Mario Karl Hladicz: Die Lücke
Unlängst erwachte ich mit einem fremden Gefühl im Mund. Schlaftrunken wankte ich ins Bad und stellte mich vor den Spiegel, um mein Gebiss zu untersuchen. Eindeutig: links oben fehlte mir ein großes Stück eines Backenzahns. Sofort fühlte ich mich ungenügend. Ich fürchtete, eine Krankheit zu haben, in deren Verlauf man stückweise zerbricht/zerfällt/zerbröckelt. Existierte so ein Krankheitsverlauf, auch heutzutage noch? Ich strich mit der Zunge mehrmals über die havarierte Stelle. Scharf grenzte sich der betroffene Zahn von den anderen (sanfteren) ab. Dann folgte ein Loch in Form eines kleinen Dreiecks. Ich kam nicht umhin, noch in meinem Pyjama die Lücke metaphysisch auf mein Leben umzudeuten; auch hier fehlte ein schönes Stück. Ein wenig ratlos stand ich da. Ich wusste nicht, ob ich Zähneputzen sollte, wie der betroffene Zahn auf eine Annäherung der Bürste reagieren würde. Beim Streichen mit der Zunge über die Lücke jedenfalls empfand ich keinerlei Schmerz. Vorsichtig steckte ich sogar die Zungenspitze in die Lücke, soweit es ging. Dabei wurde mir klar, dass ich wohl von nun an viel Zeit mit dem Herumspielen an meiner Unvollständigkeit verbringen würde.Unweigerlich musste ich angesichts meiner neu entstandenen Lücke an meinen Vater denken. Vater war mittelschwerer Trinker und eines Abends ohne Zähne nach Hause gekommen. Er hatte schwer betrunken einen Autounfall gebaut. Später hatte er immer wieder lispelnd erzählt, wie er unmittelbar nach dem Unfall, noch stark benommen am Steuer sitzend, seine Zähne am Armaturenbrett verteilt liegen gesehen habe. Dieses Ereignis war, so bilde ich mir heute ein, der letzte Auslöser für den endgültigen Zerfall der Familie. Vater ließ seinen Makel nicht korrigieren, sondern ging von nun an zahnlos durch die Welt. Daraufhin verlor er seine Arbeit, was ihn jedoch nicht mehr weiter zu kümmern schien. Er hatte sich bereits in einem inneren wie äußeren Egalsein verloren. Der zahnlose, meist unrasierte Vater machte einen starken Eindruck auf mich. Ich beobachtete ihn still aus einer Ecke des Wohnzimmers, wie er mit offenem Hemd auf der Couch saß, in den Fernseher starrte, rauchte und Bier trank. Manchmal konnte ich einen Blick in seinen Mund, ein schwarzes Loch, das alles und nichts bedeutete, erhaschen. Allerdings durfte ich ihn nicht allzu lange bewundern, da er Mutter und mich wenige Wochen später verließ. Bis heute weiß ich im Grunde nicht, ob er uns von sich aus verlassen wollte, oder ob Mutter ihn letztlich vor die Tür setzte. Es handelte sich wohl um ein Mittelding, um einen stillen, unausgesprochenen Kompromiss; in diese zu Hause vorherrschende Kultur der Andeutung, des Vagen bin ich hineingewachsen und davon bis heute beherrscht. Auch der endgültige Abschied des Vaters wurde nicht angekündigt. Ich begriff ihn nur, weil ich an diesem Tag gezwungen wurde, länger als gewöhnlich auf Vaters Schoß zu sitzen und mich an seine stachelige Wange zu drücken. Als er aufstand, klammerte ich mich an sein Hosenbein, um ihn nicht gehen zu lassen, und ohne einen Blick nach unten zu werfen, schleifte er mich gleichmütig bis zur Haustür mit sich; gerade so, als wäre dies der angemessene Abschied.
Vor dem Spiegel stehend, meinen offenen Mund betrachtend, bekam ich es mit der Angst zu tun. Ich fürchtete, die Lücke bedeute den Beginn einer persönlichen Negativentwicklung, an deren Ende ich als zweitklassige Kopie meines gescheiterten Vaters dastehen würde. Noch war es nicht zu spät! Noch konnte ich dagegen steuern! Sofort wollte ich einen Zahnarzt aufsuchen und putzte mir vorsichtig die Zähne. Den Bereich um die Lücke mied ich. Wenig später trat ich aus der Wohnung, in Gedanken noch immer dem abwesenden Vater nachhängend. Ich wusste nicht einmal, ob er noch lebte. Sein letzter mir bekannter Wohnort, ein kleines Häuschen, war mittlerweile wie sein Mundraum eine Ruine; ich war einige Male daran vorbei gefahren. Wie damals als kleines Kind über Vaters nicht vorhandene Zähne staunte ich nun über seine nicht vorhandene Behausung. Wie geradezu aufdringlich sich das gescheiterte Leben eines Menschen in starren Dingen nach außen kehrt, um auch für den letzten Dummen klar ersichtlich zu sein!
Ich kannte keinen Zahnarzt in der Stadt und so wanderte ich ein wenig ziellos umher und hoffte, per Zufall an irgendeiner Haustür ein Zahnarztschild zu entdecken. Ich stellte mir vor, wie ich den Behandlungsraum betreten und den Zahnarzt über meine Lage aufklären würde: „Ein Teil meines Ungenügend-Seins ist in Form eines Zahnabbruchs links oben evident geworden. Stoppen Sie meinen Verfall!" Der Zahnarzt würde nur verständnislos dreinschauen und mich bitten, den Mund aufzumachen. Wenig später würde ich die Praxis wieder als einwandfreies Mitglied der Gesellschaft verlassen (aber nur oberflächlich!). Wie ich durch die Straßen ging, spielte ich in meinem Kopf eine bereits altbekannte Vaterphantasie ab: ich stellte mir vor, ich würde Vater (lange und verzweifelt) suchen und (endlich) finden, würde mit ihm in ein Gasthaus ein Bier trinken gehen und in den Pausen zwischen dem Trinken kein Wort des Verdrusses oder Klagens verlieren. Ich würde ihm nicht vorwerfen, dass er seine kleine Familie in das Unglück gestürzt hat und mit der Zeit würde Vater sich ein wenig aus seiner verkrampften Haltung befreien und sich sogar trauen, mich anzusehen. Später würde ich den Wirt herbeirufen, die Rechnung begleichen, Vater die Hand schütteln und für immer aus seinem Leben verschwinden. Dies war die idyllischste Vorstellung eines Vater-Sohn-Treffens, das ich mir auszumalen imstande war. Auf der Straße kam mir bald ein entfernter Bekannter entgegen. Ich kannte den Mann gerade so gut, dass wir beide wohl kurz stehenbleiben und einen Plausch über die alltäglichsten Dinge hätten führen sollen. Natürlich war dies aufgrund meiner Lücke unvorstellbar. Kurz bevor wir aufeinandertrafen, wechselte ich deshalb die Straßenseite. Wie ich auf der anderen Straßenseite ankam, wurde meine Vatersehnsucht von einer neuen Sehnsucht abgelöst beziehungsweise um eine neue erweitert: ich wünschte mich mit einem Mal fort. Diese Sehnsucht überrumpelte mich, da ich Fernweh bislang lediglich aus Romanen gekannt, jedoch nie selbst verspürt hatte. Ich hatte die Vorstellung, mit einem vorübergehenden Ortswechsel auch seine Sorgen und Nöte vorübergehend über Bord werfen zu können, stets für ein handfestes Missverständnis gehalten. Milde lächelnd hatte ich die Urlaubspläne der Menschen um mich herum als ungeschickte Fluchtmanöver vor dem eigenen Lebensgefängnis abgetan. Nun, als ich die bekannten Häuser und Straßen, die gelangweilten Gesichter der Passanten und die ewig aufgeschreckten, verschmutzten Tauben auf dem Gehweg sah, wünschte ich mich in ein fernes Land, in dem mich niemand kannte und mir niemand mein Ungenügen zum Vorwurf machen konnte. Ich sehnte mich entweder nach einer glitzernden, aufregenden Großstadt, in der es immer etwas Neues zu sehen gab, oder aber nach einer kargen, leeren Landschaft, die mit meiner eigenen Öde quasi perfekt abgestimmt wäre. Natürlich kam eine Reise für mich nicht in Frage. Ich hatte weder das nötige Geld, noch das notwendige Durchsetzungsvermögen, um spontan einen Koffer zu packen (besaß ich überhaupt einen Koffer?) und eine Reise in die Wege zu leiten. Da ich meiner plötzlichen Reisesehnsucht jedoch zumindest einen kleinen Erfolg gönnen wollte, schlug ich den Weg zum städtischen Bahnhof ein. Im Getümmel der ankommenden und abfahrenden Reisenden wollte ich meiner Sehnsucht ein wenig Raum geben, auf dass sie es sich im Angesicht der dort stattfindenden Aufregung und des Trubels noch einmal überlegen und sich schließlich wieder sanft von mir entfernen würde. Am Bahnhof traf ich nicht auf den Trubel, den ich erwartet hatte. Es war Juli, war das nicht die Hauptreisezeit? Oder reiste man mittlerweile nicht mehr mit Zügen, waren diese bereits zu einem Relikt aus vergangenen Tagen verkommen? Man (ich) hörte ja, dass das Reisen mit dem Flugzeug schon vergleichsweise billiger sei… Fliegen war für mich jedoch völlig ausgeschlossen, sogar rein hypothetisch. Ich stellte mich an ein Terminal, an dem man selbst eine Reiseroute zusammenstellen konnte. Nach kurzem Überlegen gab ich ein: nach Prag waren es von meiner Stadt aus 623 Kilometer, nach Paris rund 1400 Kilometer, nach Treviso 290 Kilometer. Mir waren nur Orte eingefallen, an denen ich die Grabstätten meiner Lieblingsautoren Kafka, Bove und Svevo hätte besuchen können. Meine Reise verkäme zu einer hochliterarischen Friedhofstour! Hinter mir stellte sich schon jemand an, der wahrscheinlich eine ernsthaftere Fahrplanauskunft benötigte. Hastig löschte ich die von mir gesuchten Orte auf dem Eingabefeld; ich hatte das Gefühl, der Mann hinter mir könnte bei dem Wort „Treviso" erkennen, dass es sich bei meiner Erkundigung lediglich um eine blöde Gedankenspielerei handelte. Schnellen Schrittes, so als ob ich einen in Kürze abfahrenden Zug erwischen müsste, entfernte ich mich. Unschlüssig wanderte ich durch die Bahnhofshalle. Schon begann eine kleine Bedrückung in mir Raum zu greifen, da ich so leichtfertig meinen vorbeihuschenden Sehnsüchten nachgab und meinen Tag so sinnlos vertrödelte. Immerhin hatte ich eine handfeste Zahnlücke, ein Problem, das rascher Lösung in Form eines Zahnarztbesuches bedurfte! Da fiel mein Blick auf die Obdachlosen, die in kleinen Gruppen vor der Bahnhofshalle zusammenstanden und Dosenbier tranken. Die meisten lachten aus stark havarierten beziehungsweise komplett zahnlosen Mündern. Unweigerlich musste ich wieder an meiner Lücke herumspielen. Ich hatte das Gefühl, mit der Zunge schon tiefer in das Loch vordringen zu können. Löste sich mein Zahn auf? Ich nahm die Obdachlosen als erneute Warnung: Handle sofort! Steuere dagegen! Ein Hund konnte mich kurzfristig von meiner Zahn- und also Existenzangst befreien; ich sah, wie er eine am Boden liegende Brezel aufschnappte und im Maul mit sich forttrug. Ich hatte Hunger und fragte mich, wie lange ich wohl noch ohne Essen auskommen konnte. Ich hatte Angst, dass während meines Zahnarztbesuchs womöglich mein Bauch zu grummeln beginnen würde und in diesem Moment schämte ich mich auch schon so, als wäre diese Angst Wirklichkeit geworden. Um mich von meinen Grübeleien zu lösen, stellte ich mich vor die elektronische Anzeigetafel und ging die Liste der in nächster Zeit ankommenden und abfahrenden Züge durch. Es war nichts Exotisches dabei, lediglich einige kleinere Regionalzüge, die in nahegelegene Ortschaften fuhren oder von diesen kamen. Mit der Vorstellung, einem abfahrenden Zug hinterher zu sehen, stellte ich mich draußen an den Bahnsteig. An den Mienen der wenigen dort Wartenden, die allesamt schwarze oder graue, selten braune Koffer oder Trolleys neben sich stehen hatten, konnte ich nicht ablesen, ob sie die Abfahrt herbeisehnten oder ihr wehmütig entgegenblickten. Sie standen einfach da, weiter war nichts. Schnell wurde mir bei diesem alltäglichen Bild langweilig und ich flüchtete mich in eine kleine Phantasie, um meine bereits schwindende Sehnsucht künstlich noch ein wenig aufrecht zu erhalten; Als der Zug einfuhr, stellte ich mir vor, darin befände sich ein Mensch, der sich schweren Herzens von mir trennen müsste. Der Abschied, so bildete ich mir ein, wäre für immer und so wurde ich beim Anblick der einsteigenden Fahrgäste auch wirklich bald traurig. Auch der Mensch im Zug, der mittlerweile seinen Koffer verstauen und sich an einen Fensterplatz setzen würde, wäre untröstlich, denn ich wäre ihm über viele Jahre der wichtigste Freund gewesen; und während der Zug losrollte, würde er sich seiner Tränen nur ein wenig schämen. Von meiner Phantasie beglückt beziehungsweise bedrückt konnte ich mich nur schwer beherrschen, den Menschen in dem sich nun langsam in Bewegung setzenden Zug nicht nachzuwinken. Als der Zug außer Sichtweite war, blieb ich still zurück. Hatte mich auch niemand vergessen? Ich wünschte mir, dass mich ein gewissenhafter Bahnhofsangestellter abholen und in einen Raum für von den Fahrgästen Zurückgelassenes bringen würde. Dort würde ich warten, unbeweglich, aber in stiller Hoffnung, dass mich eines Tages ein freundlicher Mensch abholen und mit sich nehmen würde. „Da bist du ja! Gott sei Dank!" würde der Mensch bei meinem Anblick erleichtert ausrufen und auch mir würde ein Stein vom Herzen fallen, da ich endlich nicht mehr alleine wäre. Ich ging in die Bahnhofshalle zurück, stellte mich in die Nähe einer Würstelbude und sah dem Mann in der Bude dabei zu, wie er das Fleisch auf seinem Grill regelmäßig wendete. Dabei kam ich über meine Wünsche ins Denken. Es überraschte mich und überraschte mich nicht, dass ich mich innerhalb kurzer Zeit nach einem Vater, einer Reise und einem (mich verlassenden) Freund sehnte. Denn natürlich waren diese einzelnen Sehnsüchte nichts anderes als Bausteine jener großen Sehnsucht nach einem anderen Leben. Doch dieses Leben war für mich nicht zu bekommen. Ich machte mir klar, dass mein abwesender Vater, meine Trägheit und mein Alleinsein eben mein Leben und das letztlich ergebnislose Nachdenken darüber wohl das Hauptereignis dieses Lebens war. Diese Erkenntnis ließ mich innerlich erzittern. Ich wusste sofort, dass ich in diesem Zustand einen Zahnarzt nicht würde aufsuchen (können); etwas Amalgam würde nicht reichen, um meine Lücke zu füllen.