Silke Andrea Schümmer: Kellergänge
Ihr erinnert euch gut. Zu gut manchmal, das macht euch unbequem für das Personal. Und das gibt sich Mühe. Immerhin. Gar keine Rede von „Pfötchenhotel". Auch wenn du das ständig gesagt hast, als meine Eltern dich herbrachten. „Bindet mich doch irgendwo an einer Autobahnraststätte an" zum Beispiel oder „Bekomme ich auch die große letzte Spritze, wenn ihr mich nicht pünktlich abholt?"
Meine Eltern waren fertig, leer, alle mit den Nerven, das konnte man sehen. Als wären Falten, Tränensäcke und Furchen auf der Stirn ansteckend. Früher hatte man irgendwann die eigenen Jahre auf dem Buckel, heute sind es die eigenen und auch noch die der vorigen Generation, die einfach ihren Platz nicht räumt, die niemanden nachrücken lässt, sondern rüstig ihr Leben und ihr Terrotorium verteidigt. Früher waren die, die ihre Alten pflegten, wenigstens jung. Heute sind sie selbst Rentner, tragen Einlagen in den Hausschuhen und verbringen mehr Zeit miteinander beim Orthopäden als beim gemeinsamen Essen. Das weißt du auch alles, liebe Tante Magda, ich nehme es zumindest an, ich hoffe es, ich bestehe darauf, dass du es weißt und mir nicht wieder erzählst, dass das hier ein Zwinger sei, ein Tierheim, eine Abdeckerei. Es ist eine ganz besondere Station, ich habe mich informiert, davon gibt es noch nicht viele, und wir müssen dankbar sein für den großen Zufall, nein, den Glücksfall, dass sie dich aufnehmen, obwohl du erstens noch gar nicht richtig krank bist, nur ein bisschen tüdelig, und der Laden zweitens nicht ausgerichtet ist auf Kurzzeitpflege. Und Tante Magda bitte, es dauert nicht lange, wirklich, nur drei Wochen. Komm schon, gönn ihnen den Urlaub und ruf sie nicht wieder im Hotel an, dass du in einer Urne noch praktischer verwahrt wärst und bequem in einem Schließfach auf sie warten könntest. Und auch der nachfolgende Anruf, aus deiner Asche könnte man ja Magda-Kaba machen und dich bei Bedarf mit heißer Milch aufgießen, oder sie als Dünger über die Beete streuen, war ganz und gar unpassend. Nicht dass ich nicht lachen musste, als sie es mir erzählt haben, aber die beiden sind wirklich geschafft, also lass sie in Ruhe und nimm die drei Wochen als Sanatorium. Du hast dooch gern Personal um dich und erzähltst immer von früher, als ein Mädchen mit weißer Schürze zu jedem besseren Haushalt gehörte, als die Händler ihre Waren noch bis in die Küche trugen und der Postbote zweimal am Tag kam. Die Station ist voll von Frauen in Schürzen, die dich umsorgen werden und sie brummt wie ein Bienenstock voller Geschichten. Ich weiß, dass du das liebst, Magda, den Klatsch und Tratsch, Gerüchte und Verwicklungen. Eine Dame hüllt sich in ihre Geheinisse wie in wärmende Pelze, das hab ich doch von dir. Genauso wie „egal was du tust, lass nie zu, dass jemand dabei dein Haar in Unordnung bringt" oder „weiße Schuhe niemals vor Pfingsten". Ich atme tief durch und stecke eine Strähne hinterm Ohr fest. Dann drücke ich die Klingel neben der grünlichen Glastür.
Kaum betrete ich die Station, kommt schon Thekla auf mich zu, tieg gebeugt über ihrem Gehwagen. Ich kenne sie noch vom letzten Mal. Sie legt mir eine Hand in den Rücken und lässt mich auf dem Stuhl neben dem Eingang Platz nehmen, wo sie mir den Puls misst. Thekla ist eine bucklige kleine Frau mit einem Gesicht wie eine Schildkröte, das unter einem Häubchen hervorkommt. Sie betastet meinen Bauch, horcht ihn durch ein Wasserglas ab und ermahnt mich zuzunehmen und öfter die Füße hochzulegen, dann kommt die Schwester und führt sie weg, zu einem Notfall, wie sie sagt. Und sie zwinkert mir zu und summt im Weggehen, so als würde sie einen leicht schaukelnden Kinderwagen vor sich herschieben und keine runzelige Damem die glaubt, dass sie noch Hebamme ist, dies hier ihre Station und wir alle ihre Patientinnen. Das Pflegeprsonal lässt sie gewähren, denn die achte Etage, in der wir hier sind, ist eine Zeitkapsel. Hier wohnen die Alten, deren Verstand ausgerutscht ist wie nackte Füße auf einer seifigen Treppe und die irgendwo irgendwann in ihrem früheren Leben gelandet sind, verständnislos, zornig und hilflos mit Armen und Beinen rudernd, auf dem Rücken liegende Käfer, immer in Bewegung, ohne jemals irgendwo anzukommen. Weiter hinten sehe ich Thekla um die Ecke biegen, geschäftig vorwärtstappend, die große Tasche mit ihren Utensilien im Korb des Gehwagens. Sie läuft den ganzen Tag und manchmal auch nachts, immer den achtförmigen Gang entlang, der durch die Etage führt, eine Endlosschleife, in der sie ihren Erinnerungen hinterherläuft. Es ist eine Ironie des Schicksals, dass das Zeichen, das sie wieder und wieder abläuft ausgerechnet das Symbol der Unendlichkeit ist. Wenn sie zu lange wandert, rufen die Schwestern sie zu einem Notfall und lassen sich den Blutdruck von ihr messen oder den Bauch abhören und servieren ihr zum Dank etwas zu essen, bevor sie sich wieder auf die Wanderschaft macht.
Tante Magda fängt mich auf dem Marktplatz ab, das ist der Raum in der Mitte der Station, wo sich die beiden Kreise der großen Acht treffen. „Ich habe jemanden von früher gefunden, hier, stell dir das vor", flüstert sie mir zu, „ich hatte gedacht, ich würde ihn nie wiedersehen", und dabei zwinkert sie mir zu. Ich hake sie unter. „Was denn, einen ‚Herrn’?"
Für Tante Magda sind alle Männer, die gut oder zumindest nicht schlechter als andere aussehen, Geld haben, sich für sie interessieren oder sich nur nicht vehement genug wehren, immer schon ausschließlich ‚Herrn’ gewesen, eine Welt bevölkert von Herrn wie ein großes Magritte-Gemälde. Und Tante Magda nickt begeistert. Ich seufze. Wenn Magda zur Kirche ginge, würde sie den Pfarrer noch während seiner Predigt vom Glauben abbringen. Ich wünschte, ich hätte nur einen Bruchteil dieses Fliegenband-Charismas geerbt. Sie führt mich zum Speisesaal und zeigt auf eine Gruppe, die zusammen an einem Tisch sitzt, auf dem Luftschlangen und bunte Papierhütchen liegen und in der Mitte ein gewaltiger Käseigel. „Hat die Schwester wirklich einen Kohlkopf mit Alufolie umwickelt und tausende von Obstkäse-Stickern reingerammt?", frage ich meine Tante. Die wedelt ungeduldig mit ihrer Hand durch die Luft, sie findet das schon ganz selbstverständlich, dass die Schwestern so etwas tun, und zeigt auf einen zusammengesunkenen glatzköpfigen Mann. „Das ist der Herr Fessler!", kichert sie, „der Fabrikdirektor".
Ich muss ihn einige Zeit ansehen, erkenne ihn dann aber auch. Das Alter hat sie Luft aus ihm herausgelassen, ein zusammengesunkener, faltiger Schwimmreifen, manche Partien sind noch unangemessen prall und lebendig, seine Stirn zum Beispiel, die über zwei buschigen Augenbrauen glänzt, und andere Teile wie seine Arme hängen schon ganz unnütz und kraftlos an ihm herunter. Trotzdem ist er es, und nicht weniger als früher, auch wenn man immer gern davon ausgeht, als sei das wahre Selbst eines Menschen der Zustand, in dem er am gesündesten aussieht, das meiste Geld verdient und öfter als früher oder später davon überzeugt ist, mit seinen Entscheidungen und Meinungen unbedingt Recht zu haben, also irgendwo um die Vierzig herum. Dieser vorige Herr Fessler, bevor das Alter ihn auspresste und seine Hülle in dem Plastikstuhl dieser Station liegen ließ, war einer von Tante Magdas Kellergängen. Wenn man ihr glauben darf, bestanden die Fünfzigerjahre nur aus Partys, und die Partys waren voll von kulinarisch und sexuell ausgehungerten Menschen, die ungeduldig in ihren Anzügen und Etuikleidern herumstanden, mit Cognac anstießen, Toast Hawaii verschlangen, den neuesten Nierentisch oder Plattenspieler bewunderten und es kaum abwarten konnten, dass endlich eine Flasche leer wurde, damit zwei von ihnen in den Keller gehen und eine neue holen konnten. Eine Frau, um sie auszusuchen und mit einem Küchentuch sauber zu wischen, und der Mann, um sie in die Wohnung hinauf zu tragen. Tante Magdas Kellergänge waren legendär, und nie erzählte sie, was da unten zwischen Pappkartons und Einmachgläsern wirklich passierte. Es waren kichernd angedeutete, schwüle Geheimnisse. Meine Eltern wiederum waren beide Kinder der Sachlichkeit. Sie sagten ‚Geschlechtsverkehr’, ‚Promiskuität’ und ‚Verantwortung’ und hielten das für einen Fortschritt. Aber viel mehr interessierte mich das halbdunkle, verbotene, nie präzisierte Flaschenholen, von dem offenbar alle Partygäste wussten und das trotzdem zu Ohrfeigen und Scheidungen führen konnte, wenn auch nur ein Detail an die Öffentlichkeit kam. Herr Fessler brauchte besonders oft eine helfende Hand beim Aussuchen. Also bewaffnete sich Tante Magda mit einem Geschirrhandtuch und band auch eine bunt geblümte Schürze vor und folgte ihm in den Keller, nicht ohne ängstliche, miauende Laute von sich zu geben wegen der Dunkelheit und den möglicherweise vorhandenen Mäusen.
„Es ist immer gut, einen Herrn an der Seite zu haben", doziert sie, als hätte ich das abgestritten, und dirigiert mich an den Tisch. Die Schwester kommt heran, balanciert ein Tablett mit grünem und rotem Wackelpudding in Sektkelchen und trällert dabei ‚zwei kleine Italiener’. „So die Herrschaften", sagt sie und serviert, „was wäre eine Party ohne etwas Wackelpeter?"
Mir flüstert sie ins Ohr, dass man besonders auf die Flüssigkeit achten muss und die alten Leute ja immer zu wenig trinken. Herr Fessler greift mit zitternder Hand nach dem Glas, wird aber von der Frau neben ihm unterbrochen, die ihm zuzischt, ob er sie denn gar nicht vorstellen möchte. Sein irritiertes „wer sind Sie denn?" ignoriert sie mit zusammengekniffenen Lippen. Sie reicht mir eine mit Schmuck behangene Hand und richtet mit der anderen die Kappe auf ihrem frisiertem Haar. „Junges Fräulein, Frau Direktor Regine Fessler". Ich sage artig guten Tag.
„Meine Nichte", erklärt Tante Magda stolz. Der andere Mann neben Herrn Fessler springt auf und knallt die Hacken zusammen. „Wo sind Sie denn im Maidendienst?" Tante Magda raunt mir zu, ich solle ihn gar nicht beachten: Hermann Duckers, alter Mitläufer. Ich verstehe, ihn hat es, nachdem er aus der Zeit gefallen war, in einem braunen Erdloch abgeworfen, einer historischen Jauchegrube, das ist natürlich übel. Da haben es die beiden Fesslers besser, die Ewigkeit auf einer Käseigelparty zu verbringen, finde ich nicht so schlecht. Allerdings, und das wird schnell klar, feiern sie nicht dieselbe Party. Während Herr Fessler der begehrte, ledige Fabrikdirektor ist, der sich auf seinen nächsten Kellergang freut und sich von den Damen umschwärmen lässt, bleibt seine Frau die immer frisch ondulierte repräsentierende Gattin an seiner Seite, was nett wäre, wenn er sich daran erinnern würde. Aber er weiß nichts mehr von ihr. Und wenn er sich die Auswahl am Tisch ansieht, die mit Schmuck überladene und in einen Pelz gehüllte verkniffene Dame neben ihm, die ihm ständig ins Wort fällt und seine Krawatte mit ihrer Serviette abwischt oder die kokett lächelnde, mit einem großzügigen Ausschnitt geschmückte Magda, dann fällt ihm die Entscheidung leicht.
„Das ist mein Gatte", sagt Regine Fessler und sieht mich so lange an, bis ich den Blick senke. Tante Magda nickt ihr freundlich zu, unterbricht aber keinen Moment ihre Bemühungen, mit Herrn Fessler unter dem Tisch zu füßeln. Hermann Duckers packt mich fest am Arm und zeigt auf einen Nachbartisch, an dem eine weißhaarige Dame Aufsatzhefte korrigiert, „die da, die soll welche verstecken in ihrem Zimmer, die bringt uns alle in Gefahr". Ich nehme seine Hand von meinem Ärmel und sehe ihn finster an. „Warum waren wir noch mal hier?", flüstert Frau Fessler mir zu und spielt an ihren goldenen Armreifen. Ich drücke ihre Hand, und für einen Moment lächelt sie, aber ihre Mundwinkel heben sich kaum dabei. Dann verscheucht sie mich schon wieder wie eine lästige Fliege und kommandiert, dass man den Plattenspieler anstellen müsste und hebt triumphierend eine Augenbraue hoch, „nächste Woche bekommen wir ein Fernsehgerät."
Herr Fessler ist neben Tante Magda gerutscht und geht mit zwei Fingern auf ihrem Rücken spazieren. Sie blinzelt mir zu und sagt dann laut: „Wir haben überhaupt keinen Cognac mehr. Man müsste mal nachsehen, ob nicht noch eine Flasche da ist." Und Herr Fessler erhebt sich prompt, Magda schnappt sich eine Papierserviette und legt ihm im Weggehen ihre Hand auf den Arm, ohne Regine aus den Augen zu lassen, und führt ihn zu der Putzkammer hinter dem Schwesternzimmer. Ich seufze und denke einen Moment darüber nach, welches Erbe ich eigentlich zu tragen habe. Magda ist meine Tante mütterlicherseits. Die Verdorbenen kommen von Mutters Seite und die Verrückten von Vaters. Ich kann mich entscheiden, ob ich in die Niederungen hinabsteigen will oder in den Himmel auffahren wie die alte Cousine meines Vaters, die Visionen hatte und glaubte, sie sei mit Petrus verlobt und müsse aufs Dach steigen, um den Ehering von ihm zu empfangen. Regine Fessler starrt immer noch dem enteilenden Paar hinterher und ruft entsetzt ihren Mann zur Ordnung, aber der achtet nicht auf sie. Thekla beugt sich von hinten über sie, umfasst ihre Schultern und verlangt streng: „Pressen, Sie müssen jetzt pressen!" Hermann Duckers ist neben mich gerutscht und nuschelt „wie heißen Sie denn, mein Fräulein?" - „Haben Sie es nicht gehört?", sage ich, „der Russe hat gerade eben die Tür aufgebrochen." Hermann Duckers stürmt vom Tisch, die Schwester rennt hinter ihm her.
Ich beschließe, beim Weggehen einen Schein in die Kaffeekasse des Schwesternzimmers zu werfen und nehme mir ein Sektglas mit Wackelpudding, um auf Tante Magdas und Herrn Direktor Fesslers Rückkehr zu warten. Das kann dauern.