Home       Locations       Events       Unternehmen       Lesungen       Kontakt       Impressum       English      

Andreas Kurz: Ich, ein Anderer 

Vielleicht lag es an der Jahreszeit. Winter. Da räumt man schon mal auf und kümmert sich um den Krempel, der sonst immer liegen bleibt. Auf jeden Fall sagten sie mir, es hätte einen Irrtum gegeben, schon vor langer Zeit und das ganze sei auch recht peinlich. Doch jetzt sei man entschlossen, alle Fehler zu korrigieren, ein Beschluss der neuen Regierung, die ja viel mehr dem Bürger verpflichtet sei als die alte. Meine Identität sei falsch, eine Verwechslung gleich nach der Geburt, ein Softwareproblem oder so, der Verantwortliche sei bereits zur Rechenschaft gezogen und in den Vorruhestand geschickt. Auf jeden Fall müsste hier an meiner Stelle ein ganz anderer leben, der wäre auch schon mitgekommen und warte unten vor dem Haus im Wagen. Ich glotzte den Beamten nur an und er lächelte bemüht, sagte, ich solle mich bloß nicht aufregen, dazu gäbe es überhaupt keinen Grund, alles würde nun ins Lot kommen. Ich verstand nicht, aber der Typ, der auf ein Zeichen die Treppe herauf und auf mich zukam, lächelte freundlich und streckte mir gleich die Hand hin.
"Hallo", sagte der Typ und wir schüttelten uns flüchtig die Hände. Er sah komisch aus in seinem weißen Overall.
"Das ist nun der Echte", sagte der Beamte und verglich noch ein weiteres Mal geflissentlich das Schild an meiner Tür. Sein Körper verbog sich dabei, wohl weil es ihm unangenehm war.
"Der Echte?" fragte ich.
"Ja, ja", sagte der Beamte. "Er hat bisher als Lothar Gubinsky in Essen-Fischlaken gewohnt und auch nicht geahnt, eigentlich Sie zu sein, während Sie ja ein anderer sind."
"Ich, ein anderer?"
"Das Softwareproblem, verstehen Sie?"
Ich lachte, aber die leise Ahnung, eigentlich ein ganz anderer zu sein, hatte ich schon öfter gehabt. So ganz tief in mir drin.
"Wie wohnst du denn so?" fragte der Typ und versuchte über meine Schulter hinweg in die Wohnung zu spähen. "Bei mir war's ja nicht so großzügig. Eher beengt, wenn du verstehst."
Mir schien, er freute sich richtig auf meine Bude. Ich neigte mich zur Seite, um ihm den Blick zu versperren.
"Die Heizkosten sind ziemlich hoch", sagte ich, um seine Vorfreude gleich mal zu dämpfen.
"Alle diese Fälle werden nun rasch abgearbeitet", meinte der Beamte und lächelte äußerst bürgernah.
"Das ist toll", sagte ich.
"Darf ich?" fragte der Typ, der jetzt ich sein sollte, aber er fragte den Beamten, nicht mich, und der Beamte sagte: "Nur zu, ist ja jetzt Ihr Leben."
Der Typ schob mich zur Seite und strebte natürlich gleich schnurstracks hinüber ins Wohnzimmer, wo noch der Fernseher lief und meine Frau Irmchen auf der Couch den Schlaf des Gerechten duselte. Bei Christine Christiansen schläft sie immer schneller ein, als der erste Quatschkopf seinen Senf ablassen kann.
"Hey, Moment mal", rief ich, aber der Beamte hielt mich am Arm fest und wollte mich nicht mehr hineinlassen.
"Kommen Sie", sagte er devot und winkte. "Kommen Sie. Wir müssen nun los."
Ich wollte Schuhe anziehen und die Jacke nehmen, schon wegen dem Sauwetter draußen, aber das wollte er nicht erlauben. Das sei jetzt alles ja nicht mehr meins, sagte er und reichte mir einen billigen, weißen Overall mit dem Emblem seiner Behörde darauf, zwei so komische Männchen, zwischen denen Pfeile hin und hergehen. Genau der gleiche wie ihn auch der Typ trug, der sich gerade in meinem alten Leben breit machte. Ich musste mich umziehen, komplett, auch die Unterhose und das im Flur, wo doch gleich einer kommen und gucken könnte. Bei einem Identitätswechsel sei das unabdingbar, erklärte der Beamte und wandte sich diskret ab. Ich wollte mich von Irmchen verabschieden, aber auch das war verboten. Der Identitätswechsel solle so behutsam und zurückhaltend wie möglich vollzogen werden, das sei die von Psychologen ausgearbeitete Vorschrift und schließlich ganz im Sinne des Bürgers. Der Lebenspartner soll es so wenig wie möglich als Bruch empfinden. Ich sagte, sie schläft und der Beamte meinte, das wäre sehr gut. Wenn sie aufwacht, ist der Wechsel bereits vollständig vollzogen und abgeschlossen. Es hat sich im Grunde nicht wirklich etwas geändert.
"Außer ich halt", sagte ich und er nickte froh darüber, dass ich es verstanden hatte.
"Natürlich. Mit den Lebenspartnern gibt es aber nur selten mal ein Problem."
Der Beamte lächelte und ich spürte seine große Erfahrung.
Der Overall kratzte und zwickte zwischen den Beinen, als wir die Treppe nach unten gingen. Die weißen Gummischuhe waren zu eng und sie quietschten auf dem Parkett bei jedem Treppenabsatz. Ich maulte darüber und der Beamte meinte, dafür sei alles frei von Giftstoffen und hätte auch irgend ein tolles Umweltzeichen. Auf der winterdunklen Strasse stand ein Kleinbus im Schneetreiben, da saßen noch andere drin, alles Männer in so nem Alter wie ich zwischen nicht mehr und noch nicht, also nicht mehr jung und noch nicht in Rente. Frauen waren nicht dabei, ging wohl getrennt und es war mir auch lieber.
"Tagchen", sagte ich, aber die Gesichter blickten nur trübsinnig ins Leere. Alle trugen diese billigen Overalls und Plastikschuhe mit dem Umweltzeichen. Los ging's die Strasse runter und mitten im dicksten Schneetreiben auf die Autobahn. Keiner sagte was. Ich lehnte mich über das Sitzpolster nach vorne zum Beamten und fragte: "Sind das hier alles eure Irrtümer?"
Er zuckte richtig zusammen. "Leider Gottes, da hat sich viel angesammelt. Wenn man erst irgendwo anfängt, ist das wie eine Kettenreaktion."
"Sie alle lebten also im falschen Leben? Ist nicht wahr. Wieso hat sich da nie einer beschwert?"
Der Beamte zog ratlos die Schultern hoch. "Der deutsche Bürger ist eben sehr duldsam. Anders kann man sich das nicht erklären."
"Aber er ahnt es", sagte ich großkotzig und ließ mich zurück ins Polster fallen. "Irgendwie jedenfalls."
Der Beamte konzentrierte sich auf das Fahren, der Wischer schubberte hin und her, wir schlingerten mitten durch die Flocken hindurch und erst in der nächsten Stadt hielten wir wieder an. Der Beamte deutete auf einen Typen hinter mir. Es wurde richtig spannend.
"Rüdiger Müller, Sie gehören hier in den Drosselweg 7, dritter Stock."
"Ich will wenigstens ein Haus", nölte der Mann gereizt und hing tief im Sitz wie ein Fragezeichen. "Und Rüdiger will ich auch nicht heißen. Rüdiger ist doch Scheiße."
"Tut mir Leid", sagte der Beamte und blätterte verlegen in seinen Unterlagen. "Es ist die Wirklichkeit, der wir uns nun alle zu stellen haben. Rüdiger Müller hat es noch nicht weiter als bis hierher gebracht."
"Dann steige ich erst gar nicht aus."
"Aber sie müssen sich fügen, das verlangt das neue Gesetz. Keiner soll mehr im falschen Leben verharren müssen.."
"Leckt mich ..."
Minutenlang ging es hin und her. Rüdiger ließ den notwendigen Bürgersinn vermissen und wir anderen begannen zu murren, es nervte, schließlich packten wir den Kerl und warfen ihn hinaus in den Schnee. Soll er sich nicht so anstellen, der Blödmann. Immerhin bekommt er ein neues Leben. Der Beamte führte ihn nach oben. Ich sah noch, wie er Rüdiger auf die Schulter klopfte und ihm Mut zusprach. Viel bürgernäher als früher, dachte ich, wo man wahrscheinlich nur einen dämlichen Wisch gekriegt hätte, melden Sie sich bis 31.Januar bei folgender Adresse und so weiter. Wenn Sie's nicht tun, wird eine Strafgebühr über Euro dreihundert verhängt. Im Auftrag Huber, Amtmann. Wie ein Gestellungsbefehl vom Bund oder so. Kennt man ja.
Ein anderer Mann wurde gebracht. Er trug wohl sonst eine Brille, weil er die Augen zukniff und unsicher wirkte.
"Schönen guten Abend", sagte er höflich, als er zu uns einstieg und sich das Knie stieß. Ich hatte den Eindruck, als wäre er ganz froh, endlich wegzukommen. Ich glaube mal, alle dachten so, schon wegen dem Namen und der Gegend hier.
Wir rutschten weiter durch Kälte und Nacht und ich hatte Zeit, mir mein neues Leben vorzustellen. Wie werde ich wohl in Wirklichkeit heißen? Wo wohnen? Und mit wem? Wahrscheinlich hatten Irmchen und ich nur deshalb so oft gestritten, weil ich ja verwechselt worden war und als dieser Falsche gar nicht zu ihr passte. Vielleicht war der Sex darum so sterbenslangweilig gewesen. Einmal im Monat und nur, wenn ich vorher meinen Krempel vom Küchentisch geräumt hatte. Aber wo sollte ich mit den alten Vergasern sonst hin, wenn sie ne kleine Überholung brauchten?
Egal jetzt.
Mir begann es zu gefallen, in diesem Bus zu sitzen und durch die Nacht zu rollen. Weg von allem. Soll der andere ruhig mal morgen in meinen Betrieb gehen und meine Arbeit machen müssen. Wird er schon sehen, was es heißt, ich zu sein. Viel Spaß auch. Doch plötzlich überfiel mich undeutliche Angst. Was wird, wenn sie mir auch so einen dämlichen Namen verpassen? Als Rüdiger könnte ich nicht weiterleben, auf gar keinen Fall. Was mache ich dann?
Meine düsteren Gedanken wurden unterbrochen, denn wieder hielten wir, diesmal vor einem dieser Reihenhäuser, wie man sie vor dreißig Jahren schon auch nicht so toll fand.
"Karl Hans Meier", sagte der Beamte und sein Finger zuckte knapp an mir vorbei. Mein Nachbar war jetzt dran und ich atmete auf. Noch mal Glück gehabt.
"Hier? Tut mir das nicht an", stöhnte der Mann, aber dann stieg er aus, ohne zu diskutieren. War sicher Fatalist oder wie diese Kirche heißt.
"Nettes Häuschen", versuchten wir ihn aufzumuntern, aber natürlich lachten gleich wieder ein paar Dummköpfe, die sich nicht im Griff hatten. Das Haus brauchte mehr als frische Farbe, das sah man auch im Dunkeln durch den ganzen vielen Schnee. Als die dicke Frau dann öffnete, wütend die Augenbrauen zusammenkniff und ihn von oben nach unten und wieder zurück anglotzte, brachen wir fast zusammen vor Lachen. Na, viel Spaß, Karli!
Diesmal kam kein neuer mit. Der Beamte diskutierte mit der Frau, aber sie winkte nur arrogant ab. Am Tag vorher hatte sie den verwechselten Kerl rausgeworfen und jetzt wusste natürlich keiner, wo er abgeblieben war. Das bedeutete wohl Überstunden für den Beamten und er fluchte in sich hinein. Im Wegfahren sahen wir, wie die Frau auch den Neuen gleich rauswarf. Er rannte uns hinterher und winkte und schrie wie ein Blöder. Der Beamte konnte da natürlich nichts machen.
"Weiß ja auch nicht", sagte er entschuldigend. "Der Staat will sich so wenig wie möglich ins Privatleben der Bürger einmischen."
Wir kurvten einmal quer durch die ganze Stadt. Mann, ich sage euch, ich ahnte, dass ich jetzt drankam, als wir in diese Strasse einbogen. Ein richtiges Nobelviertel war das, überall hohe Gartenmauern und elektrische Schmiedeeisen-Tore. Säulenportale vor den Türen und Kameras neben den Namensschildern. Ich fühlte meine wahre Identität, keine Frage.
"Dr. Georg Otto von Grafenstein", sagte der Beamte, deutete auf mich und dann auf einen fetten Bungalow, der sich hinter verschneiten Tannen inmitten eines Parks versteckte und vor dem ein gewaltiger schwarzer BMW mit seltsamem Kofferraumdeckel parkte. Die anderen im Bus stöhnten auf und zogen die bedröpelsten Gesichter ihres Lebens.
"Aber genau!" rief ich selbstsicher. "Ich wusste schon immer, dass ich zu mehr berufen bin als dem bisschen mit dieser Irmgard oder wie immer sie geheißen haben mochte."
Ich schritt durch das Tor und ein Wintermärchen wurde wahr. Schon fühlte ich mich ganz zu Hause. Endlich. Der Schnösel im Hausmantel mit der Pfeife im Mund, der uns öffnete, hielt nichts von den Maßnahmen der Regierung und wollte sofort mit seinem Rechtsanwalt telefonieren. Aber das ging ja nicht, denn ich war jetzt er und ich wollte ganz und gar nicht mit meinem Rechtsanwalt telefonieren. Man versicherte ihm, das alles hätte schon seine Richtigkeit. Er wurde weggebracht und ich zog mir gleich mal seinen Hausmantel an. Den Overall durfte man nämlich nicht behalten, wahrscheinlich kochen sie die aus und nehmen sie wieder her, wegen Öko oder so, gibt ja sonst Gemecker. Die angelutschte Pfeife ließ ich im Flur in eine Ritterrüstung plumpsen, die so kostbar glänzte, als wäre sie aus purem Silber. Ich wusste erst nicht wohin, dieses Haus war riesig, schließlich entschied mich für eine Tür und fand dahinter den Pool. Hier war es warm wie im Sommer, Lichtflecke tanzten über die Decke und eine blonde Schönheit rekelte sich ölglänzend und vollkommen nackt in einem Stuhl.
"Bring deiner Süßen einen Drink", flötete sie mir zu. "Ich verdurste sonst gleich."
"Was immer du möchtest", rief ich, fand die reich bestückte Bar und kippte mir erst mal selbst einen Doppelten rein. Neben ihr war noch ein freies Plätzchen auf der Liege, ich ließ mich ins Frottee fallen und wusste, ich war angekommen. Ihr Lächeln war wie ein Stromschlag, reanimierte längst in Vergessenheit geratene Körperregionen und legte sich wie Balsam auf alle Wunden der Vergangenheit, auch die kleinsten.
Sie hieß Angelique - ein Künstlername - und berichtete, wir würden uns noch nicht so lange kennen, erst seit der Weihnachtsfeier meiner GmbH und Co KG, wo man sie und noch andere Mädels gebucht hätte, ausgesuchte Kunden und natürlich den Vorstand bei Laune zu halten. Sie hätte auch kein Problem damit, dass ich ja wegen der früheren Verwechslungen jetzt an der Stelle des anderen hier wäre. Gar kein Problem. Sie unterstütze die Maßnahmen der neuen Regierung wo sie nur könne. Ich begann gerade an ihr rumzumachen, als es läutete. Ganz schlechter Zeitpunkt, ich beschloss nicht aufzumachen. Doch das Sondereinsatzkommando der Polizei kam auch so rein. Ich konnte wegen der Erektion nicht gleich aufstehen, also machte ich auf lässig und sagte: "Aber, meine Herren, was soll die ganze Aufregung?"
"Sind Sie Dr. Georg Otto von Grafenstein?"
Ich betrachtete die Blonde, ihr Lächeln, ihre Brüste, ihren ölig glänzenden Körper und nickte emsig.
"Der bin ich wohl", rief ich dazu noch aus.
Sie legten mir Handschellen an und schleppten mich raus. Ich sei verhaftet. Erst dachte ich, sie hielten mich für einen Einbrecher und versuchte ihnen von den Identitätskorrekturen zu erzählen, die die Regierung gerade so vorbildlich bearbeitet. Doch das war ihnen egal. Grafenstein, also ich, sei ein Millionenbetrüger und nun, nach Jahren penibler Ermittlungen, sei es endlich gelungen, ihm alles nachzuweisen. Was ein anderes Amt zur gleichen Zeit für notwendig empfindet, dürfe bei der Schwere des Falls keine Rolle spielen. Sie verhörten mich die ganze Nacht, aber ich konnte nicht viel sagen, wusste eigentlich nur, dass das Haus sehr schön war und einen Pool besaß, an dem eine Blonde, bei deren Anblick ein Mann verrückt werden könnte, einen Drink nahm. Die anderen Zimmer hatte ich ja noch gar nicht betreten. Die Polizisten zeigten Verständnis für meine Lage, sie meinten, ich hätte ja jetzt viel Zeit, mich in mein wahres Leben und meine Taten einzulesen, alles sei notiert, ganze Leitzordner voll, ich bekäme Kopien.
Stolz sitze ich jetzt in meiner Zelle und lese jeden Tag etwas Neues über mich in der Zeitung. Es ärgert mich nur, dass die Blonde mich nicht besuchen kommt, nicht ein einziges Mal, also versuche ich mich an Irmtraud oder wie der Name auch immer war, zu erinnern, es ist aber nicht so leicht, es war ja das falsche Leben und ich Idiot hab es gar nicht gemerkt. Dabei war es doch ganz offensichtlich eine Nummer zu klein für einen wie mich.

(c) Andreas Kurz
Dezember 2005