Mirjam Breidenbach - Briefgeheimnis oder der blaue Stern
Ich sitze im Zug nach Münster. Der Regen hinterlässt einen schimmernden Perlenvorhang am Fenster. Äcker und Wiesen fliegen dunstig vorbei. Ich war noch nie in dieser Stadt, und sicher wäre ich auch nie hingekommen. Eigentlich ist es Zufall, dass mich der Zug jetzt nach Norden bringt. Vielleicht aber auch nicht.Alles begann gestern mit diesem hellblauen Brief. Ich stand in der Küche und machte Kaffee so, wie ich das jeden Morgen tue. Wenn ich meine Hand in warmer Milch bade und fühle, wie die zartsüße Flüssigkeit langsam heiß wird, kann der Tag los gehen. Auf der anderen Herdplatte faucht währenddessen die Espressomaschine, eine kleine silberne, so wie es sie überall Italien gibt. Dann lasse ich den elektrischen Schäumer langsam in die Milch gleiten, lausche dem Geräusch des Minimotors und warte, bis sich feine Blasen bilden. Sie dürfen nicht zu groß sein, denn sonst fallen sie sofort wieder zusammen. Schließlich gieße ich die Milch ins Glas, flüssig gewordene Watte in der der schwarze Espresso dampfend verschwindet. Das Wichtigste ist der Löffel brauner Zucker obendrauf und ein Hauch von Zimt.
Gerade wollte ich mich mit meinem morgendlichen Kunstwerk aufs Sofa setzen, als die Post durch den metallenen Schlitz meiner Haustür glitt. Rechnungen, ein Brief von meiner Oma, eine Karte von Verena aus Mexiko mit einer Horde lachender Kinder auf der Vorderseite - und dann dieser Brief. Ein seltenes Hellblau, irgendwie abgeschrammt, alt und schon leicht vergilbt, adressiert an eine Marie Bauer aus Münster. Außer der Ähnlichkeit von Münster und München gibt es nichts, das sein Erscheinen in meiner Wohnung erklärt. Neben der Briefmarke ist ein Stempel, verwischt, kaum mehr lesbar: USA ist mit Mühe zu entziffern, das Datum nicht mehr. Sollte ich den Brief öffnen? Doch bevor der Schaum meines Kaffees nun gänzlich in sich zusammen fiel, legte ich den Brief erst mal beiseite. Eigentlich hatte ich vor, ihn neu zu frankieren und dann zur Post zu bringen, damit er sein richtiges Ziel erreichte.
Doch unter der Dusche überlegte ich es mir anders: Das Wochenende stand vor der Tür, und obgleich ich Dutzende Aktivitäten hätte unternehmen und etliche Leute im Biergarten sehen können, graute es mir vor der Freizeit, weil mein Leben eigentlich nur so dahin plätschert. Ich mag keine Wochenenden. Biergarten, Rollerbladen mit Freunden, Kino und ein bisschen gutes Essen – alles sehr nett. Aber überall Pärchen, fest umschlungen und küssend unter den ersten Blüten der Kirschbäume – und ich mit über 30 Jahren wieder solo. Dieser Brief brachte Abwechslung. Ich hatte das Gefühl, als hätte ich Schmetterlinge im Bauch. Wieso sollte ich ihn nicht persönlich vorbeibringen?
Und nun sitze ich hier und habe viel Zeit zum Nachdenken. Laut Lexikon bedeutet Blau in der Farbensymbolik Treue und Beständigkeit. Schön finde ich das, auch wenn es mir fremd ist. Technisch gesehen entsteht das Himmelblau hingegen nur durch Diffusions- und Beugungserscheinungen der Sonnenstrahlung. Irgendwie desillusionierend. Lexika sind die Entmystifizierung der Welt. Ist es Zufall, dass gerade ich den blauen Brief erhalten habe? Gibt es Zufälle überhaupt oder ist das Schicksal?
Noch immer gießt es in Strömen. Ich fühle nach dem Brief in meiner Tasche. Meine Hände schwitzen ein bisschen, und schnell ziehe ich die Finger wieder weg. Man soll nicht sehen, wie gern ich den Brief öffnen würde. Ein kleines Dorf mit Gartenzwerggärten huscht vorbei, eine Kirche mit Zwiebelturm. Ich gehe nur zum Weinen in die Kirche. Dort überkommt mich dieses Gefühl demütiger Kapitulation vor der eigenen kleinen Existenz angesichts der hohen, oft einschüchternd bemalten Kirchenschiffe, die in den Himmel wachsen. Und all die hilfesuchenden, verzweifelten Menschen die auf den harten Bänken knien und zu einem Unbekannten beten, der alles gut oder rein gar nichts machen kann. Wenn ich traurig bin, treibt mir die heilige Erhabenheit die Tränen in die Augen.
Zum ersten mal sehe ich meine Mitfahrenden an. Mir gegenüber sitzt ein grauhaariger Mann. Die Falten über seine Nase treffen sich fast am Haaransatz, die Finger umkrallen den Henkel eines Vogelkäfigs, der schaukelnd auf seinen knöchernen Knien balanciert. Das seltsame ist: Nicht Vögel zwitschern unter dem kleinen blauen Tuch, das der Alte sorgsam, aber nicht sorgsam genug darüber gebreitet hat. Es sind fünf bunte Schmetterlinge, die da flattern wie Blütenblätter im Wind. Auch das kleine Mädchen hat sie bereits entdeckt. Sie mag vielleicht fünf sein, sagt jedoch keinen Ton. Ab und zu zieht sie die Nase hoch und zupft verlegen an ihrem Kleid. Plötzlich steht sie auf und lupft das Tuch, verschämt ob der Neugierde, die sie seit langem zu zügeln versucht. „Ja, schau sie dir ruhig an“, sagt der Greis aufmunternd. „Schön sind sie, nicht wahr?“ „Anna spricht nicht“, faucht eine Frau aus der Ecke. Sie ist die Mutter des Mädchens. „Seit einem Jahr sagt das Kind kein Wort. Wir waren schon bei Dutzenden von Ärzten, Es ist zum verzweifeln.“ Die Worte sind ihren zusammengepressten Lippen entflohen. Mit einem Ruck versucht sie, das Kind wegzureißen vom Ungeziefer. „Anna ist nicht ganz richtig“, erklärt sie noch. Eine routiniert gewordene Entschuldigung für das missratene Kind.
Anna windet sich aus der Klammer des mütterlichen Griffs. Sie schaut mir in die Augen. „Es hört mir ja doch niemand zu“, erklärt sie ohne den Mund zu öffnen. „Es wird viel zu viel geredet auf dieser Welt und meistens aneinander vorbei. Wer will schon hören, was wahr ist? Wieso sollen wir sprechen, wenn es eigentlich nichts zu sagen gibt?“
Mein Blick hält dem ihren nicht stand. Ich rede auch zu viel. Irritiert schaue ich auf den jungen Mann neben mir. Er schläft. Schnarcht leise, ein Muskel überm rechten Auge zuckt. Sein braunes Hemd und der schrillbunt gemusterte ärmellose Pulli zeugen nicht vom besten Geschmack. Die Haare kleben glatt über den spitzen Ohren. Trotzdem sieht er irgendwie glücklich aus, als habe er eine Prüfung mit eins bestanden oder sich vom selbstverdienten Geld endlich die hölzerne Essecke im Wohnzimmer geleistet. Woher er wohl kommt? Wohin er will? Manchmal erschreckt mich diese Nähe, die plötzlich durch eine Zug-, oder Busfahrt unabsichtlich und ungewollt da ist. Mir ist das unheimlich, wie nah ich da auf einmal bei jemandem sitze oder stehe, einem Wildfremden. Oft kann ich die Menschen riechen und weiß welches Parfum, welchen Deo dieser oder jene nimmt. Dann weiß ich vielleicht schon mehr, als ich wissen soll und will. Oder ich sehe einen Ehering am Finger, einen Schlüsselanhänger mit Herz, weiß dadurch, dass sie höchstwahrscheinlich von jemandem geliebt werden. Und doch wissen wir nichts voneinander. Seltsam all die kurzen Beziehungen, die man ohne es zu wollen durch einen Blick, einen Geruch, ein Lachen eingeht. Zwei Leben, die sich für Stunden, Minuten oder Sekunden kreuzen – manchmal unbemerkt, ein andermal mit Folgen für Immer. Kann auch ein Brief mein Leben verändern?
Der Schläfer neben mir heißt Harald und kommt aus Aichach vor Passau. Als Einzelkind hat er alles für seine verarmte Mutter getan, die der Vater wegen einer Jüngeren hat sitzen lassen. Dann kam die eigene Wohnung im Dachgeschoss des Geburtshauses und ein Breitwand-Sony-Fernseher mit Dolby-Suround-System. Die Tage sind ausgefüllt mit der Arbeit als Angestellter bei der Post im Ort, man kennt sich, und am Freitag Abend geht’s mit den „Jungs“ zum Kegeln ins Klubhaus. Und dann, eines schönen Tages als die Mutter tot ist, merkt der Harald, dass er des Lebens müde ist und knüpft das Fernsehkabel zur Schlinge. Die Wohnung putzt er, räumt den Kühlschrank, damit nichts stinkt, legt die Lieblingsplatte auf und steigt auf den Stuhl, auf dem schon sein Großvater vor Schweinsbraten und Knödeln gesessen hat. Alles muss perfekt sein, so hat er`s gelernt, wenn schon am Ende, dann mit Anstand! Den besten Anzug hat er an, die Vorhänge zu, da summt es über ihm. Eine Fliege stört seinen letzten Willen. Eine dicke, schillernde, blauschwarze Schmeißfliege. Er steigt vom Schemel, packt die Fliegenklatsche. Ruhe. Dann wieder oben, das selbe Spiel. Ihn packt die Wut, er den Bunsenbrenner. Doch nicht die Fliege, der Vorhang fängt Feuer und dann das ganze Haus. Er rennt um sein Leben ins Freie, keucht, steht Ruß verschmiert vor der flammenden Kleinbürgerlichkeit. Und plötzlich lacht er, hört nicht mehr auf zu lachen, lacht den entsetzten Nachbarn ins Gesicht - und hört die Fliege vorbeisummen. Am nächsten Tag steigt er in den Zug Richtung Norden, vielleicht bis ans Ende der Welt, er weiß noch nicht, wohin ihn die neue Freiheit führt. Und jetzt schläft er, erschöpft vom Leben.
So könnte seine Vergangenheit aussehen. Aber auch ganz anders.
Der Zugführer bellt den nächsten Halt in die Sprechanlage: Münster.
Ich bin aufgeregt. Die unbekannte Marie wird mich für verrückt halten, nur wegen eines Briefes durch ganz Deutschland zu reisen. Vielleicht fällt sie mir aber auch um den Hals vor lauter Dankbarkeit, dass der sehnlichst erwartete Brief endlich da ist. Ob er von ihrem Liebsten ist? Von einer Verwandten? Vielleicht von ihrer Schwester, die mit einem blondgelockten, braungebrannten Touristen für immer aus dem kalten Deutschland mit nach Miami ging?
Es hat aufgehört zu regnen, und vorsichtig stehlen sich ein paar blaue Himmelsflecken durch das bleierne Grau. Der Taxifahrer, ein redseeliger Mittvierziger, der angeblich bis zu seiner Sinnkrise vor drei Jahren katholischer Priester war, fährt mich direkt vors Haus der rechtmäßigen Empfängerin des Briefs. Es ist ganz von Efeu bewachsen, liebevoll gepflegt strecken die ersten Rosenknospen ihre Köpfe ins Licht. „M. Bauer“ steht in schnörkeliger Schrift auf dem Messingschild am Eingang. Das seidige Rascheln in meiner rechten Jackentasche ist mir schon so vertraut geworden, dass ich den Brief gar nicht mehr weggeben will. Aber ich drücke auf die Klingel. Beim ersten Mal rührt sich nichts. Dann, beim zweiten Klingeln, wird die Tür geöffnet. „Hallo, wer ist da“, ruft ein zartes Stimmchen durch den Garten. Ich schlucke. „Ich bin aus München und habe was für Sie...“ „Aus München? Kind, da sind sie ja eine Ewigkeit unterwegs gewesen. Kommen Sie herein, ich mache gerade Kaffee und frischen Pflaumenkuchen.“ Langsam hinkt die alte Dame zum Gartentor. Sie geht sicher auf die Achtzig zu, trägt das spärliche Haar sorgsam zum Knoten gewunden, arthritische Hände halten einen Stock. Sie fragt nicht weiter, will nicht wissen, was ich für sie habe oder wer ich bin – eine alte Frau, die über jeden Besuch froh ist, gutgläubig geworden durch die Einsamkeit und die Sehnsucht nach jemandem, der ihren Pflaumenkuchen lobt.
Die hellblaue Sitzecke ist zerschlissen, verrät aber noch, wie seidigweich und teuer der Stoff einst war. Da ganze Haus erinnert an Eleganz und Geld, an ein Leben in guten Kreisen mit Sonntagskaffee und Gartenpartys. Auf dem gläsernen Tisch ein verwelkter Blumenstrauß von Vergissmeinicht, auf der Ebenholzkommode Fotos von lachenden Menschen in Blumenkleidern, alle verblasst, so wie das Leben hier. Frau Bauer kommt aus der Küche, gebeugt, eine Kanne Kaffee und zwei Tassen auf einem Tablett balancierend. „Der Kuchen kommt sofort“, sagt sie und stellt alles schwerfällig ab. Dann sitzen wir da, ich mümmle an dem vorzüglichen noch warmen Pflaumenkuchen, sie lässt umständlich ein paar Körnchen Zucker in ihre Tasse rieseln. Alles geht langsam bei ihr, einer Frau die der Schnelligkeit und der Aufregungen müde ist. „Wissen Sie, ich war auch mal in München. Kurz nach dem Krieg mit einem Bekannten“, sagt sie unvermittelt, und ihr Blick schweift in die Ferne als betrachte sie die beiden Türme der Frauenkirche. „Ja, das war die beste Zeit in meinem Leben“, wieder verstummt sie. Und dann redet sie plötzlich und hört nicht mehr auf. Erzählt vom Krieg und wie die Amerikaner ganz Deutschland besetzt hatten, auch ihr Dörfchen in der Nähe von Münster, und wie sie John kennen lernte, an einem Tag im Mai am Fluss unten, wo sie Vergissmeinicht pflückte. „My little blue Star, so hat er mich immer genannt“, sagt sie und ihre tiefliegenden Augen glitzern „mein kleiner blauer Stern...ich trug an dem Tag am Fluss ein wunderschönes, himmelblaues Sommerkleid, wissen Sie....“. Ich möchte ihr die Zeit aus dem Gesicht wischen, ihr das Weiß der Vergangenheit aus den Haaren bürsten und sie als Mädchen in ihrem hübschen Kleid sehen, so glücklich und jung wie sie damals war. Für einen kurzen Moment gelingt es fast.
„Doch dann kam alles ganz anders“, sagt sie. Keine Hochzeit, keine Kinder, zumindest nicht mit John. Nach einigen Monaten, in denen sie gemeinsam durch Deutschland reisten und vogelfrei ihre Liebe genossen musste er plötzlich zurück, zurück nach Amerika – seine Mutter war schwer krank. Gedankenverloren spielt sie mit dem Anhänger um ihren faltigen Hals, ein kleiner, silberner Stern mit einem blauen Edelstein in der Mitte. „Ich habe nie wieder etwas von John gehört. Ich glaube, sein Flugzeug ist damals abgestürzt vor Amerika.“. Ich schlucke schwer an meinem Kuchen. Sie fingert am Tischtuch. „Wissen Sie, ich hab` noch lang gewartet, aber irgendwann stirbt auch die Hoffnung, meinen Sie nicht“?
Dann kam Herr Dr. Bauer daher, ein Baufirmenboss und Mann von Welt. Er hielt um ihre Hand an. „Der war ein feiner Kerl, der Leo“, sagt sie, als wolle sie nicht nur mich überzeugen. „Sicher war alles gut so, wie`s war. Manchmal lebt es sich mit Träumen besser, als mit der Wahrheit.“ Ein leiser Seufze entwischt ihr.
„Aber was erzähl` ich“? Mit einer energischen Hand wischt sie plötzlich durch die Luft, als wolle sie alle Erinnerungen zum Teufel jagen und plaudert weiter über München und das gute bayerische Essen.
Nach drei Stunden stehe ich auf. Die Vergangenheit erdrückt mich. Sie kriecht aus allen Polstern, klebt am gelblichen Porzellan, überzieht die Wände wie ein Film. Und der Brief lastet schwer in meiner Tasche. Frau Bauer bringt mich zur Tür. Sie hat sich gefreut, dass mir der Kuchen geschmeckt hat, ich solle bald wieder kommen. Am Gartentor drehe ich mich noch einmal um. Klein steht sie in der Tür, winkt linkisch und klammert sich an ihren Stock wie an den Traum, aus dem sie nie erwachen wollte. Ich haste um die Ecke, runter zu einem kleinen Fluss, der gleichgültig durch sein flaches Bett fließt. Mit zitternden Fingern ziehe ich den Brief aus der Tasche, reiße ihn in winzige Stückchen, die ins Wasser fallen und als hellblaue Punkte langsam davon schaukeln. Als letztes sehe ich das Papierstückchen mit dem kleinen Stern.