Susanne Weinhart - Von Vätern, von Jägern
Die Füchse waren schon unterwegs.
Etwas fiel vom Tisch, eigentlich floh es vom Tisch. Natürlich hast Du es nie aufgehoben. Eine Serviette in Pink, sie mußte noch von meiner Mutter sein. Etwas aus goldenen Zeiten. Ich sah Dir seit Monaten nicht mehr in die Augen, nur noch ein grün-weiß-holzfäller-karierter Klecks im linken Augenwinkel warst Du, dem ich einen kurzen Gruß zuraunte. Morgens, als ich mein abgelaufenes Joghurt aus dem Kühlschrank holte. Und abends, als ich es reumütig mit Dellen und einem mondförmig angebissenen Sandwich zurückstellte und jämmerlich fror. Vor Kühlschrankkälte und Deiner zeitlosen, in jede Pore eisenden Gegenwart. Wie festgetackert saßest Du auf Deinem Eckplatz am Küchentisch, über Dir hingen Hirschgeweihe in allen Größen, ölige Gewehre und gutgerahmte Zuchturkunden, auch Du schienst erlegt worden zu sein. Irgendetwas in Dir schien erlegt worden zu sein, und es hatte Dich unsterblich gemacht. Fliegen krochen über Deine glänzende Stirn, putzten ihre Häupter auf Deinen buschigen Brauen und träufelten Dir Mordgedanken in den blutigen Bindehautsack. Woher sie kamen, blieb ein Rätsel. Die Fliegen und die Mordgedanken, fliegende Mordgedanken, schwer zu verscheuchen. Das Schallschutzfenster zur Straße hattest Du noch nie geöffnet, Du konntest mit dem neumodischen Griff nicht umgehen und Kindergeschrei war Dir ein Greuel. Leben war Dir ein Greuel. Staubige Trockenblumen baumelten, aus dem mortalen Nichts. Du rührtest Dich nie, wenn ich den Raum betrat, auch Deine Küche war holzverschaltes Jagdgebiet, war Hochsitz. Vor Dir lag ein Teller mit Fleisch, ein Teller mit Wurst, ein Teller, auf dem einmal Fleisch und Wurst gelegen hatten. Mit rotgeäderten Augen verfolgtest Du meine ausgestopften Bewegungen, Dein Blick tastete sich unbarmherzig wie ein Feldstecher von meinen Beinen hinauf zu den Schläfen, umkreiste die Halsschlagader und blieb starr auf der Herzgegend kleben. Ziel lokalisiert. Es waren ein paar Sekunden am Tag, vielleicht eine ganze Minute, für mich waren es Jahrzehnte. Kriegsjahre.
Um Dich und mich war Schwärze. So schwarz war es in diesen Sekunden, wie noch keine Nacht war.
Wo warst Du so lang?
Ich öffnete den Kühlschrank und atmete tief ein. Es roch nach frischem Wild. Ich konnte nicht hinsehen, fixierte ein Essiggurkenglas und schob das Joghurt gegen irgendeine nachgebende Tüte. Totes Fleisch.
Bei der Arbeit, wo sonst.
Ich schloß den Kühlschrank und atmete flach aus. Mir wurde schwarz vor Augen, schwarz war alles.
Als Deine Mutter noch lebte, bist Du aber früher nach Hause gekommen.
Ich drehte mich vom Kühlschrank in Richtung Tür.
Die Arbeit hat sich geändert.
Ich stand vor der Tür, ich fand den Griff.
Gute Nacht, Vater.
Ich zog die Tür hinter mir zu. Licht. Leben.
Ich sah durch die milchige Glastür auf ihn zurück, ein unbeweglicher grüner Schemen, er konnte mich von seinem Platz aus nicht sehen. Manchesmal stand ich eine halbe Stunde dort im Flur, nichts tat sich, nie bewegte er sich. Kein Radio lief. Kein Telefon läutete. Kein Teller klapperte. Keine Uhr tickte.
Aber irgendwo zwischen uns lief eine bauchige Sanduhr ab, die ich nicht mehr umdrehen konnte. Wollte, vielleicht. Ich hörte es in jeder Sekunde bröseln. Ssschhhhhh.
Sandpyramiden, die im Vakuum ihr Gesicht nicht mehr veränderten.
Mir war klar, dass er auf mich wartete, auf irgendein Wort von mir, dass ich ihm verziehen hätte oder die Leere ohne sie kaum zu ertragen war. Worte, die mir in seiner Gegenwart wie Caramelbonbons hinter den Schneidezähnen hängen blieben. Es war alles zu frisch. Ein gerade gebackenes Brot. Mit 21 Jahren hat man im Vergessen keine Übung. Vor fünf Jahren schlug ich das erste Mal Leukämie im Medizinlexikon nach. Innerlich blätterte ich noch, meine Mutter hing in diesen Blättern wie ein Versprechen. Aber auch stapelweise Hilflosigkeit, Zorn, der Geruch nach Gebrochenem nach der Chemo. Das wieder und immer wieder, und das gebildete Nichts.
Am Wochenende war ich bei meinem Freund auf dem Land, wir schlenderten meistens einen nach Mangold duftenden Bach entlang in ein ausgebranntes Moos, tiefhängende, leichte Zweige strichen über die zueinandergeneigten Köpfe, sanft wie Lametta. Schöne, heile Wochendwelt, eine schutzbietende Landzunge, die in vermintes Gebiet ragte. Montag und Freitag, die Demarkationslinien.
Was macht er abends?
Er sitzt da wie eine Eisskulptur.
Halt mal einen Föhn hin.
Ich lachte. Die Füße konnte man im Moorsee auf Urlaub schicken und baden, bis sie so aufquollen, dass man meinte, die Socken wären zu klein für sie geworden. Neugewonnene Größe. Er trug mich zum Ufer, Glück auf so großem Fuß.
Schreit er Dich noch an?
Nein, und das ist gerade das Unheimliche.
Während so eines Spaziergangs zerpflückte ich regelmäßig über 30 Halme, die ich vom Wegesrand zu unseren Gesprächen beim Vorbeigehen abgerissen hatte, wir konnten den Weg wie Hänsel und Gretel anhand der Halmleichen auf dem trockenen Kies zurückgehen. Alles war extrem. Entweder Gespräche wie Stalinorgeln oder wie trockene Brotkrusten, am Rande des Schweigens, kurz vor dem Absturz.
Das Auto ( Hänsels Ofen ) hatten wir immer in der Sonne geparkt, andere Parkplätze gab es nicht.
Es fehlte unser gemeinsames Lebkuchenhaus. Aber würden wir Zuckerguß überhaupt aushalten? Wir waren nur noch brotkrumenkompatibel, fürchtete ich. Vor allem Gretel.
Manchmal besuchten wir danach noch seine Mutter im Altenheim. Sie hatte Alzheimer und erkannte ihn an guten Tagen noch, meistens wenn er Brezen mitbrachte, wo sie selig die Salzkörner herunterbrach und einzeln in die Mund steckte. „Mein Brezenbub“, sagte sie mit leuchtenden Augen, „Du bist mein Brezenbub.“
Ich stand derweil im Eingangsbereich, um das Erinnern nicht zusätzlich zu verschleiern, und las die lange Deskriptionsliste der hier Wohnenden, dahinter war buchhalterisch die Zimmernummer und die Pflegestufe vermerkt. Seine Mutter war Pflegestufe 1. Er hing an ihr.
Da hängt sie ja immer noch, die Paula! Die Paula ist tot! Tuns endlich die Paula runter! Eine Seniorin redete so lang auf eine Pflegerin ein, bis sie die weißen Buchstaben aus der Tafel wie aus einem Erstklässlersetzkasten zog. Und plötzlich war da keine Paula Newens mehr. Ich starrte die leere Zeile an. Schwarzes Nichts, ich fürchtete es. Die Seniorin dagegen war zufrieden, als hätte sie beim Glücksrad gewonnen. Es herrschte wieder Ordnung im Oben und Unten.
Der Montag drohte, respektive sein Abend. Ein schwarzer Montag, wie es schwarze Dienstage, Mittwoche, Donnerstage und Freitage gab. Nur Samstag und Sonntag waren sie, die Leuchttürme.
Abschied von Hänsel, vom Land, vom Glück, den großen Füßen.
Warum konnte man nicht im Büro übernachten und Brezen essen, Salzkorn für Salzkorn, mit leuchtenden Augen. Meinetwegen hätte BMW die 60-Stunden-Woche einführen können.
Montagabend.
Vor dem Haus stieß ich mit der Nachbarin zusammen, die Dir regelmäßig Fleisch abkaufte.
War er am Wochenende auf der Pirsch, Ihr Herr Vater?
Ich weiß nicht genau, ich war nicht da, aber ich kann ihn fragen.
Ja, fragens ihn bitte, meine drei Söhne kommen morgen zum Essen, da brauch ich schon was Gscheits, verstehens?
Ich verstand nicht, aber ich nickte und wandte mich zur Tür.
Wo warens denn am Wochenende, Fräulein?
Bei Gulliver.
Bei meinem Freund.
Der Zukünftige, oder?
Ich wußte, was kommt. Lilliput.
Weil mein Jüngster, der Michael, der bräucht schon längst a Frau, wollens sich nicht mal mit ihm treffen? Zum Tanzen oder so? Ich könnt euch auch was kochen.
Ich schloß die Tür auf, mit vor Ekel klopfendem Herz.
Sie kriegen Ihr Fleisch, Frau Manger, sagte ich kurz, und ließ die Tür ins Schloß fallen, dass das ganze Haus zitterte.
Jesus, Maria und Josef, hörte ich noch von draußen flüstern.
Deren Beistand würde ich auch brauchen, wenn sie schon in der Gegend waren.
Ich betrat das Wohnzimmer mit der Post in der Hand, eine Freundin aus der Schulzeit hatte mir eine Postkarte aus Bamberg geschickt. Dass es Bamberg war, verwirrte mich zusehends. Bamberg? Was machte sie, die kosmopolitische Krankenschwester, in Bamberg? Neudelhi hätte mich nicht verwundert, Bamberg tat es.
Ich heirate, Süße!!!
Achso. Das erklärte alles, auch die Smiley-Sonne über Bamberg. Es wurde regelrecht warm in der Hand.
Und sonst?
Ein Brief von der Krankenkasse und ein Flugblatt gegen Tierversuche. SEHEN SIE NICHT MEHR LÄNGER ZU! Wie wahr, wie wahr.
Ich beschloß, es möglichst schnell hinter mich zu bringen und enterte die Küche am Ende des Flurs.
Wo warst Du so lang?
Ich zog hörbar die Luft ein, während ich den Kühlschrank ansteuerte. Ich habe in dieser Wohnung einen Radius wie Garfield. Schlafplatz und Kühlschrank – man lebte nicht, man überlebte nur. Im Schwarzen, im Dunkel, wie eine Assel.
Bei der Arbeit, wo sonst.
Als Deine Mutter noch lebte, bist Du aber früher nach Hause gekommen.
Ich nickte dem Kühlschrank zu. Das war, wie seinem Vater zuzunicken.
Frau Manger wollte Fleisch von Dir.
Kann Sie haben, kiloweise, hirschweise--- Wo warst Du so lang?
Ich schwieg und riß mir ein Stück Baguette ab. Es krachte wie Gebein, so alt war es.
Wo warst Du am Wochenende?
Ich drehte mich zur Tür.
Gute Nacht, Vater.
Hast Du das Flugblatt gelesen? schriest Du so plötzlich, dass ich vom Türgriff zurückzuckte, als wäre er an Deine elektrisch geladenen Weidezäune angedockt worden. Ein neuer Satz, sogar eine neue Frage von Dir. Was bedeutete das?
Ich hörte die Sanduhr wieder lauter. Sssschhhh.
Hast Du gelesen, welche Typen die Welt regieren?
Ich sah Dir in die Augen, ich zwang mich, Dir in die Augen zu sehen, ich hätte sie nicht mehr erkannt; das war so verdammt lang her, schulanfangfotomitschultütelang. Sie glitzerten feindselig und diebisch in mich hinein, wieselten wie weiß-schwarze Elstern von rechts nach links, während der Rest Deines Gesichts nicht die Spur einer emotionalen Bewegung verriet. Was wollten die Elstern stehlen? Sie hatten doch schon alles.
Alles, was ich wertvoll fand.
Tierschützer! Tierschützer bitten um eine Spende, wahrscheinlich damit sie ihre geretteten Mäusehorden in München freilassen können! So weit sind wir schon. Man sollte sie abknallen, diese Arschlöcher, wie die Tauben am Hauptbahnhof.
Ich öffnete die Tür. Sssschhhh.
Und Dich dazu, du ...Vegetarierin. Du steckst mit denen doch unter einer Decke.
Ich sah zu Boden, Übelkeit und Tränen krochen hoch. Jeder Zentimeter war tote Fremde, Schwärze. Bis auf die Serviette am Boden, in pink.
Dann tus doch. Lösch die Welt aus, bei Mama hast Du schon angefangen damit.
Das stand nicht im abgegriffenen Medizinlexikon. Dort gab es keine schlußendliche Erklärung für Krebs. Von Elstern keine Rede. Das stand nur in mir, es stand in mir fest. Aber was heißt „nur“.
Und ich ging aus dem Zimmer.
Im Flur ging ich in die Hocke und preßte den Schal gegen mein Gesicht. Mir war so übel, dass ich es nicht in mein Zimmer geschafft hätte. Der Schal roch noch nach Hänsels Ofen, nach Benzin und guter Laune. Ich setzte mich ganz auf den Perserteppich im Flur und lehnte mich gegen die Wand. Hier hing wenigstens nichts, was mal ein Gesicht hatte. Meine Mutter hatte sich da durchsetzen können, sie hatte hier ihre Ölbilder von Kapstadt aufgehängt.
Ich fliege nächsten Sommer nach Kapstadt, ich will von Leuchtturm zu Leuchtturm radeln, 290 Kilometer an der Küste entlang. Du kommst doch mit?
Die blonden Locken fielen unternehmungslustig in ihr junges Gesicht, sie lachte und zog mich auf die Terrasse.
Große Tochter, sag Ja.
Und Papa?
Der kann derweil die Tiefkühltruhe umstrukturieren.
Meinst Du nicht, ...?
Ja oder Nein? Ich muß es wissen.
Ja-
Gut, ich habe die Flugtickets schon gebucht.
Die Karten lagen noch unberührt in ihrem Nachtkästchen. Du hattest sie nicht gefunden auf Deiner Jagd, sie steckten in ihrem Impfpass. Vor sechs Jahren wäre sie beinahe abgehoben, mit Locken, mit Tochter, ohne Dich. Geimpft auf Freiheit, auf Sonne.
Als Deine Mutter noch lebte, bist Du aber früher nach Hause gekommen!
Deine Stimme peitschte aus der Küche, Du hattest wohl Deinen Hochsitz aufgegeben, vielleicht hattest Du getrunken, ich preßte mich gegen die Wand. Wir lebten allein im Haus, ein anderer würde nichts hören. Nach außen hin Schallschutzfenster. Dein Führerbunker, Dein Obersalzberg, mitten im zugigen, hektischen München-Pasing. Irgendetwas machte mich sicher, dass Du die Küche nicht verlassen würdest. Ohne totes Tier im Nacken warst Du hilflos, so schien es mir wenigstens.
Dann Stille, endlose Minuten lang. Meine rechte Hand krallte sich in den Teppich, ein Haar verhäkelte sich in meinen Fingern. Ein langes blondes Haar. Steh auf, sagte das Haar.
Ich stand auf und stellte mich direkt vor die Glastür, so dass Du meine Silhouette sehen mußtest. Ich war auf Schreie gefaßt. Lieblose Verwünschungen. Griff nach einem Gewehr?
Ich wartete wieder, endlose Minuten lang. Dein grüner Klecks war etwas verrutscht, hinter dem kleinen o-förmigen Sprung in der Scheibe. O wie Otto, Onassis, Oleander, Omega, Oben ohne.
In der Küche sprang der Kühlschrank an. Ssschhh.
Ich drückte die Klinke nieder. Und sagte lange nichts mehr.
Sagtest Du noch etwas?
Der blaue Teppich hatte Inseln bekommen. Rotbraun. Aus Deinem Mund und dem Hemd trof es, die Elstern: verdreht, in sich gekehrt, auf sich selbst hackend.
In Deine Brust hattest Du Dir das größte Geweih gerammt, das vom Verlobungsjahr, 1972, Dein rechtes Bein stand auf der pinken Serviette. Ich ließ mich in den blutigen Flor fallen, zog die feuchte Serviette unter Deinem schweren Fuß heraus und umklammerte reflexartig ein schmales Tischbein.
Es fühlte sich an wie ein zerbrechliches Flamingobein.
Eines, das über alles drübersteigt. Über Postkarten, Kapstadt, über soviel. Aber Du – Du warst zu hoch, zu schwarz für das Bein.
Der Notarzt kam.
Das Ende einer Jagd.
-ENDE-