Nele Rothenbaum - Railway to Hell
Endlich. Ich sitze im Zug und entferne mich von dem Drangsal eines lasterhaften Lebens. Ich werde alles hinter mir lassen, werde alles vergessen. Schon fliegt die Landschaft in wuchtigem Grün an mir vorbei. Menschen dösen, lesen und hängen ihren Gedanken nach. Oder sie reden über belanglose Dinge mit ihren Sitznachbarn, die mit gespielter Aufmerksamkeit Interesse vorgeben. Nervige Gören rennen durch das Abteil und strapazieren die Geduld der Reisenden.
Wusch – wusch. Pflup – pflup. Ein entgegenkommender Zug rast scheppernd vorbei. Mit meiner Stirn an die Scheibe gelehnt, empfinde ich das durch ihn erzeugte, heftige Erzittern des Glases wie einen Schlag ins Gesicht. Gewaltsam. Es ist, als ob mit seinem jähen Verschwinden alles in sich zusammenfiele. Danach, nehme ich nur noch den monotonen Rhythmus des metallenen Bewegungsablaufs wahr, der mich in eine Art Dämmerzustand versetzt. Ich betrete Niemandsland. Als ob ich eine lähmende Substanz zu mir genommen hätte, spüre ich wie eine bleierne Schwere sich in meinen Gliedern auszubreiten beginnt. Noch wehre ich mich dagegen. Ich will mich nicht fallenlassen in das Zwischenreich, in dem ich wieder meine Kontrolle aufgebe. Aber langsam drifte ich ab.
Bedeutungsvolles Wispern dringt an mein Ohr. Ich verstehe nicht, doch die Dringlichkeit mit der die Silben hervorgestoßen werden, so dicht an meinem Ohr, so nah, dass ich die feuchte Wärme des Atems spüren kann, so nah, dass es fast weh tut, lässt meinen Puls in angstvoller Ahnung schneller schlagen. Ich spüre etwas Bedrohliches. Schlafe ich denn schon? „Verdammte Hure“ raunt es in mein Ohr.
Von Panik ergriffen, reiße ich die Augen auf. Der Platz neben mir ist leer. Ich schaue hinter mich, wo sich eine alte Dame die Fingernägel feilt. Bin ich jetzt schon verrückt oder zumindest im Begriff es zu werden? Sicher, ich befinde mich gerade in einem emotionalen Ausnahmezustand, aber bisher habe ich doch immer gut funktioniert. Vor ein paar Tagen noch hätte ich nie gedacht, dass es so weit kommen könnte, aber nun ... Als ich ihn traf, vorgestern Abend, in dieser stickigen, überfüllten Kneipe, weil ich Schutz vor dem Regen suchte ... Platt, aber wahr. Das Schicksal schlägt dann zu, wenn man es am wenigsten erwartet. Bis zu jenem Zeitpunkt war ich noch – eigentlich – glücklich. Oder zumindest nicht unglücklich. Ich hatte gut zu tun in meinem Job und war anerkannt. Allmählich hatte ich mir den nötigen Respekt verschafft. Man konnte mir nicht mehr alles zuschieben, was die anderen nicht machen wollten. Natürlich ging das nicht ohne kleine Blessuren auf beiden Seiten ab. Kleine Alltagshässlichkeiten, die jeder kennt, der sich im Beruf durchzusetzen versucht. Leider blieb mein Privatleben dadurch zwar auf der Strecke, aber - war ja auch nicht weiter schlimm. Mittlerweile hatte ich mich davon überzeugen können, dass ein ausgefülltes Berufsleben wichtiger sei als eine Liebesbeziehung, letztlich als alles andere. Und gerade, als ich es mir so gemütlich gemacht hatte in meinem Leben mit meiner neuen Erkenntnis, musste es passieren. Ich traf auf meinen Dämon. Dabei habe ich ihn von Anbeginn als Bedrohung, als „Zersetzer“ erkannt.
Ich hätte gewarnt sein sollen. Sein gesamtes Erscheinungsbild hatte etwas Loderndes. Seine Augen waren von dieser schwimmenden Schwärze, jedoch ohne die zigeunerhaft romantisch-verklärende, harmlose Melancholie eines Johnny Depp. Einfach nur blanke, zynische Schwärze. Mitleidlos. Ich fühlte mich sofort davon angezogen. Dead set on him. Er nickte mir nur kurz zu und ich ging hin zu ihm. Keine Fragen, keine Antworten. Nicht einmal unsere Namen haben wir ausgetauscht an jenem Abend. Wir tranken Wodka an der Theke und er kam dann mit zu mir. Er drehte einen Joint nach dem anderen, Tabletten hatte er auch dabei. Frag’ mich nicht, was das für ein Zeug war, auf jeden Fall waren wir ganz schön bedient. An alles weitere erinnere ich mich kaum. Ich hatte nur dieses unbestimmte Gefühl von faszinierender Wüstheit. Ein Konglomerat aus Beinen, Armen, Händen, Mündern und was die menschliche Anatomie sonst noch zu bieten hat. Und noch etwas von einer für mich neuen, aufregenden Qualität – ich spürte den metallenen Geschmack von Blut in meinem Mund und dessen dämpfige Wärme. Die Zeit schien endlos. Irgendwann aber fiel ich in dumpfen, schwarzen, traumlosen Schlaf. Als ich anderntags aufwachte, war er bereits fort. Ich hatte das Gefühl, als ob seine Berührungen Brandzeichen auf meinem Körper hinterlassen hätten. Ein Zettel lag neben dem Bett: „Wir treffen uns heute Abend um 22 Uhr in der Kneipe“. Kein Wenn und Aber verzärtelten diese Botschaft. Bedingungslos und somit ganz nach meinem Geschmack. Endlich einmal jemand, der weiß, was er will und nicht lange überlegt. Alles andere ist ohnehin fad.
Lieber hätte ich mir immer und immer wieder die düsteren Momentaufnahmen der vergangenen Nacht ins Gedächtnis zurückgerufen. Ich neige dazu, alles zu mystifizieren, insbesondere dass, was sich zwischen Mann und Frau abspielt, und da insbesondere, was sich zwischen ihnen im Bett abspielt, - aber die Zeit drängte. Wollte ich nur halbwegs ordentlich den weiteren Tagesablauf bewältigen, musste ich mich beeilen. „Du musst dich jetzt waschen und anziehen und dann los“, dachte ich halbherzig und öffnete zögerlich die Badezimmertür. Was ich beim Öffnen der Tür sah, ließ mir, wie man so schön sagt, das Blut in den Adern gefrieren. Vom Duschkopf in meiner Badewanne hing, befestigt durch eines meiner Halstücher, ein mittelgroßer, gehäuteter Hund, die Kacheln waren über und über mit Blut besudelt. Mein eigenes Blut schoß mir wie ein Trommelwirbel durch die Adern. Ich verlor das Bewußtsein. Stunden später erwachte ich mit schmerzendem Kopf auf meinem Badezimmerboden. Der Hund war weg. Ebenso jegliche Spuren von Blut.
Es war spät am Nachmittag und ich versuchte, mich krampfhaft zusammenzureißen. Alles schien mir mit einem Schlag zu entgleiten. Ich wusste, ich darf diesen Mann nicht wiedersehen und dennoch erfasste mich beim Gedanken an ihn ein wohliger Schauder und ein fiebriges Verlangen, das alles andere völlig egal erscheinen ließ.
Eine glühende Hand schiebt sich unter den Saum meines Kleides. Schlaftrunken lasse ich das Drängen gewähren, spüre Geilheit in mir hochkommen und öffne meine Beine noch ein bisschen weiter bis ich durch das sich monoton wiederholende „Fahrkartenkontrolle“ des Schaffners aus meinem erotischen Traum aufgeschreckt werde.
Die weiteren Stunden des Nachmittags verbrachte ich in willenloser Stumpfsinnigkeit und dem Warten auf 22 Uhr, indem ich immer wieder die gleiche CD abspielte. Dies musste die Musik sein, zu der wir Sex gehabt hatten. Ritualisierte Spielchen in der Anfangsphase der Verliebtheit. Aber hatte dies wirklich etwas mit Liebe, geschweige denn unschuldiger, unbeschwerter Verliebtheit zu tun? Ich versuchte, meinen Zustand mit der Gleichsetzung zur Normalität herunterzuspielen. Schließlich musste ich mich irgendwie beruhigen und brauchte eine Ausrede, die es mir ermöglichte, ihn wiederzusehen. Der Hund im Bad war sicher nur eine logische Konsequenz des exzessiven Drogeneinflusses vom Vorabend gewesen und eine Spiegelung meiner eigenen perversen Phantasien. Davon war ich inzwischen überzeugt. Ich wollte einfach nicht mehr daran denken, sondern mich ausschließlich diesem wabernden Gefühl von grenzenloser Lust hingeben. Ich war auf mein „obskures Objekt der Begierde“ getroffen, das mich in seinen Schlund ziehen würde. Daneben hatte nichts mehr Platz. Ich war nicht zur Arbeit gegangen, hatte mich nicht einmal unter einem fadenscheinigen Vorwand entschuldigt. Morgen ist auch noch ein Tag. Ich werde einfach sagen, dass ich Kreislaufprobleme hatte. Das war dann nicht ganz gelogen, aber eigentlich interessierte mich das alles gar nicht mehr.
Schwarz, stolz und schön stand er an der Bar. Grausam schön. Ich dachte in diesem Moment, dass ich ihn kenne, dass wir uns schon mal begegnet seien und auch da schon hatte er mir nichts als Verderben gebracht. Wir umarmten uns verhalten und stumm. Ich sog seine Wärme und seinen Duft tief in mich ein, als ob ich dadurch etwas von seiner Kraft hätte aufsaugen können. Merkwürdigerweise ließ mich diese Umarmung jedoch schwächer zurück als ich zuvor gewesen war. Ich fühlte mich willenlos und blutleer. In diesem Moment wurde mir klar, dass ich ganz einfach nur mein Schicksal zu erfüllen hatte. Wir redeten kaum, ich sprach ihn nicht auf meine Horrorvision mit dem Hund an. Es hatte sowieso keinen Sinn. Er konnte meine Gedanken hören. Also ließ ich alles weitere einfach nur geschehen.
Wieder tranken wir unmäßig und als ich mich schon fast besinnungslos getrunken hatte, stellte er mir einen, wie er sagte, Freund, vor. Einen älteren Herrn. Nicht unsympathisch. Gepflegt. Allerdings mit einem Toupet, das ein bisschen schief wie eine Baskenmütze auf seinem Kopf lag und - ab einem gewissen Alter unvermeidlich – den obligatorischen falschen Zähnen. Obwohl er eindeutig einen guten, teuren Zahnarzt gehabt haben musste, denn der Zahnjob war nahezu perfekt gelungen, sah man einfach, dass es falsche Zähne waren.
Nun ja, der alte Knabe sah alles in allem nach Geld aus. Es dauerte nicht lange und mein schöner neuer Freund bugsierte mich in den Gang vor die Toilette, um mir unmissverständlich klarzumachen, dass er mit meiner Hilfe darauf aus war, den alten Gockel auszunehmen. Im ersten Moment ängstlichen, kleinbürgerlichen Entsetzens verkrampfte ich mich und hatte den unwiderstehlichen Impuls, in Tränen auszubrechen. Wie hatte ich mich nur auf diesen Typen einlassen und so sehr von seinem Aussehen blenden lassen können? Das war wirklich das Letzte. Ich versuchte, ihm klarzumachen, dass ich das nicht mit meiner Auffassung von Rechtschaffenheit und würdevollem Lebensvollzug vereinbaren könne. Es kam zu einem kurzen, hitzigen Hin und Her, in dem er es schaffte, in Kürze alles zu zerreden, was ich an moralischen Grundsätzen aufgebaut hatte. Ich konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen, starrte nur lüstern auf seine sinnlichen Lippen, sah, wie sie furchtbar hässliche Gedanken zu Worten formten, ohne mich auf deren Inhalt zu konzentrieren. Viel zu wichtig war die Schönheit dieses Mundes und dieser kräftigen weißen – echten - Zähne. Nachdem er mir den letzten Rest Vernunft mit einem schmerzhaften Kneifen meiner Brustwarzen und einem dreisten Grinsen weggebrutzelt hatte und ich eigentlich nur noch daran dachte, wie ich mit ihm später – zur Belohnung - in der Kiste landen würde, setzte ich mich zu dem alten, reichen Toupet- und Gebissträger. Zum Glück laberte der einen Haufen Mist, wodurch es mir leichter fiel, die nötige Distanz zu ihm und der Situation zu schaffen und das ganze als einen „Job“ zu betrachten. Ich heizte ihm jedenfalls gehörig ein. Ob der Kerl Geld hatte, war mir im Grunde egal. In Wirklichkeit hatte ich mir nie etwas aus reichen Männern gemacht. Diese gesättigte Zufriedenheit turnte mich immer eher ab. Allein meinem düsteren Schönen wollte ich es recht machen, IHN wollte ich haben und wenn dies der Weg dahin war, dann wollte ich diesen Weg eben gehen. Überdies fütterte der ungesunde Hunger nach diesem mysteriösen Mann mein Ego. Stillte er doch mein angeborenes Verlangen nach Selbstzerstörung. Während ich nun den Toupetträger nach allen Regeln der Kunst umgurrte und mit meiner Zunge in seinem alten Mund herumzwirbelte, was einen bei mir einen nur mühsam zu unterdrückenden Brechreiz auslöste - wurde ich Zeuge, wie sich mein schauriger Schöner währenddessen von einer derben, fleischigen Blondine anteasen ließ, nicht ohne einen gewissen Gefallen daran zu finden, wie ich mit nagender Eifersucht meinte, feststellen zu müssen. Sein Auftreten war unglaublich. Er war, objektiv betrachtet, unsympathisch und unangenehm. Noch dazu polternd, anzüglich und immer darauf aus, mit unpassenden, provozierenden Bemerkungen die Aufmerksamkeit aller auf sich zu ziehen. Auf eine wirklich ungute Art. Mir war das alles eigentlich furchtbar peinlich. Ich wollte doch nur mit ihm ins Bett, konnte er nicht mal seine Klappe halten? Ich schämte mich. Für mich. Für ihn. Für das alles.
Der Zug verlangsamt seine Fahrt bis er fast zum Stehen kommt. Wie in Zeitlupe sehe ich das Ortsschild „Antwort“ an mir vorüberziehen.
Zu dritt verließen wir die Kneipe Richtung Haus des Toupetträgers. Sie waren gar keine Freunde, sondern hatten sich erst heute Abend kennen gelernt, was allerdings von großem Nutzen war, wie sich später herausstellen sollte. Nathan hieß unser Gönner. Er hatte die Rechnung bezahlt und gewährte uns nun Eintritt in sein luxuriöses, dunkel getäfeltes Heim. Dieser gutgläubige, dumme Kerl. Wir dankten ihm seine Großzügigkeit mit dem Vorhaben, ihm eine über den Schädel zu ziehen und ihn auszurauben. Er wusste zum Glück so rein gar nichts über uns – niente – nada - nitschewo. Keine Namen, keine Adressen, keine Herkunft. Wir waren beide richtig gut darin, allzu Persönliches geheim zu halten. Aber als wir dort in den gemütlichen, tiefen Ohrensesseln saßen bei einem Glas guten, alten Cognacs und drauf und dran waren, unseren miesen kleinen Plan in die Tat umzusetzen, wurde mir bewusst, dass ich dies hier nicht würde durchziehen können.
Ich wartete auf den geeigneten Moment, um mich aus dem Haus zu stehlen und dann rannte ich los. Wie eine Wahnsinnige rannte ich die Straße hinunter bis zur nächsten Kreuzung. Irgendwie hatte die Fügung in diesem Moment ein Einsehen mit mir und ich musste nicht lange nach einem Taxi suchen. Auf der Fahrt zu mir wurde ich Zeuge, wie eine ältere Frau von einer Straßenbahn erfasst wurde. Sie flog etwa zwei Meter hoch in die Luft. Ich konnte mich kaum beruhigen, der Taxifahrer aber fuhr mit stoischer Gelassenheit weiter, als wäre nichts geschehen. „Haben Sie das nicht gesehen?“ Meine Stimme klang verzerrt. Die Worte hallten in mir wider, als wäre ich eine leere Schaufensterpuppe. „Wass warr?“ ranzte er mich an. Ich konnte und wollte nichts mehr sagen. Mir war, als ob sich alles gegen mich verschworen hätte in dieser Nacht. Ich hatte einen dicken Kloß im Hals, an dem ich zu ersticken drohte.
Keine halbe Stunde war vergangen, als es an meiner Tür klingelte. Ich war fest entschlossen, nicht zu öffnen, ging aber trotzdem zur Gegensprechanlage, um mich selbst auf die Probe zu stellen und ob nicht doch die Chance bestünde, dass ich es mir wieder anders überlegte. Es war unglaublich, aber ich hoffte, schwach zu werden. So widerlich mir dieser Typ mittlerweile war, so sehr es mir auch bewusst sein mochte, dass ich unter seinem Einfluss immer mehr zu etwas erbärmlich Amorphem mutieren würde, so sehr verzehrte ich mich nach ihm, ohne mir dies in irgendeiner Form erklären zu können. Natürlich ließ ich ihn herein. Ich war mit meinen Nerven am Ende und mit dieser Situation maßlos überfordert. Zu viel hatte sich ereignet in den letzten 48 Stunden. Und nun stand er bereits wieder vor mir. Mir war, als ob er gewachsen sei und unnatürlich groß über mir schwebte. „Was sollte das, vorhin? Du blöde Ziege. Los geh’ rein!“ Ich wagte nicht, mich zu bewegen. Ich hatte nur noch Angst. Blanke, übel riechende Angst und trotzdem hoffte ich, dass die Situation umschwenken würde, dass ich ihn nett finden könnte, dass ich mich nicht so getäuscht hätte in ihm. Er drängte mich zurück in meinen Flur und schloss die Türe hinter sich. „Bück’ dich, du bescheuerte Schlampe! “ Wo ist Dein Geldbeutel? Gib’ mir Dein Geld!“ Er wollte mich erniedrigen und er schaffte es erneut. So wie er es immer schaffen würde, wenn ich nicht jetzt den Absprung packte. Irgendwo in einem perversen verborgenen Winkel meiner Seele erhoffte ich mir tatsächlich auch jetzt noch, dass er mich begehren möge, dass dies alles nur darauf hinauslaufen sollte, nach diesem gewalttätigen Vorspiel, um so leidenschaftlicher übereinander herzufallen. Klar hatte ich mich getäuscht. Der Typ war einfach nur schlecht, versaut und skrupellos. Als ich nicht reagierte, holte er mit seiner Faust weit aus. Bei dieser Bewegung fiel ein Revolver aus seiner Lederjacke. Ich bin sonst bestimmt nicht so geistesgegenwärtig, aber wahrscheinlich verhalf mir die irrwitzige Todesangst, die ich fühlte, zu einer Tatkraft zu finden, die ich unter normalen Umständen nie aufgebracht hätte. Blitzschnell hob ich die Waffe auf und schoss. Und schoss wieder. Ich glaube beinahe, dass der wahre Grund für meine Tat viel mehr die tiefe Demütigung und die Enttäuschung war, die ich durch ihn erfahren hatte, als das Grauen vor ihm. Ich packte rasend schnell ein paar Habseligkeiten in einen Rucksack, ohne mich davon überzeugt zu haben, ob er tatsächlich tot war. Wie von bösen Geistern angetrieben trat ich mit grimmiger Furcht in die Pedale. Ich schmiss mein Fahrrad in eine Ecke und löste eine einfache Fahrkarte nach Venedig.
Um 7.30 Uhr rollte der Zug aus dem Bahnhof.
In der Ferne öffnet sich das schwarze Halbrund eines Eisenbahntunnels. Endlich bin ich bereit, meine Kontrolle völlig aufzugeben, um mich von der sich eilig nähernden Schwärze des Tunnels empfangen zu lassen. Entspannt schließe ich meine Augen und sehe vor mir – ein zorniges, rot glühendes Augenpaar.