Home       Locations       Events       Unternehmen       Lesungen       Kontakt       Impressum       English      

Myriam Witt: Keine Sehnsucht mehr nach Matjes

Der Herbst ist die beste Zeit für Spaziergänge. Fynn springt voraus, das gefallene Laub raschelt unter seinen wirbelnden Pfoten. Er steckt die Nase hier und dort hin. Ich wandere ihm nach. Durch den lichten Buchenwald, im Frühling wie eine Kuppel hellen Grüns, von der Sonne zum Leuchten gebracht, im Sommer ein dunkler Ort der Erholung von der glühenden Hitze, jetzt im Herbstlicht unter den letzten Sonnenstrahlen ein Wechsel von kupferroten Schattierungen bis zu einem leuchtend warmen Goldglanz. Über die rechte Hügelflanke schaut man zwischen den Baumstämmen hindurch über die große Weide zu den Gehöften von Harries und Seekamp. An manchen Stellen fällt die Sonne zwischen dem ausgedünnten, bunten Blätterdach bis auf den Waldboden. Man kann sich auf dem Rücken in ein Sonnennest auf das Moos legen und zwischen die Blätter kuscheln. Fynn rollt sich an meiner Seite ein und legt die Schnauze auf mein Bein. Ich döse in einen Halbschlaf hinein und erwache mit dem Gefühl, soeben noch den Grund des Lebens und das Wesen der Dinge gekannt zu haben.
Der Hügel senkt sich nach Westen hin zu einem kleinen Bach. Zwischen den Bäumen steigen wir hinunter zu der kleinen Holzbrücke, die Jon darüber geschlagen hat. Das schräg einfallende Herbstlicht glitzert auf dem Wasser. Auf der anderen Uferseite geht es durch die Tür im Holzzaun auf den Grasweg, der unterhalb von Jons und Bärbels Haus zu ihrer Obstbaumwiese führt. Bärbel steht an der unteren Ecke ihres Gartens und ruft uns hinauf. Fynn springt vorneweg. Freudige Begrüßungen sind das Beste, was er kennt. Er bekommt eine Schale Wasser aus der Regentonne serviert. Ich bekomme ein Glas Wasser mit Holunderblütensirup. Und wir sitzen ein Weilchen an der vom Wind geschützten Hauswand in der untergehenden Sonne. Jon, Bärbel, Fynn und ich. Jon sagt Lumpi zu Fynn und Bärbel lässt ihn den Rest eines Joghurtbechers auslecken.
Auf dem Rückweg steigt eine dunkle Regenfront über dem westlichen Hügel auf, erstickt das letzte Licht des dunklen Herbstabends und umhüllt uns mit einem rauschenden Platzregen und einer unwirklichen Weltuntergangsstimmung.
Bärbel und Jon haben wir kennen gelernt, nachdem wir hier hinaus gezogen sind, in eine Landschaft, gesprenkelt mit alten Einzelgehöften, deren direkte Nachbarn einen Kilometer entfernt wohnen. Jon, der gerade nach einer Magenkrebsoperation aus dem Krankenhaus kam, und Bärbel, die das Wesen der Landschaft und ihrer Jahreszeiten mit einem Kochlöffel auf den Teller zaubern kann. Jon, den sie im Dorf Jon Holland nennen, mit einer Stimme, die sein deutsch-niederländisch so weich macht wie ein Vanillesorbet seiner Frau, unterbrochen von gutturalen, kratzigen Tönen wie die Kerne der Himbeeren auf dem Sorbet.
Ich esse bei Bärbel, ich schwelge, ich völle, ich schlemme. Ich werde jahrelang treue Verehrerin ihrer Kunst. Manchmal werden wir Tage zuvor geladen. Auf dem massiven Holztisch steht feinstes Porzellan auf schwerem Damast. Die Gläser schimmern im Licht der rötlichen Glut des gusseisernen Ofens. Zum Fischauflauf im Sommer werden meerblau geränderte Teller gedeckt und Muscheln dekorieren die Tafel. Zum Rehrücken im Herbst ist das Porzellan rostrot und kontrastiert mit dem frisch geschnittenen Tannengrün. Wenn ich unangekündigt komme, gehe ich zur passenden Abendzeit den Hügel über die Weide hinter Seekamps Hof hinunter. Bärbel kann Fynn und mich durch das hohe Gras streunen sehen, wie wir über den Bach am Fuß des Hügels springen und für einen Moment aus ihrem Blickfeld verschwinden, während wir durch den Zipfel des Wäldchens kreuzen. Sie tut eine Hand voll zusätzlicher Kartoffeln von Jons Acker neben der Streuobstwiese in den Topf und macht einen extra Salatteller, mit Mozzarellabällchen und Kirschtomaten, die Jon an der Südseite hinter ihrem Haus gepflanzt hat, mit einem Gemisch aus Ölen und Gewürzen, deren Namen Verheißungen sind.
"Mädchen", sagt sie, wenn sie mich zum Abschied in den Arm nimmt,
wenn Du bei mir wohnen würdest, hättest Du ein bisschen mehr gesunden Speck auf den Rippen."
Jon fragt in vertrauter Gewohnheit, ob es geschmeckt hat."Ja", sage ich, den Nachgeschmack noch auf der Zunge,
ganz wunderbar".
"
Na, dann ist es gut."
Im Sommer fällt Jon von der Leiter. Einfach so. Nicht weil er eine Sprosse verpasst hat oder weil die Leiter gerutscht ist. Er ist Zimmermann gewesen. Leitern sind für ihn ein alltägliches Werkzeug, ein Klacks, keine Gefahr. Manchmal schaut er erstarrt in die Ferne. Seine Pupillen sind eng, im Hellen genauso wie im Dunklen. Er stolpert über die Schwelle der Eingangstür. Er stolpert über Baumwurzeln im Wald. Im Winter verliert er die Geschmeidigkeit seiner Bewegungen. Sie weicht von ihm wie die federnde Elastizität aus auf dem Tisch vergessenem, austrocknendem Weißbrot. Er klagt über ein schmerzendes Knie. Er klagt über schwere Kopfschmerzen. Manchmal verschluckt er sich beim Essen. Seit dem Magenkrebs teilt Bärbel die Mahlzeiten anders ein. Mehrere kleine Mahlzeiten, den Tag über. Abends den Höhepunkt des Tages mit dem warmen Essen. Die tägliche Kunst auf dem Teller. Jon liebt das Essen."Gestern", sagt er, wenn er zu einem Schwatz auf unserem Hof anhält,
gestern hat die Frau Hering gemacht, Matjes, mit Sahnesoße, Zwiebelchen, Piementkörnern, Lorbeer".
"
Mmh", macht er und spitzt den Mund zu einem anerkennenden Küsschen in Bärbels Richtung.
Ganz was Feines".
Bärbel lacht, hat rosige Wangen und klapst ihn auf den Oberarm, bevor sie sagt, er gefällt mir nicht. Er ist anders. Irgendetwas stimmt nicht. Und irgendetwas stimmt tatsächlich nicht. Er hatte sich nie groß an unserem Gerede beim Essen beteiligt. Schnack, schnack, sagte er und parodierte unsere Münder mit seinen Händen. Frauen, sagte er, schüttelte unverstehend aber gutmütig den Kopf und genoss seine Mahlzeit. Aber jetzt brütet er auf seinem Stuhl, tatenlos, blicklos, wortlos. Während er sich vorher zufrieden in den Worten unseres Redeflusses treiben ließ wie in entspannender Tischmusik aus dem Hintergrund, bekommt er sie jetzt nicht mehr mit, oder ist irritiert und böse, dass er uns nicht versteht. Der Hausarzt schickt ihn zum Neurologen und der Neurologe sagt Morbus Binswanger, Multiinfarktsyndrom und auch ein wenig Parkinson.
Jon verkauft die Maschinen, die Kreissäge, die Stichsäge, die Kappsäge. Er verschenkt die Äxte, die Hämmer, die Keile, verschenkt sein letztes Holz. Er räumt auf, mit seiner Werkstatt, mit seinem Beruf, mit seinem Leben. Im Frühjahr fällt Jon vom laufenden Rasentraktor. Der Rasen ist ohnehin ein Flickenteppich aus gemäht und ungemäht, der Bärbel die Tränen in die Augen steigen lässt. Die stehen gebliebenen Streifen bezeugen so unverleugbar den zunehmenden Koordinationsverlust. Jon hat jetzt ständig blaue Flecken. Er fällt auf dem langen, von Eichen gesäumten Weg nach unten zur Dorfstraße, wo der Postkasten steht. Er fällt an den zwei Stufen der Außentreppe. Er fällt die Treppe im Haus, er fällt vom Stuhl. Der Stuhl zerbrochen, die teure Marmortischplatte zerschmettert, die Weinflaschen zersplittert. Er ist grün, gelb und blau. Wenn er einen guten Tag hat, einen Tag an dem er aus dem Käfig seiner Krankheit heraustritt, als gehe er einen Moment an die frische Luft, scherzt er, so könne wenigstens jeder sehen, was er für eine Frau erwischt habe. An manchen Tagen ist er sich der Ungeheuerlichkeit dessen, was mit ihm vorgeht, bewusst. Dass sein Gehirn nicht mehr verlässlich ist, dass sein Körper sich den Befehlen seines Kopfes entzieht. An manchen Tagen erzählt er fröhliches Kauderwelsch, in einem Mischmasch zweier Sprachen, in verwaschener Phonetik. Ungereimtes Zeug, dessen er sich nicht bewusst ist und das er nicht tragisch nimmt. Geblieben ist ihm die Lust auf und der Genuss beim Essen. Und Bärbel kocht. Kocht mit Liebe und Verzweiflung, kocht gegen das drohende Schicksal an, das sich über ihnen zusammenballt, wie die Herbstgewitter über dem westlichen Hügel. Jon bekommt kein Messer mehr. Er bekommt alles klein geschnitten. Dahin ist die Schönheit der kunstvoll angerichteten Mahlzeit. Das Fleisch in kleine Striemel vorgeschnitten, die Kartoffeln in der Soße zermatscht. Statt einer farblich passenden Serviette bekommt Jon ein großes Handtuch in den Hemdausschnitt gesteckt. Mit einem Löffel jagt er ungelenk das Essen über den Teller auf das Tischtuch.
Happ-happ" sagt Jon, wenn Bärbel ihn an den Tisch setzt, happ-happ", wenn sie ihm den Löffel zum Mund führt und
mmh", wenn er sich mit der Hand über seinen Bauch fährt und genüsslich schmatzt.
Wann immer Bärbel das Haus verlässt, muss Jon mit. Er könnte das Türchen zum Ofen offen lassen, er könnte die Treppe hinunter fallen, er könnte draußen auf dem Eis ausrutschen und stundenlang in der Kälte liegen. Und Jon hat angefangen wegzulaufen. Er müsse zur Arbeit sagt er, steht nachts um zwei auf und stolpert, immer mitten auf der Straße, in Richtung Dorf. Er müsse zum Sägewerk, der Albert erwarte ihn. Er müsse etwas beim Nachbarn richten. Seine Bewegungen sind ungelenk, sein Gang zwischen erstarrtem Rattern und haltlosem Vorwärtstorkeln, aber seine Kräfte sind ihm geblieben. Will man ihn aufhalten, schlägt er um sich, ist in höchstem Maße erregt und böse, hartnäckig in dem Gedanken an Albert, das Sägewerk oder den Nachbarn verfangen. Still geht Bärbel ihm nach, die Tränen laufen ihr über die Wangen, sie hilft ihm auf, wenn er gefallen ist, dirigiert ihn nach hause, wenn er sich wieder steuern lässt. Sie kann ihn nicht mehr allein lassen. Sie kann nicht mehr mit ihm durch den Wald spazieren. Sie kann nicht ohne ihn durch den Wald. Seit Monaten war sie nicht im Wald, nicht am Bach, nicht im Chor, nicht im Dorf. Sein Gefängnis wird zu ihrem Gefängnis.
Im Februar fällt Jon und bricht sich die Wirbelsäule. Das Rückmark ist eingequetscht. Notoperation. Fünf Wochen auf der Intensivstation. Jon mag das Krankenhausessen nicht, mag nicht, sich von Fremden füttern zu lassen. Das Schlucken ist beeinträchtigt. Er verschluckt sich, hustet, würgt, bis sein Gesicht von rot zu blau wechselt, spuckt das Essen wieder hervor. Bärbel kocht Essen, püriert es, kommt zweimal am Tag für viele Stunden und füttert Jon. Bärbel, die früher passendes Essen zu den Jahreszeiten und den Stimmungen zauberte, kocht jetzt passend zu den Krankheiten. Reis geht nicht, zu körnig. Kartoffelbrei ist gut und Götterspeise. Labskaus. Gestampfte Kartoffelsuppe. Für Jon, der das Essen noch immer mag, noch immer strahlt, wenn es nach seinen Lieblingsgerichten riecht. Jon kommt nach hause. Das Pflegebett steht im Wohnzimmer vor der großen Glastür zur Terrasse. Toilettenstuhl. Urinflasche. Inhalationsgerät. Stützschuhe. Windeln. Bärbel fährt ihn zum Hausarzt, zur Beschäftigungstherapie der Diakonie, zur Krankengymnastik, zur Atemtherapie. Siebenmal täglich Tabletteneinnahme, auf die Stunde genau. Bärbel dosiert seine Tabletten so fein wie ihre Gewürze, sie spielt auf der Klaviatur der Pharmakologie, in dem Rahmen, den sie mit den Ärzten besprochen hat und anhand von Jons Reaktion. Zu schläfrig, zu antriebslos, zu unkoordiniert, zu erregt, zu traurig, zu aufgebracht. Eine Vierteltablette mehr hiervon, diese Kapsel eine Stunde später und jene nicht nach dem Abendbrot, sondern direkt vor dem ins Bett gehen. Und immer noch bekomme ich ein Glas mit Untersetzter und Fliegenschutz, wenn wir draußen unter der großen Kastanie sitzen. Jon in dem großen Lehnstuhl, der ihn stützt, und aus dem er nicht mehr alleine aufstehen kann, Bärbel, ich und der Nachfolger von Lumpi. Im Kräutergärtchen zwischen Rosmarin, Schnittlauch, Liebstöckel drängen sich Disteln, zwischen Petersilie, Oregano und Majoran schießen die Brennnesseln empor.
Ein paar wenige Freunde sind noch da. Die Bekannten sind auseinander gestoben wie ein Haufen aufgeschreckter Spatzen. Es wird einsam um die beiden. Bekannte mögen keine Erstickungsanfälle beim Essen, keinen Speichel im Bart, kein haltloses Furzen. Sie mögen keine Krankheiten, keinen Hinweis auf Sterben und Tod, sie mögen nicht die Trübsal, die sich auf das Haus gesenkt hat. Bärbel geht mit Jon nicht mehr auf Geburtstagsfeiern, nicht auf den siebzigsten von Heinz, nicht auf den achtzigsten von Anneliese. Es ist schwer, Besuche bei anderen zu organisieren. Die Tabletten, die Lätzchen, die Windeln. Es ist schwer, das Füttern, Verschlucken und Ausspucken der Öffentlichkeit entsprechend und dem Anlass angepasst zu sortieren. Bärbel sagt, sie kann nicht mehr. Soll er doch weglaufen, soll er doch hinfallen, ich kann es nicht mehr. Ich kann nicht jede Nacht dreimal aufstehen, ich kann nicht alles im Voraus bedenken, ich kann nicht stundenlang schlaflos auf das Babyphon hören, ich kann nicht vierundzwanzig Stunden am Tag Ehefrau, Köchin, Pflegerin, Krankenschwester, Taxifahrer, Putzfrau, Waschfrau, Einkaufsfrau, Aufpasserin, Trösterin, Unterhalterin, Gefängniswärterin sein. Ich kann nicht mehr. Wenn er keine Sehnsucht mehr nach meinem Essen hat, wenn er nicht mehr weiß, was auf dem Teller ist, wenn es keinen Unterschied mehr macht, was auf dem Löffel ist, der ihm zum Mund geführt wird, dann ist Endstation, dann gebe ich ihn ins Heim.
Wir gucken uns über die Reste vom Matjesheringsalat hinweg an. Den Hering, der seit Jahrzehnten eines seiner Lieblingsgerichte war, den Hering, von dem Jon dabei ist, zu vergessen, dass er ihn mag.