Christine Zureich: Stoccolma del Sud
Als Liebhaber nach Venedig fahren, als Tourist, aber nicht so. Larsson, Jan, 42, Personennummer 690320-4359, Beruf: Künstler. „Künstler", das ist, wie früher Freitags mit gefälschter Legitimation bei System Bolaget Schnaps kaufen. Kurz vorm Auffliegen. Wenigstens war damals Hochspannung, nicht künstlerisch, aber kleinkriminell und sexuell, wenigstens das. Heute wird einem nur der Magen flau, wenn man sich in die Schalterschlage einreiht, Schecks in beiden Händen. Völlig irre Summen, die Leute so auf Papierlappen schreiben. Verwendungszweck: „Skulptur typ 01.291.91" oder „Readymade.2". Warten auf höhnisches Gelächter vom Banker oder das Klicken von Handschellen. Systembolaget for ever. Doch nichts passiert. Es ist wahr: Der Künstler Larsson hat Erfolg. Er hat das Geld verdient, diese irren Summen. Man hat ihn sogar eingeladen, ganz offiziell eingeladen. „Der Ritterschlag", hieß es unangenehm pathetisch in Dagens Nyheter. Aber in seinen Adern würde nie blaues Blut fließen, höchstens Schweinepisse. Ehrlich, Herkunft lässt sich weder kaufen noch verleihen. Ledereinbandbibliotheken, Vitrinenporzellan, Ölbildahnengallerie: Es dauert Jahrhunderte, sie zusammen zusammeln, diese Beweise, dass man dazugehört, und gehört wird, selbst wenn man nichts zu sagen hat. Zuhause schoss man Polaroids. Großfamilien beim Essen, Kartoffeln im Mund und Fleischbälle. Erinnerungsbilder. Auf keinen Fall Kunst. „Künstler" klingt absurd auf Formularen oder laut gebrüllt auf einer Party, um Musik zu übertönen. Aufschneider.
„Die Augen deiner Mutter sind rotgeweint, Sohn! Fehlt nur noch, dass du mit einem Mann ankommst, dann bringst du sie ins sichere Grab. Kannst du nicht was normales machen, wie alles andern auch? Nisse zieht gerade die dritte Garage auf. Im Juni ist es soweit. Du kommst doch zur Party? Da hat Pernilla das zweite dann auch."
Jan knallt den Hörer auf und beschließt, erst Weihnachten wieder anzurufen. Das Kuvert mit dem Zeitungsausschnitt, schon frankiert und so gut wie auf dem Weg nach Skåne, zerreißt er bis es kleiner nicht geht. „Rekordrendite" war der Titel. Ein skandinavisches Wirtschaftsblatt. Das Archivbild zeigte ihn mit einer heftigen Frisur. Haare überall, in alle Richtungen. Muss ein paar Tage her sein; heute tut sich auf dem Kopf nicht mehr viel. Aber schlimmer noch: Drinnen auch nicht. Lange her, Jung und Wild. Jeden Morgen rasiert Jan sich unter der Dusche in einer einzigen langen Bewegung vom Nacken zum Kinn. Glatt. Nackt.
Die Preise für einen Larsson haben sich nahezu vertausendfacht in den vergangenen sieben Jahren. Tausend. Drei Nullen mehr. Absurd, völlig absurd: Je weniger ihm einfällt, desto gieriger reißen es ihm die Leute aus den Händen. Das muss einen doch umhauen. Wie soll man an sich glauben, wenn man genauso gut in die Ecke scheißen könnte und alle würden applaudieren? Bengt af Hederstad ist unzufrieden. Sagt er jedenfalls, sehen tut man es nicht; das Siegerlächeln auf dem fleischigen Gesicht ist nicht totzukriegen. Jan hat sich sowieso nur widerwillig nach Norrmalm geschleppt. Als der Alte die Galerie noch führte, war das was anderes, der hatte Ahnung, Kunstsinn, man ging gerne hin. „Hederstads" war ein Ort der Inspiration. Und jetzt Bennes feistes Lächeln, diese Gewissheit – am Ende läuft es doch auf ein Happy End hinaus, egal was. Bockmist und gequirlte Scheiße, verdammt.
Je nachdem, in welcher Verfassung Jan sich befindet, beneidet er Benne auch offen. Ein komfortables Leben. Nicht kämpfen um alles, zugleich nach oben und nach unten. Einen Platz haben, auch ohne jedes Talent. Einmal mit Bengt tauschen, ein einziges Mal diese Gewissheit. Nur vier Stunden liegen zwischen ihrer Geburt, gleiches Sternzeichen. Zwillinge, bis auf die Herkunft.
„Ich dachte, Künstler drängen zur Revolution, zum Niederreißen von Überkommenen. Aber du, du sehnst dich nach einem Stammbaum. Du und dein krankhafter Neid auf dieses urschwedische Gallerieschwein." Die letzte Auseinandersetzung, bevor Ulla auszog. Sicher, der Vorwurf war nicht der Trennungsgrund, aber doch ein letzter Erdstoß. Der Abgrund zwischen ihnen klaffte endgültig zu weit auf.
Bengt klopft ihm auf die Schulter. „Hey, Jan, Mann, du schaust also doch noch mal vorbei vor der den Oscar-Verleihung, hä…And the winner is…Jan Larsson, Applaus, Applaus! Pass auf, die Groupies und die Parties werden dich wieder in Stimmung bringen, Jan. Art is sex, du, da läuft was, ganz sicher. Es muss doch weitergehen, auch hier mit uns, Mann! Ringedingding, es ist ja nicht so, dass die Leute nicht mehr kaufen wollen, es gibt einfachen keinen Larsson mehr zu kaufen. Der Markt ist leer, empty, Jan. Was ist los? Immer noch kein Ende der Mid-Life-Crisis in Sicht?" Bengt lacht wie immer zu laut und wieder klopft er Jan auf die Schulter. Mit der anderen Hand streicht er sich eine glänzende Strähne aus der runden Stirn. „Ich dachte, du bist durch mit Ulla, oder is es schon ne Neue?"
Jan ringt mit seinen Gesichtszügen. Zu viel Haarwachs, aber einem Bengt af Hederstad kann man nicht zeigen, wie widerlich man ihn findet. Zu gute Kontakte. An Hederstads kommt man nicht vorbei in diesem Land, auch wenn der Alte schon vor drei Jahren übergeben hat. Jan ist irgendwie mit in die Erbmasse hineingeraten.
Benne hatte ihn schon ‚Schweinejan’ getauft, bevor der Champagner auf der ersten Vernissage ausgeschenkt war; der Alte hatte ihn gerade frisch entdeckt. Ausgerechnet Benne mit den rosigen Backen und breit gestreifte Hemden, die über dem Bauch spannen. Aber er hat seine Kindheit nicht auf einem Hof in Skåne verbracht. Dabei hatten sie zu Hause nur zwei Sauen für den Eigenbedarf, Würste im Herbst. Überhaupt waren sie ein reines Milchdorf. Keiner von dort war jemals in Venedig, nicht mal auf Kaffeefahrt. „Nach der Biennale mach ich Schluss, egal was". Langsam spürt Jan wieder die kalte Panik aufsteigen, die der Gedanke an Italien neuerdings in ihm auslöst. Sein Beitrag ist schlecht, schlecht, schlecht. Dieser verfluchte Medienrummel! Talkshows, ein Werbespot für Tiefkühlfisch und ständig irgendwelche Interviews. Totalblockade, natürlich angeleiert von Benne. Upplands Nyheter titelte: „Die Sehnsucht nach dem Süden – Stockholms Jan Larsson als Kulturbotschafter Schwedens" und Svenska Dagbladet hatte in seinem doppelseitigen Kunstmarkt-Special die Frage aufgeworfen, ob derzeit nur deshalb kein Larsson auf dem Markt sei, weil sich der Künstler und sein Galerist einen exorbitanten Biennale-Bonus erhofften. Würden sie immer noch so schreiben, wenn sie seinen Beitrag gesehen hätten?
„Der große Biennale Bluff", „Jans Crash in Venedig", „Larssons Lächerlichkeit". Ihm fallen noch unendlich viele Varianten dieser Schlagzeilen ein.
„Jan, Jan?"
Jan zuckt zusammen.
„Welchen Flug du nimmst, will ich wissen. Du träumst wohl schon von la dolce vita, was? Refocus, baby, refocus!"
Als ihm Benne zum dritten Mal innerhalb einer halben Stunde auf die Schulter haut, weiß Jan endgültig, dass er sich nicht eingepfercht in eine viel zu enge Sitzreihe vollquatschen lassen kann. Noch dazu die übersalzenen Erdnüsse, wo doch die SAS keine kostenlosen Getränke mehr ausgibt.
„Ich nehme das Auto", hört er sich sagen und ist zufrieden mit dem Effekt, den das bei Benne auslöst. Nasenrümpfen, ein Gesicht wie ein Baby, das seine pürierte Karotte nicht mag. „Junge, travel in style, flieg first class! Mit deinem ollen Saab…," Benne grunzt verächtlich, „nee du, ich kann nicht meinen wichtigsten Künstler verlieren, weil er mit seiner Gurke auf irgendeiner Deutschen Mörder-Autobahn verreckt."
„Mein Roadmovie". Der Rhythmus, den Jan aufs Lenkrad trommelt ist schnell, treibend. Gasgeben, auch wenn die Kutsche keine allzu großen Exzesse mehr erlaubt. „Der schwedische Schweinebauer auf dem Weg nach Venedig, seinen Mist vergolden!" Überrascht registriert Jan: gute Laune. Aber nach einem fettigen Burger auf einer Raststätte irgendwo hinter Hamburg schlägt sie wieder um. Mittagsblues. Am liebsten U-Turn und zurück nach Hause. Schnell, etwas Reelles, etwas zum Festhalten. Jans Hände zittern als er zum Handschuhfach greift. Der abgegriffene Prospekt.
„Was zum Teufel…" Irgendetwas klebt daran fest. Ein rotweiß gestreiftes Seidenkissenbonbon, Ullas Lieblingssorte. Polkagris, Polkaschwein auf schwedisch. Jan steckt es sich wütend in den Mund. Ulla hatte sie wirklich überall liegen lassen.
Der Werbe-Prospekt der SkärgardStugor AB war ihm vor ein paar Wochen morgens beim Frühstück aus der Zeitung gefallen. Acht Seiten mit roten Ferienhäuschen ausgerechnet auf den frischgebrühten Kaffee. Die Tasse kippte, und er verbrannte sich den nackten Fuß. Fluchend, humpelnd und immer noch ohne Kaffee, begriff Jan zunächst nicht, was ihn da getroffen hatte. Erst als seine Haut langsam Blasen zu werfen begann, erkannte er, dass es ein Musenkuss gewesen war. Die Lösung für sein Biennale-Problem. Endlich. Seit Monaten hatte er sich gequält. Stoccolma del Sud. Solche Titel mögen Journalisten. Es könnte funktionieren.
Die Verantwortlichen bei Skärgardsstugor AB waren begeistert. Klar, wenn ein Larsson anruft, da springt man. Der erste Nationalkünstler nach Carl dem Großen. Sach-Sponsoring für fünf rote Hütten, das Standardmodell typisch fürs Stockholmer Archipel, plus Transport und Montage der Luftkissen durch ihre Fachleute. Die Stugor würden 1A in der Lagune schwimmen. Nein, null technische Probleme. Keine technischen Probleme! Bei Tempo 130 zerknüllt Jan den Prospekt. Und die künstlerischen? Kein Tiefgang, Disneyland.
„Bullshit!" Er schreit die Windschutzscheibe an und holt aus. Den lauten Knall hält er für das Aufklatschen seiner Hände auf dem Lenkrad. Dann trifft die Airbagexplosion ihn mitten ins Gesicht. Die Einsatzleute sprechen von luck; keiner verletzt. Die Fahrerin des BMW-SUVs gesteht sogar eine Teilschuld ein, eigentlich alles bestens. Aber Jan ist nicht zu retten. Selbstmitleid ist nicht behandelbar. Fast noch schlimmer, als den Saab auf dem Abschleppwagen Richtung Schrottplatz davonfahren zu sehen, ist dass dieser verfluchte Benne auch noch recht behalten musste mit seinem blöden Geunke von wegen Autobahncrash. Bis Jan endlich kapiert, dass seine Muse in zwei Teilen liefert. BOOOOM! Der Zungenkuss.
***
„Ey, Bruder, Glückwunsch! Wie bist du darauf gekommen? Genial, einfach genial. Mal unter uns, ich dachte ja – ah, Fertigbau-Ferienhäuser aus der einen Stadt im Wasser in eine andere Stadt im Wasser, etwas flach. Aber Schweinejan, der Teufelsbraten, hatte natürlich noch seinen Geheimtrumpf. Bäng, pfffft, gluck, gluck, gluck...alles in die Luft jagen und dann versenken. Genial. Immobilienspekulationen, Finanzkrise, Antonioni, Ende des Nationalmuffs, der Untergang Venedigs, Klimakollaps! Chapeau, Maestro, chapeau!" Bennes Gelächter dröhnt in Jans Kopf länger nach als die Glocken von San Marco. Durch die Spalten der 5-Sterne-Fensterläden dringt Sonnenlicht und zwingt ihn, die Augen wieder zu schließen. Obwohl er nicht mal zur Party geblieben ist. Aber er hatte nicht aus dem nordischen Pavillon verschwinden können, bevor er nicht mit absolut jedem angestoßen hat. Speichellecker, Wichtigtuer.
„Die Medien überschlagen sich, ich habe Hunderte von Interview-Anfragen, verflucht, sogar CNN will kommen!" Jan stöhnt leise auf. Gefangen, die Ratte muss in noch irrerem Tempo weiterlaufen.
„Jan? Jan? Knock, knock, noch da?"
„Mhm, bin noch nicht ganz wach."
„Es gibt da noch was, worüber ich mit dir sprechen muss, besser ich mach das gleich. Es wird ein Schlag für dich sein, ich meine, wir waren in den letzten zwanzig Jahren wie Geschwister; verdammt, du brauchst mich, ich brauche dich, aber jetzt…wie soll ich sagen. Also, um offen zu sein, ich hatte nie Spaß an der ganzen Sache, Kunst und so. Aber no choice, du verstehst. Der Alte hat schon mit einem Giacometti Katalog nach mir geworfen, als ich ankündigte, Business studieren zu wollen. Wie ich das alles hasse, also du bis wirklich eine Ausnahme, aber ihr mit Talent, ihr lasst uns mit jeder eurer Gesten und Blicke spüren, wie armselig ihr uns findet. Dabei will ich gar nicht mithalten, ich will das tun dürfen, was ich kann. Jedenfalls haben die von SkärgardStugor AB gestern bei mir angerufen. Ihre Homepage wurde in 24 Stunden 700 mal öfter aufgerufen als sonst, sie rechnen mit einer Vervierfachung des Umsatzes, sie planen eine Italienska Stuga in Ockertönen und, na ja, sie glauben, dass diese Idee für Venedig, dass wir sie zusammen entwickelt haben. Ich gebe zu, ich habe den Irrtum nicht aufgeklärt, schäbig, ich weiß, aber das ist meine Chance, meine große Chance, ein Leben unabhängig von meinem Vater, von dieser elenden Familie. Sie wollen mich als PR-Manager." Dann schweigt Benne. Zum ersten Mal in all den Jahren. Schweigen.
„Good for you, Benne!" Jan kann nicht mehr, er kichert unkontrolliert, als wirkten die Bellinis von gestern mit 12 Stunden Verzögerung. Völlig unzensiert steigen die kitschigsten Regenbögen in den Himmel. „Ich muss gleich los, Elaine Gerdenbloim richtet ein Fest für mich aus auf ihrer Yacht. Celebrate good times, you know."
Alle Farben, endlich wieder.