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Christopher Kloeble - Schwarz: Helles,Dunkles, Mattes 

Die Beerdigung fand am ersten winterlichen Tag im November statt. Reif an den Gedenkkränzen, ein schneidender Wind und die zittrigen Stimmen der Trauernden machten ihn noch kälter, als er ohnehin schon war. Der Priester sprach wenige Sätze, danach warf jeder der Trauernden eine Schaufel Erde auf den herabgelassenen Sarg. Rand wartete, bis die anderen unterwegs zum Restaurant waren, dann setzte er sich auf den Grabstein seiner Mutter. Er war schlicht, aus Marmor, mit kantigen Metalllettern. Rand zog seine Handschuhe aus und strich über die Zahlen und Buchstaben. Vierundsiebzig Jahre hier. Und jetzt? Er versuchte die Lettern vom Stein zu kratzen, aber sie gaben nicht nach. Vierundsiebzig Jahre hier, und wo die nächsten?
Zwei Tage darauf hörte er im Fernsehen einen Bericht über ein ungewöhnliches Angebot. Rand zögerte zunächst, rief dann aber beim Sender an und ließ sich die Kontaktnummer des Mannes geben, der diese bizarre Seelenhilfe – wie er das nannte – anbot. Nicht viel später traf er ihn am Grab seiner Mutter. Rand wies sich aus, unterschrieb die nötigen Papiere, und der Mann verrichtete seine Arbeit. Er notierte Rand die neue Telefonnummer auf der Rückseite seiner Visitenkarte und fragte: „Können Sie das überhaupt lesen?“
„Machen Sie sich keine Sorgen“, sagte er. Kaum war Rand ins Taxi gestiegen, versuchte er es. Er drehte die Visitenkarte um, strich mit dem Daumen über die Zahlen, zückte sein Mobiltelefon und wählte die Nummer. Es klingelte, drei Mal, vier Mal. Dann nahm jemand ab – nein. Es hörte nur auf zu klingeln, darauf folgte ein leises Rauschen, selbst er nahm es kaum wahr, wie bei einer Schellackplatte, die sich tonlos dreht. Rand drückte das Telefon an sein Ohr. Er genoss das ruhige Nichts. Neugierig bat er den Taxifahrer zu warten, stieg noch einmal aus und ging zum Grab seiner Mutter. Er legte auf, rief sie noch einmal an, und horchte. Am Telefon klingelte es, auf dem Friedhof aber war es still. Der Mann hatte nicht zuviel versprochen. Nicht einmal Rand konnte etwas hören. Auf dem Heimweg wiederholte er das Spiel, rief sie an, ließ es klingeln, bis das rauschende Nichts abnahm, legte auf und rief wieder an. Er rief Mutter an.

Noch drei Tage bis Weihnachten und alles war so, wie es immer war: er wusste weder, was, noch für wen, noch wie. Was sollte er schenken? Und wem? Und wie sollte er den Weihnachtsabend überstehen, mit dem Singen, dem Klavierspielen, das keiner wollte, allerdings jeder vom anderen verlangte, weil’s zur Stimmung beiträgt, weil’s so eine schöne Stimmung macht, und dem Auspacken der Geschenke, die falsche Bescheidenheit – nein, pack doch du zuerst aus – obwohl jeder schon so gespannt ist, ob denn nun wirklich das drin ist, was man wollte, und wie man das dann erklärt, dass es nicht das richtige ist, wie wichtig es dem Schenkenden ist, dass einem das Geschenk gefällt, ob man es vielleicht umtauschen, zurückbringen könne? Essen, fettes Essen und offene Hosenknöpfe, Stöhnen, wie stressig, wie anstrengend Weihnachten doch sei, warum, ja warum man sich das jedes Jahr auf ein neues antue, und der billige Rotwein, damit wenigstens genug für alle da ist. Zuerst dösen die Älteren ein, dann die Kinder, schließlich sitzen noch ein oder zwei Personen vor dem Fernsehgerät. Wie sollte er das überstehen?
Er würde telefonieren. Er behielt sein Telefon in der Nähe und rief Mutter an – griff in seine Hosentasche, drückte die Wahltaste, zählte bis sechs, und sie nahm ab. Es beruhigte ihn. Es besänftigte ihn. Es erinnerte ihn an Tiecks ‚Gestiefelten Kater’, in dem ein wahnsinniger König sich nur vom Besänftiger zur Ruhe bringen lässt. Mutters Nummer war sein Besänftiger. Er wählte sie, wenn Christina ihm im Ohr lag, er solle Weihnachtsgeschenke für die Kinder besorgen. Er wählte sie, wenn sie sich weigerte mit ihm zu schlafen, weil sie zu müde war – in Wirklichkeit, das wusste er, bestrafte sie ihn, weil er sich nicht um die Geschenke gekümmert hatte. Er wählte sie, wenn er hungrig von der Arbeit kam, nichts zu essen im Kühlschrank fand und Christina dafür verantwortlich machen wollte. Er wählte sie aus Freude. Und er wählte sie aus Trauer. Niemals sprach er mit ihr – hätte sie ihn gehört?

Noch zwei Tage bis Weihnachten und Rands Vater im größten Sessel des Wohnzimmers. Angenommen, sein Vater wäre zuerst gestorben. Man hätte ihn beerdigt, an derselben Stelle. Man hätte ihn betrauert. Man hätte ihn vermisst. Man hätte bei tausend Gelegenheiten daran gedacht, dass er nicht mehr hier war, nicht mehr im größten Sessel, in Rands Sessel, im Wohnzimmer Platz nahm ohne zu fragen, nicht mehr anrief, wenn eine Fernsehsendung lief, die er für empfehlenswert hielt, nicht mehr seine Schwiegertochter schickte Orangengelee fürs Frühstück einzukaufen, nicht mehr seine ausufernden Monologe zum besten gab. Aber Rand hätte an seinem Grab kein Telefon installiert, um ihn anzurufen. Er hätte sich damit abgefunden, das wusste er. Sein Vater wäre tot gewesen, und sein Vater war alt genug, um tot zu sein. Es wäre schade gewesen, aber nicht schlimm. Wenn sein Vater an Weihnachten zu Besuch kam, pünktlich am Morgen des zweiundzwanzigsten, erinnerte ihn der rüstige Mann mit der Angewohnheit zu schmatzen, als schmeckte er eine Soße ab, vor allem an eins: seine Mutter. Sie hatte ihn hier vergessen. Sicherlich wartete sie im Nirgendwo, im rauschenden Nichts ihres jenseitigen Anrufbeantworters, und hoffte darauf, dass ihr Mann demnächst eintraf, damit sie gemeinsam abreisen könnten. Himmel, Hölle, zum Ende des Regenbogens, wo auch immer.
„Wusstest du eigentlich, dass Mutter mich mit einem Rohrstock schlug? Sie hat ihn auf die Biedermeiervitrine gelegt. Und wenn du nicht da warst hat sie ihn manchmal geholt. Sie hat mich oft damit bedroht. Aber manchmal schlug sie auch zu. Mich hat eigentlich nur gewundert, dass dir die Striemen nie aufgefallen sind. Oder sind sie dir aufgefallen? Hast du sie gesehen?“ Das hätte er gerne zu dem greisen Herrn gesagt, der eine Zigarre paffte, auf seinem Sessel. Der alte Herr war sein Vater, und seinem Vater sagt man so etwas nicht, besonders nicht, wenn es keinen Unterschied mehr macht. Wieviel Zeit blieb denn dem alten Herrn? Die brauchte er nicht mehr anders verbringen, als sonst auch. Er lebte sie in Maßen. Er hielt sich ans Klassische: stand bei Sonnenaufgang auf, im Winter sogar noch bei Dunkelheit, las Zeitung, spazierte nach dem Mittagessen, trank ein Glas Honigmilch, telefonierte mit Verwandten, sah die Nachrichten, legte sich ins Bett. Schlief tief und kurz. Und zwei Tage vor Weihnachten reiste er zu seinem Sohn, seiner Schwiegertochter, seinen Enkelkindern, und verbrachte sie im Schoß der Familie. Rand könnte ihn zum Schwanken, ein bisschen aus dem Gleichgewicht bringen, dass die Zigarre auf den Teppich fällt, Rohrstock, hört sich gefährlich an, nicht? Rohrstock! Aber zu welchem Zweck? Er selbst hätte ihn vergessen, wäre da nicht der Umzug vor wenigen Monaten gewesen, als seine Eltern von einem Bauernhaus in eine übersichtliche Wohnung mit Aufzug wechselten. Als die Möbelpacker die Biedermeiervitrine anhoben, fiel der Rohrstock zu Boden, Rand hörte es, hob ihn auf und ging nach draußen. Fühlte die Rillen, das dicke und das dünne Ende, das so glatte, scheinbar lackierte Holz. Und erst da meinte er sich zu erinnern. Ganz sicher war er nicht. Noch nicht. Als seine Mutter dann aber zu ihm kam, wissen wollte, was er draußen in der Eiseskälte so herumstand, ihre Stimme in seinem Ohr, das schlanke Holz in seiner Hand, da erinnerte er sich wieder. Es wunderte ihn, dass er nicht zornig wurde, wütend auf sie, dass sie es getan hatte, wütend auf sich, dass er es vergessen hatte, nein, vielmehr war er enttäuscht, von ihr, dass sie es getan hatte, und von sich, dass er es vergessen hatte. Er wollte es ihr sagen – er verschob es. Er wollte sie zuerst fragen, ihr die Gelegenheit geben, es zu gestehen – er wagte es nicht. Denn: sie hatte ihn nicht geschlagen. Geschlagen war zu hart. Sie hatte ihn... versohlt. Sie hatte ihn gemaßregelt, erzogen und zurechtgestutzt. Sie hatte ihn nicht geschlagen. Sie hatte ihn bestraft und in seine Schranken verwiesen, ihn diszipliniert und gezügelt. Sie hatte ihn nicht geschlagen. Und selbst wenn sie ihn geschlagen hatte, das hatten andere Mütter auch. Das hatten sie doch alle. Es tat schon so lange nicht mehr weh. Das war doch das eigentlich gute daran: dass es nicht mehr weh tat. So konnte man Schmerzen am besten vom Rest unterscheiden: wenn sie nachließen. Sie hatten schon lange nachgelassen. Die Sache war verjährt. Rand nahm den Rohrstock an sich und legte ihn an seinen rechtmäßigen Platz: auf die Biedermeiervitrine. Dort verstaubte er seit dem Umzug seiner Eltern. Im Eingangsflur seines eigenen Hauses.
Sein Vater erhob sich, machte wenige Schritte, blieb in der Nähe der Tür stehen.
„Hab den neuen Hitlerfilm gesehen. Da waren ein paar Leute. Die haben geweint. Eine Frau ist sogar vor dem Ende rausgegangen. Ich habe sie beneidet. Glaubst du, sie hätte geweint?“
„Ich habe den Film nicht gesehen.“ Die besten Antworten auf viele Fragen seines Vaters waren Lügen. Auch jetzt.
„Dazu musst du den Film gar nicht gesehen haben. Glaubst du, sie hätte geweint?“
Erstaunlich, dass sein Vater von ihr sprach. An seinem Tonfall konnte Rand erkennen, dass er den Tränen nahe war. Bei der Beerdigung war das anders gewesen. Sie hatten kein Wort miteinander gewechselt, auch zuvor nicht, seit ihrem Tod. Rand wusste nicht einmal, wie es genau passiert war, aber er hatte seinen Vater bei der Beerdigung gehört, wie er mit anderen sprach. Nicht sehr viel Trauer lag da in seinen Worten. Bedauern ja, eine gerührte, bewegte Seele, nein. Vielleicht, weil sie sich nebeneinander verlebt hatten. Fröhliche Eltern waren sie nie gewesen. So ein Rohrstock saugt eine ganze Menge Fröhlichkeit aus.
„Ich glaube, sie hätte geweint“, sagte sein Vater. „Sie hätte mit mir darüber gesprochen, warum ich nicht weinen konnte. Und weißt du, was ich ihr gerne nach dem Film erzählt hätte? Dass ich mich schäme. Kannst du dich noch an Miami erinnern? Du warst höchstens sechzehn, wir beide saßen im Auto, und deine Mutter war in einem Drugstore, etwas zu trinken kaufen. Da kam dieser alte Jude ans Beifahrerfenster und fragte auf Englisch, ob wir ihn drei Blocks mitnehmen könnten. Aber ich nehme nie Leute mit.“
Rand erinnerte sich an den kräftigen Geruch des Juden, würzig-exotisch, seine ungewöhnliche Aussprache. Damals hatte er sich einen unrasierten, dürren Mann mit cremefarbener Haut vorgestellt. Und einer Baskenmütze.
„Ich lehnte mich über die Mittelkonsole und antwortete auf Deutsch ‚Aber gerne, mein Herr. Steigen Sie doch ein, mein Herr.’ Nach dem Film habe ich mich geschämt. Dass wir gelacht haben, als er rückwärts stolperte. Wir haben gelacht.“
Rand sagte es ihm nicht, aber nachdem er selbst ‚Der Untergang’ gehört hatte, war es genau das gewesen, woran er gedacht hatte. Eine Idee kam ihm: er könnte zu seinem Vater gehen, ihn umarmen, und ihm sagen, dass es ihm ähnlich ergangen war. Stattdessen verließ er das Wohnzimmer, nahm das Telefon im Flur und rief seine Mutter an. Er blieb dort stehen, hörte das leise rauschende Nichts, bis Christina vom Einkaufen zurückkehrte, und ihn bat einen Kasten Wasser aus dem Auto zu holen.

Noch ein Tag bis Weihnachten und die endlich komplette Geschenkeschar stapelte sich auf dem Dachboden. Der Duft von Baumharz verteilte sich im Erdgeschoss und rang mit Zigarrenqualm. Nach einer langen Durststrecke hatte Christina vergangene Nacht mit ihm geschlafen. Rand hatte ihr vom Rohrstock erzählt. Es war ihm nicht wichtig, dass sie es wusste, nur, dass jemand es wusste, jetzt, da sein Vater im selben Haus schlief. Somit war Rand nicht mehr der einzige, der darüber nachdachte. Christina war am Abend zuvor ungeduldig vom Schlafzimmer ins Bad und vom Bad ins Schlafzimmer gewechselt. Als sie begriff, wovon er sprach, setzte sie sich zu ihm aufs Bett, weniger Bewegung, schnellere Atemzüge. Sie umarmte ihn, küsste ihn, er küsste sie, und sie tat nicht mehr das, was sie die Wochen zuvor getan hatte: ihm den Rücken zukehren, gähnen, die Knie gegeneinanderpressen, nach den Kindern sehen. Sie ließ ihn. Es war ihm egal, ob sie es aus Mitleid tat, oder weil sie es wollte. Womöglich beides. Wichtig war ihm nur, dass es ihr gefiel. Wie sie einatmete, wie sie sich verkrampfte und entspannte, ob und wie oft sie ihm etwas zuflüsterte, wo sie ihn packte, und wie fest, und schließlich, wieviel sie selbst tat, ob sie ihn nur machen ließ, oder selbst machen wollte.
Sie lag nicht mehr neben ihm, als er aufwachte. Die Stelle, an der sie gelegen hatte, war noch warm. Er roch an der Kuhle ihres Kissens. Shampoo, und etwas von ihr, das er nicht mehr so oft roch wie früher, das besonders kräftig war, wenn sie miteinander schliefen; in ihren Haaren, am Hals, direkt unterhalb der Ohren, am Ansatz ihrer Brüste, nahe der Achseln, dort war es am stärksten. Jetzt, nach letzter Nacht, war es überall im Bett.
Er blieb noch eine Weile liegen.
Als sein Vater an der Tür klopfte und diese öffnete, ohne auf eine Antwort zu warten, bedeckte er sich schnell. Es war wie früher. Sein Vater stürmt ins Zimmer und verlangt von ihm, er soll Rasenmähen, sofort mein Junge, Rasenmähen, und denkt nur daran, so scheint es Rand zumindest, Rasenmähen denkt sein Vater, nichts anderes. Kaum etwas hatte sich daran geändert, allein, dass er nun von ihm verlangte, er solle ihm helfen Schnee zu schippen. Vergangene Nacht hatte es geschneit.
Zwei Männer stehen in der Einfahrt, der Ältere zeigt dem Jüngeren, wohin er schippen soll, und beide denken an Hitler – das dachte Rand, während er sich seinen Weg zur Straße hin bahnte. Früher hatte es ihm nie Spaß bereitet in der Einfahrt Schnee zu schippen, erst seitdem er sein eigenes Haus besaß, machte es ihn froh, aber auch ein bisschen unglücklich, dass es ihn scheinbar nur froh machte, weil er auf dem eigenen Grundstück Schnee schippte, und nicht die Sache selbst. Seinen Kindern war er zumindest nicht böse, wenn sie es als Tortur betrachteten, zwei Mal täglich die Einfahrt von Schnee zu befreien.
„Deine Mutter hätte mich geschimpft, dich so früh aus dem Bett zu werfen. Sie hätte lieber selbst geschippt als dich dafür zu wecken.“
„Kannst du damit aufhören?“
„Hätte sich das verdammte Kreuz für dich gebrochen.“
„Sei endlich still.“
„Du hast Mundgeruch. Und du bist gereizt. Du solltest erst einmal frühstücken.“
Rand sagte nichts. Sein Vater stank nach Zigarre, und er redete mit ihm, wie er es gerne und oft tat. Als Vater. Ein alter Mann war – in der Vorstellung seines Vaters – einer, der leben durfte, wie es ihm beliebte, und zwar deshalb, weil er es schon so lange tat. Leben.
„Hast du deinen Wagen mal zum TÜV gebracht?“ fragte Rand.
„Mein Wagen. Mein Wagen! Hast du mal meinen Führerschein gesehen? Ist längst verblichen.“
„Du solltest einen neuen beantragen.“
„Wozu? Alle meine Sachen sind alt, also muss ich es auch sein.“
Im Wohnzimmer nahm sein Vater nach dem Essen wieder in Rands Sessel Platz. Rand konzentrierte sich darauf nichts zu denken.
„Taschenbillard spielen!“
Rand schreckte hoch.
„Taschenbillard spielen! Kennst du den Ausdruck überhaupt noch? So haben wir das genannt, als ich so alt war wie dein Sohn.“
In der Stimme seines Vaters etwas heiteres.
„Na, wie du gerade an deinen Eiern rumgefummelt hast. So was nannten wir Taschenbillard spielen. Und weißt du, wie das heißt, wenn die Eier sich in die Bauchhöhle oder den Leistenkanal zurückziehen?“
Rand fragte nicht.
„Hodenhochstand! Oder... warte, wie war das noch?“
„Ich will es gar nicht wissen.“
„Ich hab’s doch nachgeschlagen. Neulich erst. Weil mir der alte Georg nicht geglaubt hat. Krypto... Kryptorchismus! Genau! Kryptorchismus.“
„Ich habe gar nicht an mir herumgespielt.“
„Hast du wohl. Ich hab’s doch gesehen.“
Rand wollte widersprechen, ihm eindringlich klarmachen, dass er nicht, niemals, an seinen Hoden herumfummeln würde, während der eigene Vater ihm gegenübersaß, in seinem Sessel, und Zigarre paffte. Aber Rand wollte nicht erklären, wieso er den ganzen Tag über ein Mobiltelefon in seiner Hosentasche trug und gelegentlich eine Nummer wählte, die ihn mit einem Anrufbeantworter verband, installiert einen Meter über dem Sarg seiner Mutter. Und er wollte nicht erklären, wie besänftigend das leise Rauschen, das Nichts, auf ihn wirkte, das er wohl als einziger in der Familie hören konnte, auch, wenn es ein sehr schwaches Geräusch war.
Bald schnarchte sein Vater. Rand nahm die Zigarre, hielt sie unter kaltes Wasser und warf sie in die Mülltonne. Dann ging er auf den Dachboden. Als Christina rief, sie würde Sandra vom Bus abholen, ignorierte er sie. Er hatte Mühe genug die Geschenke ordentlich zu verpacken, so, dass ihm niemand vorwerfen könnte, das wäre doch eigentlich nicht seine Aufgabe.

Kurz vor Weihnachten und im Haus pulsierte die ganz alltägliche Unruhe. Den Tag eingeleitet hatte jene halbe Stunde nach Mitternacht, in der Christina ihm Vorwürfe machte, dass er nicht vorsichtig genug gewesen sei.
„Und wer fährt jetzt?“
Er antwortete nicht schnell genug, nicht hilfsbereit genug, etwas in der Art, sonst hätten ihr seine Worte ausgereicht: „Wir fahren zusammen.“
„Du kannst hier bleiben. Lass die Kinder ausschlafen.“
„Du wirst ja früh genug zurück sein.“
„Heißt das jetzt, du fährst nicht mit?“
„Ich dachte, du willst das nicht.“
„Natürlich will ich, dass du mitfährst. Ich bestehe aber nicht darauf.“
„Gut. Dann fahre ich mit. Lass mich nur etwas überziehen.“
Rand nahm das Kondom und stopfte es in eine nahezu leere Rotweinflasche. Er hasste den Geruch. Seit ihrer letzten Schwangerschaft nahm Christina nicht mehr die Pille. Wegen der Haut. Der Nerven. Des Gemüts. Früher, da hatte er immer ein Gummi für Notfälle in der Geldbörse deponiert, um jederzeit die Gelegenheit beim Schopf packen zu können. Letzte Nacht allerdings hatte er die längste Zeit damit verbracht, eine angebrochene Packung zu suchen. Schließlich hatte er drei Exemplare Ritex ideal in einem alten Badebeutel der Lufthansa gefunden. In dieser Nacht hatte sich das nicht kühl gelagerte Präservativ (jenseits eines realistischen Haltbarkeitsdatums) selbstständig gemacht; nach dem Akt befand es sich nicht mehr an ihm, sondern in ihr.
„Zur Frauenklinik brauchen wir mindestens eine halbe Stunde. Mach schon. Sogar im Dunkeln bin ich schneller angezogen als du.“
„Es ist aber nicht dunkel.“ Rand spürte die Wärme der Glühbirnen zu beiden Seiten des Doppelbettes. „Kannst du mir mein Hemd geben?“
Das Frühstück verbrachte Christina im Bett bei geschlossenen Vorhängen. Zwei winzige Pillen töteten Spermien und verursachten heftige Magenschmerzen. Sein Vater bestand darauf, dass sie zum Grab fuhren, Geofrey, sein Sohn, spielte mit höchster Lautstärke ‚How to dismantle an Atomic Bomb’ von U2 (immer wieder brüllte Bono „Feeeeel!“ gegen Geofreys Zimmerwände an), dass Christina in der Küche anrief und Rand bat, Geofrey zu bitten, rücksichtsvoller zu sein, und Sandra, seine Tochter, erzählte Rand ohne Unterlass vom Skilager. Rand sehnte sich nach einem Raum für sich allein, ein Raum in vollkommener Dunkelheit. Jeder Raum würde es für ihn sein. Er bräuchte nur etwas Ruhe. Und sein Telefon.
Rand rief ein Taxi. Es dauerte fünfzig Minuten, bis der Fahrer am Straßenrand hielt und hupte. In der Wartezeit schickte er Geofrey und Sandra nach draußen die Einfahrt schippen, und er brachte Christina ein Glas frisch gepressten Orangensaft. Sie gab ihm dafür einen Kuss auf die Stirn. Dann scheuchte Rand seinen Vater auf, er solle sich fertig machen, ohne ihm mitzuteilen wofür.
Sie verließen die Straße zu seinem Haus und Rand dachte daran dem Taxifahrer den gesamten Inhalt seiner Geldbörse zu geben, mit der Bitte: immer weiter geradeaus. Auch wenn es Weihnachten war. Auch wenn ihm bei langen Autofahrten übel wurde. Auch wenn sein Vater neben ihm saß und aufgebracht atmete. Auch wenn er sein Telefon zu Hause vergessen hatte.
Auf dem Friedhof war es kalt und still. Rand fror, genoss aber die Ruhe. Sein Vater hakte sich bei ihm ein und sagte, er könne sich sehr gut vorstellen, hier einmal zu liegen. Als sie am Grab ankamen, löste sich sein Vater von ihm und stapfte ein paar Schritte weiter durch den Schnee. Dann ein schabendes Geräusch, das sich anhörte, als entferne er Schnee vom Grabstein.
„Ich war noch gegenüber etwas trinken. Mit Georg und Frederick. Nicht lange. Wenn wir zu lange bleiben, schlafen wir am Tisch ein. Also gehen wir lieber früher. Sie wollte nicht mitkommen. Als ich zurückkam, lag sie auf dem Sofa, der Fernseher lief. Ich habe ihn ausgeschaltet, sie zugedeckt, und bin ins Bett gegangen. Ich dachte, ich sollte ihr noch einen Kuss geben, aber dann wollte ich nicht. Der Arzt hat gesagt, da war sie schon gar nicht mehr da. Ich hätte sie noch einmal küssen können. Weißt du, ich kann mich nicht daran erinnern, wann ich sie das letzte Mal geküsst habe.“
Rand peilte das Atemgeräusch seines Vaters an, machte zwei Schritte, und umarmte ihn. Es war gut. Und ihm wurde ein wenig wärmer.

Dann Weihnachten. Als der Strom ausfiel, war niemand darauf vorbereitet, außer natürlich Rand. Rand suchte für seinen Vater eine Krawatte heraus und brachte das Öl für das Fleischfondue zum Kochen. Wie lange war es her, dass er seine Mutter angerufen hatte? Rand ertappte sich dabei, die Nummer in ein imaginäres Telefon an seinem Oberschenkel zu tippen. Er wollte sich ins rauschende Nichts seiner Mutter begeben. Darin einsinken. Erst nächstes Jahr wieder auftauchen.
Plötzlich wurde es still. Das Poltern der Kinder im ersten Stock hörte auf, die dudelnde Weihnachtsmusik im Hintergrund, das kleine, feine Surren diverser Lampen in Küche und Wohnzimmer, das Brummen des Kühlschranks.
Die Welt gönnte sich eine Pause. Rand konnte in kürzester Zeit im Keller sein, um den Strom durchs Haus zu jagen – wahrscheinlich lag es an der Sicherung. Aber nachdem er die ersten Schritte gemacht hatte, bemerkte er, wie angenehm es war, nicht mehr von einem aufgebrachten, lärmenden Schwarz umgeben zu sein. Er bewegte sich in der Dunkelheit als würde er durch Wasser gleiten. Nahezu geräuschlos. Wunderbar sanft. Und unsichtbar.
Er ging nicht in den Keller.
Rand dachte daran, dass es ihn allen nun im Zeitraffer so erging, wie es ihm ergangen war. Mit zehn Jahren, bei einem Spaziergang mit seinen Eltern, hatte er zu ihnen gesagt: „Das ist komisch. Wenn ich mit dem linken Auge schaue, sehe ich alles. Aber bei meinem rechten Auge ist der Zeppelin da ganz verschwommen.“ Noch am selben Tag fuhren sie zum Augenarzt. Der konnte ihnen nicht helfen, der konnte ihnen nur sagen, was in den Jahren darauf fortschreiten sollte; allmählich, an manchen Tagen schneller, an manchen langsamer, verloren die Dinge ihre Form, ihre Kontur, wechselten ins Ungewisse, ins Trübe. Schon mit Dreizehn gab es nur noch Helles, Mattes, Dunkles. Mit einer Verzögerung von einem Jahr folgte das linke Auge dem Schicksal des rechten. Und schließlich wuchsen die schwarzen Flächen von außen nach innen, bis der restliche graue Schimmer überwuchert war. Es blieb dunkel. Schwarz. Seine ganz private Nacht. In sie drangen neue Geräusche ein, Laute und Stimmen, die ihm nie zuvor aufgefallen waren, sonderbare Gerüche und Formen.
Rand ging die Treppe nach oben. Vorher nahm er den Rohrstock von der Biedermeiervitrine. Aus dem Bad der Kinder drang Sandras Stimme, sie summte ein Weihnachtslied. Geofreys Zimmertür stand offen: Das schwache Kratzen eines Bleistifts auf Papier und der Geruch einer brennenden Kerze. Vor dem Gästezimmer, in dem sein Vater bei jedem Besuch wohnte, dieses Jahr erstmals allein, blieb Rand stehen. Leise drückte er die Klinke nach unten und horchte.
Wie kam es, dass dieses Zimmer so leer war? Sein Vater war zu Besuch – seine Mutter nicht. Hätte ihn allein seine Mutter besucht, wäre dieses Zimmer dann nicht leer gewesen? Er schloss seine Augen. Ballte seine Faust um den Rohrstock. Konzentrierte sich. Betrat das Gästezimmer. Der Geruch hier war der eines alten Mannes – unangenehm süße Ausdünstungen. Außerdem Rasierwasser, Lederschuhe, Zigarrenrauch. Rand suchte in den Gerüchen, sortierte sie, versuchte sie einzugliedern, zu verbinden mit einer Zeit, in der man ihn mit einem Rohrstock schlug.
„Wer ist da... Rand?“ Eine raue Stimme. Rand antwortete nicht. Er stand nun keinen Meter von seinem Vater entfernt. Er hob den Rohrstock.
„Bringst du mir eine Kerze? So kann ich mir die Krawatte doch nicht binden. Hallo?“
In seinen Träumen wurde Rand noch oft mit dem Rohrstock geschlagen. Dann wachte er nachts auf. Er wachte aus einem Traum auf, in dem niemals seine Mutter Hand anlegte, sondern immer sein Vater. Meist war er dann froh, dass der Traum ein Ende gefunden hatte; nachdem er aber ein Glas Wasser getrunken hatte und wieder ruhig atmete, bedauerte er es. Er sehnte sich nach einem Traum, auch wenn es dieser sein musste, immerhin sah er seinen Vater, sich selbst und den Rohrstock, Hände und Arme, er sah einen Raum, er sah Holzwände, Boden, Decke, ein Fenster, er sah Licht. „Halt das“, sagte Rand und drückte den Rohrstock in die Hand seines Vaters. Was er damit anfangen sollte, wusste Rand nicht. Er wusste nur, wie gut sich das anfühlte, den Rohrstock seinem Vater zu geben. Es fühlte sich endgültig an. So endgültig, als hätte er ihn ins Feuer geworfen. Dann band er ihm die Krawatte. „Danke, Rand. Hier, nimm.“ Rand reagierte nicht, entfernte sich und zog vorsichtig wieder die Tür ins Schloss. Er hörte, wie sich jemand auf der Matratze im Schlafzimmer bewegte, zögerte, setzte sich dann aber auf den obersten Treppenabsatz. Er fragte sich, wie dunkel es wohl wirklich war in seinem Haus. Vielleicht fiel von draußen Licht herein, dank der Weihnachtsbeleuchtung der Nachbarn. Oder der Mond. Sein Vater hatte ihn nie geschlagen, hatte nicht ausreichend Kraft und Ausdauer besessen, anders als seine Mutter. Wie kam es aber dann, dass Rand sie vermisste? Womöglich war die Antwort so einfach: weil sie nicht mehr hier war.
Rand würde bald aufstehen, in den Keller gehen, den Schalter umlegen. Irgendjemand würde mit Sicherheit ‚Es werde Licht!’ rufen. Sie würden zuviel zu schnell essen. Und laute Unterhaltungen führen. Sie würden bescheren. Und sie würden an seine Mutter, an die Ehefrau, an die Schwiegermutter, an die Großmutter denken. Einen Moment blieb er aber noch sitzen und hörte wie das Nichts seiner Mutter in der Schwärze rauschte. Ihr Weihnachtsgruß.