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Christopher Kloeble – Generalprobe 

Für Carolina

„Wollen wir gleich anfangen?“
„Sehr gerne.“
„Hast du dich gewaschen?“
„Gründlich.“
„Wir nehmen nur die Gummis. Keine anderen.“
„Einverstanden.“
„Soll ich mich schnell oder langsam ausziehen?“
„Ich möchte dich gerne ausziehen.“

Einmal begegnete Silvana nackt dem Mann, der den Wasserzähler austauscht. Sie stieg eben aus der Dusche, da öffnete er die Tür. Der Zufall hätte ihn nicht besser leiten können. Wäre er eine Sekunde früher ins Bad getreten, sie hätte sich noch hinter der Milchglastrennwand befunden – mehr als Schemen nicht zu erkennen; und wäre er einen Moment später eingetreten, sie hätte sich bereits in den Bademantel gehüllt. So aber erhielt er einen uneingeschränkten Blick. Sie fand das komisch und scherzte, was wohl geschehen wäre, hätte ich mich nicht im Nebenzimmer aufgehalten. Während sie das sagte, drückte sie ihren Busen gegen mich und lächelte mich herausfordernd an. Kess, hätte sie gesagt. Ich bemühte mich unbeteiligt zu wirken und setzte mich an den Computer. Der Bildschirm grüßte mich mit einem zappelnden Namen, SILVANA flog vor schwarzem Hintergrund von Ecke zu Ecke, drehte Pirouetten und verschwand, als ich die Maus berührte. Silvana schlang einen Arm um meinen Hals und flüsterte mir etwas ins Ohr. Dann drehte sie mich auf dem Sessel zu sich um. Sie hatte sich immer noch nichts angezogen. Ich kannte das Spiel, ich sollte sie betrachten. Das wollte ich sogar, aber da sie es von mir wollte, begnügte ich mich damit, ihre Füße eines ausgiebigen Blickes zu würdigen. Sie nahm mein Kinn zwischen Daumen und Zeigefinger, hob meinen Kopf an und küsste mich. Ihre Lippen öffneten geschickt meinen Mund und ihre Zunge schnellte hervor. Ich entschied, dass es unsinnig sei, Widerstand zu leisten, und zog sie auf meinen Schoß.

„Willst du es nicht so?“
„Doch, schon.“
„Aber du lässt mich nicht.“
„Ich habe nie gesagt, dass du aufhören sollst.“
„Du hast auch nie gesagt, ich soll weitermachen.“
„Ist das wichtig?“
„Soll ich das denn? Weitermachen?“
„Wieviel Uhr ist es?“
„Hörst du mir zu? Soll ich weitermachen?“
„Es ist vielleicht besser, wenn ich dir erst das Geld gebe – wieviel?“
„Oh, das weiß ich jetzt doch noch nicht. Das hängt davon ab, wie ich weitermachen soll.“
„Du bist anstrengend.“
„Nur fordernd.“
„Nein, du bist anstrengend. Ich bezahle dich dafür, dass ich mich entspannen kann.“
„Nicht ganz richtig. Du bezahlst mich dafür, dass du dich anders entspannen kannst.“
„Sag mir nicht, wofür ich dich bezahle. Sag mir wieviel.“
„Alles in einem?“
„Wieviel?“
„Vierhundert.“
„Vierhundert!“
„Ohne spezielle Wünsche.“
„Vierhundert!“
„Fangen wir jetzt endlich an?“
„Ja. Hier. Nimm.“
„Mach die Augen zu.“
„...“
„Spürst du das?“
„Ja.“
„Soll ich weitermachen?“
„Ja.“

Sie sind einfacher zu entdecken, als man glaubt. Sie stehen zwar nicht in den gelben Seiten, aber in jeder beliebigen Stadt ist es mit ihnen so, wie mit jedem anderen Menschen auf der Welt. Über fünf Stationen kennst du sie. Bei mir war es Silvana selbst, über die ich eine von ihnen fand. Silvanas bester Freund arbeitete als Bedienung in einem Bistro. Seinem Chef gehörte ebenfalls ein Chauffeursservice. Und einer der Chauffeure war der Freund von ihr. Ich erzählte Silvana nichts davon. Sie durfte es nicht erfahren, trotz all ihrer Neckereien hätte sie mich sofort verlassen.

„Wenn deine Freundin so hübsch ist, wieso bist du dann hier? Ist sie langweilig?“
„Nein.“
„Ist sie prüde? Feige?“
„Nein, nein, das ist es nicht.“
„Na, raus damit.“
„Können wir das von vorhin noch einmal machen?“
„Hast du Geld dabei?“
„Hier.“
„Willst du das nicht lieber behalten? Schenk ihr was Schönes. Geht ins Theater. Oder Essen. Irgendwas.“
„Das hier ist wichtiger.“
„Wie du meinst.“
„Fang damit an. Das mag ich.“
„Gerne.“

Ich wagte es nicht jemandem davon zu erzählen. Ich wollte Silvana nicht verlieren. Ich war erst Achtundzwanzig, in ihrer Gegenwart allerdings älter, nicht schwächer, vergesslicher oder langsamer, sondern erfahrener, klüger, wurde mehr respektiert. Sie sah nicht zu mir hoch, sie stieg gemeinsam mit mir eine Stufe höher. Waren wir zusammen, war es nicht vermessen, uns als perfekt zu bezeichnen, in nahezu jeder Beziehung. In unserem Freundeskreis waren wir als einzige seit der Schulzeit zusammen – wir hatten Glück! Das sagten wir nicht nur um Sticheleien abzuwehren. Wir glaubten daran. Wir glaubten an uns. Wir glaubten an das perfekte Miteinander, für das man selbstverständlich Opfer bringen musste. Ich hatte meine Doktorarbeit aufgegeben, sie kündigte ihre Anstellung. Aber wir wohnten zusammen in München, in der Prinzregentenstraße. Mein Vater finanzierte uns Miete sowie Lebensunterhalt, und außerdem finanzierte er noch unsere Beziehung, auf ganz andere Weise, als er es für möglich gehalten hätte.

„Was haben wir noch nicht probiert?“
„Was würdest du gerne probieren?“
„Ich weiß nicht. Das müsstest du doch wissen.“
„Diese Arbeit ist oft langweiliger, als du vielleicht glaubst.“
„Du enttäuschst mich.“
„Was schwebt dir denn vor?“
„Etwas überraschendes.“
„Soll ich dich überraschen?“
„Nein.“
„Was dann?“
„Du sollst mir etwas überraschendes zeigen.“
„Warte, du willst, dass ich dir zeige, wie du mich überraschen kannst? Das geht nicht!“
„Du verstehst nicht. Ich will nur wissen, was dich überraschen würde.“
„Du meinst, was eine Frau überraschen würde?“
„Ja.“
„Ist das hier so eine Art Prüfung für dich? Eine Generalprobe?“
„Wenn du es so nennen willst.“
„Du vögelst also mit mir, damit deine Freundin...“
„Mehr oder weniger.“
„Das ist krank.“
„Kann dir egal sein.“
„Hast recht – eine Überraschung also?“
„Genau.“
„Das hier wird ihr gefallen.“

Sie zeigte mir nichts, was man sich nicht auch in der Fantasie hätte ausmalen können, sie erklärte mir nur, wie es funktionierte. Wahrscheinlich hatte sie mehr Spaß als ich; und trotzdem war es das Geld wert. Wenn Silvana morgens mit einem Lächeln aufwachte, wusste ich, dass es das wert war. Es war all ihre Freude, ihre Gelassenheit und Ausgeglichenheit wert, ihre Wollust und Gier. Als wir abends spazierten, an der Isar entlang, und schließlich die Treppen zum Friedensengel nach oben stiegen, zog sie mich in eine schattige Ecke und fuhr mit der Hand in meine Hose. Um uns herum hupende Autos im Betriebsverkehr. Mir gefiel, wie emsig und fiebrig Silvana weitermachte, ihr Hauch verwandelte die Abendluft in Nebel, ich sah nur ihre geröteten Wangen, ihr neckisches Lächeln. „Wünschst du dir das?“ fragte sie, und ich sagte ja, mehr als einmal, ja, ich wünsche mir das.

„Du machst das ausschließlich für sie?“
„Nur für sie.“
„Glaubst du das wirklich?“
„Nein. Aber für uns! Ich mach’ das für uns.“
„Ja, das glaub’ ich dir.“

Wir wollten gemeinsam essen gehen. Nachdem der Ober die Bestellung aufgenommen hatte, lächelten wir uns kurz an, wussten es beide voneinander, und flüchteten ins Auto. Ein Pärchen beobachtete uns durch die beschlagenen Scheiben. Silvana sagte: „Sieh mich an“. Sie blinzelte nicht ein Mal, blickte mir so bestimmt in die Augen, dass ich mich nicht traute, wegzusehen. Mit der Hand fuhr ich über ihren Rücken, spürte ihre Wirbelsäule, Schweiß und die zwei Muttermale unterhalb ihrer Schulter. Und ich spürte ihre Art sich zu bewegen, gleichmäßig und fließend, dann ungeduldig, ruckartig, nervös.
Wir gingen nicht mehr zurück ins Restaurant.

„Wie heißt sie eigentlich?“
„Silvana.“
„Es macht dir nichts aus, wenn ich ihren Namen kenne?“
„Ist doch nur ein Name.“
„Bin ich Silvana für dich?“
„Nein. Du bist irgendwer.“
„Wenn wir es machen, bin ich dann ein bisschen Silvana für dich? Wenn du mich anfasst. Hier. Wenn ich dich berühre. Wenn ich dich – so – küsse.“
„Mach weiter damit.“
„Nenn mich Silvana.“
„Nein. Wozu?“
„Tu es. Sag ‚Silvana’ zu mir.“
„Hör nicht auf...“
„Sag es.“
„Das machst du gut.“
„Los. Sag es.“
„Mach... Silvana... mach weiter.“

Wenn wir miteinander schliefen, nannte ich Silvana beim Namen. Sie mochte es. Ich mochte es. Es gefiel uns beiden. Früher hatten wir nie miteinander gesprochen, hatten keinen Laut gemacht, währenddessen. Ich sagte ihren Namen oft, sie wollte, dass ich ihren Namen schrie, und ich schrie ihren Namen, und wenn wir zusammen schrieen, war sie überall.

„Du kannst nicht?“
„Ich mag nicht.“
„Lass es uns noch einmal versuchen.“
„Hör auf damit.“
„Du musst auch nichts zahlen. Es ist gratis! Die zwei hier und das hier, alles zum Nulltarif.“
„Lass das.“
„Entspann dich. Überlass die Arbeit mir.“
„Ich will es nicht! Hör auf! Ich gehe.“
„Nein, bleib hier. Zieh dich nicht an.“
„Du gibst Ruhe?“
„Lass uns reden.“
„Ja. Es... in letzter Zeit passiert es zu oft.“
„Über so was beschwert man sich nicht.“
„Und wenn schon. Ich sehe Silvana und schon ficken wir. Mir passiert es zu oft.“
„Wie oft denn?“
„Ist doch nicht wichtig.“
„Ich verstehe. Du bist zu gut.“
„Was?“
„Ja. Du hast es übertrieben. Du hast ihr gezeigt, was sie haben kann. Jetzt will sie es.“
„Es kommt mir vor, als würden wir nur beim Ficken miteinander sprechen.“
„Vielleicht ist das ja so. Und wenn schon.“
„Darum soll es sich aber nicht drehen. Nicht ums Ficken.“
„Bravo!“
„Was ist?“
„So hast du das noch nie genannt. Und jetzt gleich drei Mal.“
„Hier, dein Geld.“
„Wofür?“
„Fürs Gespräch.“

Ich belog Silvana. Ich erzählte ihr, dass ich Schmerzen dabei hätte. Sie zuckte mit den Schultern, sagte „Macht doch nichts“, bat mich dann aber, sie zu küssen. Langsam und vorsichtig. Überall.
Als sie mir am darauffolgenden Morgen zwischen die Beine fasste, und ich wieder Schmerzen vortäuschte, schimpfte sie mit mir. Tatsächlich sagte sie Schlappschwanz zu mir und wir mussten beide lachen. Danach entschuldigte sie sich zwar schnell für die groben Worte, bläute mir aber ein, einen Arzt zu konsultieren.

„Ich habe Angst.“
„Was ist los?“
„Mir gefällt das hier so gut.“
„Wenn wir uns treffen?“
„Wenn wir miteinander reden.“
„Mir gefällt das auch.“
„Du bist mehr Silvana als sie.“
„Dann musst du auch nichts bezahlen.“
„Manchmal denke ich, dass ich ihr etwas zahlen müsste. Noch öfter denke ich, dass sie mich bezahlen müsste.“
„Bleibst du heute Nacht wieder hier?“
„Sie ist schon zu Hause.“
„Das macht doch nichts.“
„Sie wartet auf mich.“
„Ja, und?“
„Aber nur etwas länger. Du weckst mich in einer Stunde?“
„Natürlich. Natürlich wecke ich dich.“

„Wir müssen reden.“
Silvana trug noch ihren Mantel. Wir waren spazieren gewesen, eine Stunde lang, hatten Kinder auf dem Spielplatz beobachtet und verhalten gelacht. Ich hatte noch nicht die Wohnungstür hinter mir geschlossen, als sie es sagte. Wir setzten uns auf das Sofa, nebeneinander.
„Ich muss dir etwas sagen“, sagte sie, und ich dachte dasselbe. Ich dachte daran, wie es gewesen war mit einer Fremden zu schlafen, um besser, ausgiebiger, länger mit Silvana zu schlafen, wie absurd dieser Gedanke war, an den ich mich gehalten und geklammert hatte; ich dachte daran, dass mein Vater mich darauf angesprochen hatte, wohin all das Geld verschwunden sei, und wie ich mich dabei ertappt hatte, dieselbe Ausrede zweimal hintereinander zu gebrauchen, ohne dass er es merkte; ich fühlte mich erleichtert, dass Silvana sprechen wollte, reden, ausführlich über alles reden und gestehen, das wollte ich, bevor sie es herausfände, weil ich sie immer noch, das wusste ich jetzt, weil ich sie immer noch liebte; denn ich war aufgeregt, und ich war nervös bei dem Gedanken, wie sie reagieren würde; am liebsten, das dachte ich auch, hätte ich alles in einem Satz gesagt, in einen Satz gepackt, ein einziger Knall, Laut, ein einziger Strang, der alles gleichzeitig tun würde, These, Begründung, Beispiel, ohne Lücke, damit sie nicht widersprechen, mir ins Wort fallen könnte, und ich dachte, danach, dann, würden wir lange miteinander reden, in die Nacht hinein, vielleicht hindurch, nur reden, das wäre wichtiger, als miteinander zu schlafen, es wäre das einzig Wichtige, was uns verband, und das uns zu dem machte, was uns am meisten gefiel, zu einem Wir.
„Ich möchte das nicht mehr.“ Danach fragte ich sie, was sie damit meine. Und sie wiederholte sich nur: „Ich möchte das nicht mehr.“
Ich brach sofort in Tränen aus. Silvana begann zu lachen. Sie hielt sich die Hände vor den Mund, zog mein Gesicht zu sich, damit ich sie ansehen konnte, und sie sah erschrocken aus. Es tat ihr leid! Sie entschuldigte sich. Nur ein Scherz wäre es gewesen, weil es doch nichts gäbe, an dem sie rütteln wolle, weil es ganz und gar nichts gäbe, was sie zu ändern wünsche, weil alles wie es war, gut war, und weil ich hier bei ihr war und sie bei mir, uneingeschränkt, und weil sie mich lieb hätte, weil sie mich liebte. Weil sie mich liebt. Ich weinte noch, und sie entschuldigte sich viele Male, beteuerte, das würde sie nie wieder tun; sie bat mich um Verzeihung, sie mich. Ich weinte lange und ausgiebig, und sie wusste nicht warum. An diesem Tag, in dieser Nacht, schliefen wir nicht miteinander. Auch am darauffolgenden Tag nicht. Wir hatten keine Zeit für so etwas. Viel zu beschäftigt waren wir damit, uns etwas zu zeigen, das wir lange Zeit versäumt hatten.

„Hallo? Bist du das?“
„Ruf mich nicht an.“
„Wir können doch reden.“
„Ich glaube nicht.“
„Wir könnten einen Kaffee trinken gehen.“
„Ich habe keine Zeit.“
„Dann nimm dir doch die Zeit.“
„Ich lege jetzt auf.“
„Dann sag ich ihr alles. Ich erzähl ihr alles. Ausführlich.“
„Sie wird dir nicht glauben.“
„Denkst du!“
„Sie wird dir nicht zuhören.“
„Ich werde ihr sagen, was ihr im Bett miteinander gemacht habt. Sie wird sich wundern, woher ich das weiß.“
„Ist das denn so anders, als bei anderen?“
„Nein, aber... ich kann überzeugend sein.“
„Ruf hier nicht mehr an.“
„Du fehlst mir.“
„Du lügst.“
„Nein, du fehlst mir.“
„Ich muss jetzt Schluss machen.“
„Ich habe damit aufgehört.“
„Das freut mich für dich.“
„Ich arbeite jetzt in einem Lokal. Komm mich mal besuchen, ja? Ich geb’ dir einen aus.“
„Es ist schon spät.“
„Darf ich dich anrufen? Nur im Notfall?“
„Nein. Nein, das wäre nicht gut.“
„Ruf du mich an. Morgen abend? Sagen wir, so gegen acht Uhr? Ich bin zu Hause.“
„Schlaf gut.“
„Also um acht. Ich freu mich. Ich freu mich wirklich.“

Am nächsten Tag besuchten Silvana und ich die Kammerspiele. Die Aufführung war zäh und langatmig. In der Pause betranken wir uns mit billigem Sekt und witzelten über das versnobte Publikum. Ich erzählte Silvana, dass mein Vater seine Zuwendungen eingestellt habe – aber ich erzählte ihr nicht, warum. Sie war sehr verständnisvoll. Schon im Monat darauf zogen wir zu ihren Eltern nach Leipzig.