Home       Locations       Events       Unternehmen       Lesungen       Kontakt       Impressum       English      

Mirko Mikatsch – keine Italienerin 

Zugfahrten haben ja ein bisschen was Trauriges. Jeder Abschied ist ein kleiner Tod, heißt es, und inzwischen bin ich so alt, dass ich weiß: das stimmt. Seltsamerweise ist es beim Wegfliegen lange nicht so. Das Bild von Fernweh, auch von Heimweh, von unterwegs sein, ist vielleicht fast schon genetisch mit dem Bahnhof, mit Zügen, in uns, in mir verwurzelt. Ein prägnantes Bild: hallende Ansagen, Taschentücher auf Bahnsteigen, Koffer und Rucksäcke; die Tatsache, dass es einen Platz mitten in der Stadt gibt, der ein wenig verdreckt und verrucht ist, von dem aus man jeden Moment losfahren kann, alles hinter sich lassen, flüchten, ein neues Leben anfangen. Seit über hundert Jahren reisen die Menschen mit Zügen. Mit dem Flugzeug sind meine Eltern Ende der Siebziger Jahre das erste Mal in den Urlaub gekommen.
Inzwischen soll das Fliegen ja wirklich billig sein. Immer wieder sieht man die ganzseitigen Anzeigen in Zeitschriften und Zeitungen, ganze Plakatwände, Lichttafeln in Bushaltestellen. Für 99 Euro in jede europäische Großstadt. Von München aus. Was wohl die Firmen, die uns diese Preise jetzt anbieten, früher an uns verdient haben?
‚A Onewayflight from Rome to Munich is 506 Euro’.
‚Are you sure? There is nothing cheaper?’, frag ich die nette Stimme aus dem römischen Lufthansabüro. Ich stelle mir eine topmodische Italienerin vor, Mitte zwanzig.
‚I always see the advertisments’
‚I also dont understand’, sagt sie in sexy-gebrochenem Englisch, noch schlechter als das Meine, ‚when I write oneway, the price changes to maximum fare.’
Immerhin, denk ich mir; wenigstens ist das das Ende der Fahnenstange. Ich hätte um die Existenz dieses deutschen Vorzeigeunternehmens fürchten müssen, wenn es für diese Strecke einen noch höheren Preis gegeben hätte. Da hängen ja unzählige Arbeitsplätze dran, womöglich durch irgendeine verrückte Konstellation auch der meine.
‚If it would get a lot cheaper, I would take a returnticket’, mein’ ich zu ihr.
Wieder dauert es eine sexy-halbe Ewigkeit bis mein verführerisches Telefongegenüber etwas zu sagen hat. Da ich mit meinem deutschen Handy anrufe, bekomme ich langsam diese Roaming-Nervosität. Man weiß ja nie, was das fremde Netz, das einen so nett begrüßt, wenn man ins Land kommt, verlangt. Nein, eigentlich weiß man es schon. Es ist viel. Sehr viel. Ich kanalisiere meinen allmählich aufkommenden Bewegungsdrang in schnellem Auf-und-abgehen in meinem Hotelzimmer
‚Destination Munich’ spricht die Schöne und ich stocke kurz und will wissen, ob das eine Frage war.
‚Nono’ lacht sie. Wartet eine Weile und sagt dann: ‚Ecco, I have it. 464 Euro’. Pause. ‚But you may not fly on weekend days’ liest sie vom Bildschirm weiter ab.
‚Thank you’ ruf ich mit einer Betonung, die Verabschiedung andeuten soll, in den Hörer und lege eine Hundertstel Sekunde danach auf. Ich bin mir sicher, dass die Kosten des billigeren Fluges mit den Kosten, die das Telefonat verursacht hat, die 506 Euro übersteigen.
Das verquere daran muss ich ja nicht erklären. Vielleicht den Managern, die diese wahnsinnige Preispolitik betreiben. Zuerst sitze ich ein wenig geistesabwesend da und stelle mir vor, wie ich den Verantwortlichen die Grundregeln der Arithmetik einbläue. Einprügle. Und vor allem, dass 506 mehr ist als 464, Und das 99 eine reale Zahl ist. Dann fahre ich an die Stazione Termini und kaufe ein Liegwagenticket, mit drei leinenüberzogenen Betten im Abteil und kleinem, servierten Frühstück, ja genau, für 69 Euro. Der Ordnung halber muss ich sagen, dass das eine Offerta ist. Das Standardticket hätte 110 Euro gekostet. Am Münchner Hauptbahnhof habe ich für das gleiche Ticket zwei Wochen vorher 170 Euro gezahlt.
Vielleicht rührt meine Traurigkeit auch ein wenig daher? Es geht mir dabei nicht um die 60 Euro, die ich gerne gespart hätte. Es geht mir um das Gefühl, ständig übervorteilt zu werden.

Innerhalb von ein paar Minuten komme ich von der Piazza delle Marie, wo ich meinen letzten Besten-Espresso-der-Welt getrunken habe, am Bahnhof an. Die Eisenbahn ist ein Transportmittel für Arbeiter, Kleinbürger und Junge, wobei die Jungen in Normalabteilen sitzen, während die Armen mit mir im Schlafwagen liegen. Ganz bis Mittelarme in der Couchette, sechs Betten, Kleinbürger und ich im Liegewagen, drei Betten, ein Waschbecken das einem Pissoir gleicht und etwas, das aussieht wie ein Nachttopf und hoffentlich keiner ist.

Ein eigener Schlag Menschen, die da unterwegs sind. Heute mit mir: überraschend viele Inder, einige Deutsche, ein paar Italiener. Der Zug fährt von Rom durch bis München. Wiedermal hat der Zugleiter oder Lokomotivführer oder wer auch immer es nicht geschafft, die Wagen in nummerierter Reihenfolge aneinander zu hängen. Die Nummern sind bunt gemischt, die Deutschen hetzen mit roten Gesichtern den Zug entlang, die Italiener sind laut, die Inder merken es nicht. Mit meinem schlechten Italienisch habe ich rausbekommen, dass Wagen 265 zwischen 254 und 249 gekoppelt ist und gebe diese Information an ein mir entgegenkommendes Paar weiter. Sie ist wasserstoffblond und Mitte fünfzig. Ihre Seidenbluse, in Ockertönen gehalten, hat blaue, eigenartig nautische Motive in unkoordinierter Vielfalt und Größe abgebildet. Ihre Hose hat das Farbmotiv aufgenommen, aber leicht variiert – irgendwas zwischen creme und chamois. Der Gürtel genauso, verlangt mit einer goldenen Schnalle nach noch mehr Gold, was prompt an Hals, Ohr und Nase ins Auge intensiv realisiert wurde. Er, gut fünf Jahre älter, zieht den Gepäckwagen mit unzähligen Louis-Vuitton-Fakes auffallend ungeschickt über das Bahnsteigpflaster. Meiner unerbetenen Hilfe folgt ein gehetztes Bekunden von Dankbarkeit (Danke, Mein Gott, Danke, Gottseidank), optisch kombiniert mit einem perfekten, zähnefletschenden Ergebenheitsgrinsen ihrerseits. Das Gespann kommt, scheint’s, aus dem Österreichischen und diese Zähne waren nicht billig. Ihr Gepäckträger ist grau in grau gekleidet, zusammen kommen wir am Wagen 265 an. Hier stehen etwa zwanzig Mitreisende, die gern ihre Liegeabteile beziehen würden. Der Schaffner ist schlecht gelaunt und nimmt es sehr genau. Es ist seine Show, sein erster großer Auftritt (wie ich später weiß) und wir tröpfeln langsam ins Wageninnere. Sehr langsam. Bemerkenswerterweise ist der Tannenbaum in chamois mit Goldglitter und sein graues Maultier das zweite Gespann, das einsteigt. IIIaaa.
Mit einer Viertelstunde Verspätung fahren wir los und wie es der Zufall will, sitze ich allein in meinem großen Liegewagenabteil: Sehr komfortabel. Zwar hätte ich gegen eine Reisebekanntschaft nichts gehabt, ganz im Gegenteil. Aber die sind dann meistens ziemlich anders, als man sie sich erträumt. Außerdem sehe ich beim Blick auf mein Ticket, dass ich als Mann klassifiziert bin und damit - leite ich ab - mein Abteil als eines, das mit Männern belegt würde. Ich mache einen Schritt auf den Gang und stelle fest, dass neben mir der Tannenbaum residiert; unsere Blicke treffen sich. Sie nickt mir dankbar zu.
Ich setze mich ans Fenster, bin sentimental, glücklich, traurig. Der Zug setzt sich in Bewegung. Ich resümiere meinen kurzen Urlaub hier, lasse in der Unschärfe der vorbeiziehenden Landschaft meine Gedanken schweifen. Die Häuser werden weniger, der Bahndamm grüner, erste Felder unterbrechen das phantasielose Drumrum außerhalb Roms. Der Zug erhöht seine Geschwindigkeit. Schon sind wir draußen, es ist richtig grün.

Der Luftdruck eines entgegenkommenden Zuges prallt auf die Waggons, knallt gegen mein Fenster. Ich schrecke zurück. Das Blickfeld ist jetzt abgedunkelt, eine dunkelgrüne Unschärfe kreischt an meinen Augen vorbei, kurz durchbrochen von den Fenstern der vorbeirauschenden Waggons. Mein Blick sucht Licht und wechselt zur offenstehenden Tür meines Abteils. In der Reflexion der Glasscheibe, sehe ich wie Tannenbaums Gepäckträger das Hygienesiegel des in jedem Abteil angebrachten, noch in Ruhestellung nach oben geklappten Waschbeckens löst. Ich seh das nur teilweise, wenn die Bäume am drüberen Bahndamm so hoch stehen, dass sie einen dunklen Hintergrund für die Spiegelung des Geschehens aus dem Nachbarabteil geben. Dieses Siegel ist ein Klebeband, in der Art wie ein Paketband, nur dass es weiß ist. Hygienesiegel steht drauf, in blauen Großbuchstaben, die ich in der Reflexion noch lesen kann. Er hat das Band abgezogen, ganz vorsichtig abgezogen, weil es leicht reißt, und hat sich das Ganze jetzt auf seine Stirn geklebt. Wie ein Dreizehnjähriger. Der Tannenbaum quietscht wie ein kleines Gör, langt dem Esel in den Schritt. Der Zug lehnt sich in eine Linkskurve, dass gegenüberliegende Fenster krängt nach oben und das Bild ist weg, ausgetauscht durch den blassblauen Abendhimmel der Sonnenuntergangsseite.

Das Passierte rührt mich. Nach ich-weiß-nicht-wieviel Ehejahren so ein spielerisches Begehren. Mir wird warm ums Herz. Das hätte ich nicht erwartet.
Und mir fällt ein, dass ich immer davon überzeugt war, eine Italienerin zu heiraten. Ich bin den Italienerinnen verfallen. Diesem Medici-Typ mit ein bisschen hakiger Nase, langgezogenem ovalen Gesicht, blass-dunklem Teint, schwarzbraun glänzenden Haaren und unergründlich tiefen, dunkelbraunen Augen. Ich steh’ auf die, wo auch immer dieser Ausdruck herkommt. Und ich habe nicht ein Mal nur, nicht ein einziges Mal, mit einer geschlafen.
Angefangen hat dieses Interesse schon in der Schule der Kleinstadt, in der ich aufgewachsen bin. Ich war durchweg schüchtern und in der Pubertät. Spätentwickler, wie praktisch alle. Wenn nicht körperlich, dann jedenfalls mental. Ich beides – und den anderen noch ein Stück hinterher. Nicht, dass irgendjemand bei uns in der Klasse eine Freundin gehabt hätte. Aber natürlich haben wir uns gegenseitig erzählt, welche Frauen wir gut fänden und warum, und wie lang unsere Schwänze wären. Gemessen wurde freilich allein. Ich glaube, dass Durchschnittsmaß lag bei 25 Zentimetern, zumindest hat den Meisten das große Geodreieck zum Ausmessen nicht gelangt und ich hab das geglaubt; ich war ja eh ein Stiller.
Ich stand auf die Dunklen in unserer Schule - in unserer Klasse gab es keine einzige. Aber derjenige, den ich cool fand, mein Banknachbar in ein paar Fächern, konnte genauer differenzieren. Hatte irgendwelche Magazine dabei, manchmal nur die Cosmopolitan, manchmal einen Playboy, und zeigte mir, was eine Mailänderin ist, und das die in einem schwarzen Porsche sitzen müsste. Ich war natürlich dagegen, gegen den Porsche mein ich, der ging gar nicht. Ich war Fünfzehn und stamme aus einer Generation, die in der Mehrheit nach dem Abitur Geisteswissenschaften studieren wollte, vielleicht auch irgendwelche technischen Fächer. Jura und Betriebswirtschaft waren an letzter Stelle. Zumindest waren diejenigen, die dort hin wollten, nicht im Kreis der Auserwählten. Mit einem guten Deutschlehrer als Initialzündung und Büchern wie Heinrich Manns Untertan und Grassens Katz und Maus wurden wir im Glauben bestärkt, das die Welt zum Guten drängen würde, dass es eine Wahrheit des Guten gäbe. Diesen Drang wollten wir verstehen, an diesem Drang wollten wir mitarbeiten. Eine Porsche wäre Show gewesen – wir wollten echt sein.

Und mit der Klassenfahrt nach Mailand, mit den Eindrücken aus einer Stadt, deren Mädchen unter zwanzig alle dem Diktat der Jahresmode folgten, instinktiv wie die Lemminge, auch wenn das für die ein oder andere befruchtungstechnisch den Supergau bedeutete, weil sie aussahen wie Weißwürste in Stretch und Nylon, mit der Bekanntschaft einer Mentalität, die nie dem Drängen zum Guten nachgeben würde, sondern nur dem zur Show, mit der Feststellung, dass es ein Gelobtes Land gibt, in dem Mädchen mit rasierten Achseln kein Exotikum sind, die verführerisch duften und verführerisch schauen und so sexy angezogen sind, war ich geprägt wie ein Graugansküken auf das Geschnatter der Mutter – und die grad gelernten Werte des Deutschunterichtes für die Katz.

Ungezählte Male war ich seit dem in Italien, in Mailand und in Rom, in Florenz und in Syrakus, in Palermo und auf Elba. Aber außer ein paar verstohlenen Küssen kennt meine Erinnerung keine Trophäe. Das mag einmal an der italienischen Prüderie liegen, zum anderen an mir. Nicht äußerlich. Wenn man davon ausgeht, dass die gegenseitige körperliche Anziehung auf einer Mischung von möglichst unterschiedlichen Genpools beruht, bin ich optisch das klare Gegenteil einer Italienerin. Groß, blond, blauäugig, gelockt – und mehr oder weniger symmetrisch. Es liegt sicher fast zehn Jahre zurück, da habe ich in Siena ein hübsches Mädchen kennen gelernt. Das war in der Zeit, als der Musiker Vasco Rossi groß war in Italien, eine Art Mick Jagger im Kleinformat, verquirlt mit Brian Ferry und einer Prise Billy Joel. Patrizia war klein und nett und wirklich verliebt – hat aber nicht mit Zunge geküsst. Ich war verunsichert – galt ich doch eigentlich als frauenverstehender Gutküsser, aber sie verweigerte sich insofern die zwei Tage unserer Liaison konsequent. Natürlich bin ich nicht mal weiter als bis zur Gürtellinie gekommen. Kaum daheim angekommen, erreichte mich aber ein Päckchen mit einer Kassette, darauf die Stücke von Vascos letzten zwei LPs, begleitend alle Songtexte handabgeschrieben in Patrizias schöner, sauberer Druckbuchstabenschrift – locker zwanzig eng beschriebene rosafarbene Seiten. Die hätte man in mehrjähriger Arbeit also schon hinbekommen können.

Oder die Schönheitskönigin in Amalfi, die meine Freunde am Corso vor dem Strand angesprochen haben. Sie hat sich für mich entschieden, am zweiten Tag schon gingen wir Hand in Hand. Sie war so hübsch, dass mir die Spucke wegblieb – im wahrsten Sinne des Wortes: in den dunklen Gängen unterhalb der Kirchentreppe haben wir uns zu küssen versucht. Mein Mund war so trocken, dass ich alle dreißig Sekunden Wasser in mich hineinschütten musste. Wenigstens ging’s ihr nicht anders. Ständig mussten wir ins benachbarte Restaurant aufs Klo. Auf dem Rückweg über den Corso trafen wir ihren Vater. Sie hat ihn zuerst gesehen, ihre Hand zuckte aus meinem Griff, aber zu spät. Der Vater hätte sie wahrscheinlich auch geohrfeigt, wenn sie nur neben mir her gegangen wäre. Eine Ohrfeige nach der anderen. Ich stand daneben. Was sollte ich tun? Ich war achtzehn und er vielleicht Mafiosi. Sicher ein hohes Tier mit einer wunderschönen Frau – von ihm waren die Gene nicht, die Anna gottgleich gemacht haben. Die beiden zogen als italienische Inszenierung von Vaterliebe in die andere Richtung ab, begleitet vom Nicken der umstehenden und sitzenden einheimischen Erwachsenen. Wenigstens hatte ich ihre Adresse, und am nächsten Tag - Anna war nur für die Hochzeit einer Cousine nach Amalfi gekommen - konnte ich meine Freunde auf dem Weg nach Süden überreden, bei Anna in Salerno vorbeizufahren. Der Umweg sah nach einer halben Stunde Zeitverzögerung aus - nach zweieinhalb Stunden hatten wir ihr Haus gefunden. Eine Mietskaserne, die gar nicht nach reicher Mafiafamilie aussah. Vielleicht Tarnung. Die Tante wusste anscheinend von der Verliebtheit ihrer Nichte. Sie war freundlich, ließ uns rein, servierte einen pappsüßen Kuchen. Anna und ich fanden uns unversehens im dunklen Treppenhaus wieder –ich aber hatte kein Wasser dabei. Mangels Spucke begannen meine zitternden Lippen, zärtlich über die samtweiche Haut ihrer Wangen zu streifen, während meine Hände vorsichtig unter ihrer Bluse über den Rücken strichen. Das war das Paradies, wirklich. Als ich ihren Brustansatz – Oohgott – berührte, knallte eine Ohrfeige. Das war das letzte, was ich von ihr gespürt habe (wobei ich in meiner Phantasie danach nicht ganz sicher war, ob ich im Schock des Schlages ihre Brust haltsuchend ganz umgriffen habe).

Auch als ich später zum Studium in Wuppertal war, gab es Italienerinnen. Isabella, in die ich verliebt war, wollte mich immer mit ihrer deutschen Freundin verkuppeln – einer wirklich netten, rothaarigen Fränkin, die einen Damenbart hatte, eine Figur wie eine Weihenstephaner Milchflasche und in meiner Empfindung viel mehr als nur eine Liga unter mir spielte. Mit dieser Überzeugung war ich anscheinend allein und es hat eine ganze Zeit gedauert, bis ich kapiert habe, dass Isabella ernsthaft an eine Zukunft ihrer Freundin mit mir geglaubt hat, in mir nicht ansatzweise einen Mann gesehen hat. Wie ein Stofftier hat sie mich an das Kopfkissen ihrer Freundin drücken wollen, die höchstwahrscheinlich Jungfrau bis ans Ende ihrer Tage bleiben würde. Ich konnte es nicht fassen.

Es gibt Augenblicke, die mein Leben hätten ändern können; die anderen Beteiligten haben diese Momente gar nicht bemerkt, womöglich nicht einmal mich. Eine  Gymnasiastin, vielleicht achtzehn, in Mantua. Ihre Unterhaltung mit Freundinnen an einer Bushaltestelle. Sie blickt auf und lacht, lacht weiter und schaut mir in die Augen, so intensiv, dass ich meinen Blick kurz senke. Als ich wieder aufschaue, lacht sie nicht mehr. Aber ihr Blick ist immer noch auf mich geheftet. Auf eine Art fragend, auffordernd. Ein Bus fährt vor und trennt uns, die Ampel, vor der wir warten, schaltet auf grün um. Thomas fährt los. Hätte ich ‚Halt!’ schreien müssen? Kann es wirklich sein, dass so ein Augenblick für mich die Ewigkeit bedeuten hätte können, ein anderes Leben? Oder ist das nur Einbildung? Wie viele Blicke hab ich schüchtern zu deuten versucht, haben Hoffnung gegeben und die starb erst, als der Schnellere seine Griffel unmissverständlich tief im Feindesgebiet hatte?