der Gedanke daran für einen Augenblick die Stimmung. Dann ist die Wolke vorbei, der Zweifel besiegt und die Wärme kehrt zurück.
Wir rasten nach der langen Fahrt entlang der Route 6 von Denver über Grand Junction. Müdigkeit befällt schwer unsere Lider. Du schichtest trockenes Holz in der Feuerstelle auf und holst die Schlafsäcke aus dem Camper. Zeit und Raum werden eins, die Eindrücke der Sinne harmonieren miteinander und schenken uns Ruhe. Dort unten dieser Fluß ist das Leben. Und wir sehen zu, wie es vergeht. Ruhig und zufrieden in der Geborgenheit unserer Häute. Es gibt nichts zu tun, nichts zu sagen und nichts zu denken. Man sollte in den Spiegel schauen und nicht dahinter. Man sollte die Schädel geschlossen halten und die Herzen an ihren Plätzen. Das Leben ist jetzt – alles andere bilden wir uns nur ein.