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Dorothea Beckmann: Fifty-fifty 

Ich weiß eigentlich noch immer nicht, wie das alles passieren konnte, und ob Susanne nun Recht hatte mit ihrer Theorie, oder ich, aber seit eben ahne ich wenigstens, wie es weitergehen könnte.
Susanne meint, es steht fifty-fifty, weil sie immer sagt, wenn man erst mal über vierzig ist, dann ändert man sich nicht mehr. Sie hat ja auch nicht ganz Unrecht. Ich habe mich seit ich denken kann nicht verändert, oder wenigstens bin ich morgens immer als derjenige aufgewacht, als der ich abends eingeschlafen war. Und ich hatte auch keine Lust, groß darüber nachzudenken, was anders hätte sein können. Jedenfalls bis vor ungefähr einem Jahr.

Ich hatte mich damals, wie jedes Jahr, den Winter über kein bisschen bewegt. Nicht, dass ich nicht zur Arbeit gegangen wäre oder Frank und Martha nicht mehr versorgt hätte: Ich bin jeden Morgen im Dunkeln aus dem Haus, hin zum Laden, und abends im Dunkeln zurück. Und Frank wurde zunehmend dicker und träger, weil ich ihm so gern dabei zusah, wie er sich zielstrebig immer zuerst die größte Mückenlarve schnappte.
Aber darüber hinaus habe ich nie viel gemacht zwischen Mitte November und Ende Februar. Ich habe mich einige Wochen vor Jahresende stets auf den Boden der Bewegungslosigkeit sinken lassen und gewartet bis es vorbei ist, dieses dunkle, kalte Loch, das man wohl Winter nennt. Und wer mich kennt, rechnete in dieser Zeit auch nicht damit, dass ich mich meldete, Verabredungen traf oder gar unterhaltsam war. Meist saß ich einfach nur so da, trank vielleicht was und beobachtete Martha, wie sie geschäftig auf dem Sandboden unter Frank hin und her stolperte, so als hätte sie etwas Dringendes zu erledigen.
Ich habe die beiden damals von Baalke bekommen. Als er vor vier Jahren die Zoohandlung neben meinem Laden schließen musste, kam er am letzten Tag noch kurz bei mir rein, stellte eine verknotete Plastiktüte mit einem schwimmenden und einem krabbelnden Etwas auf meinen Scheitelbrechwertmesser und knurrte: "Die sind übrig. Kannst sie behalten." Immerhin erfuhr ich noch, dass es sich hier um einen Albino-Golfisch und einen neurotischen Einsiedlerkrebs handelte, die keiner hatte haben wollen, und dann war er auch schon weg. Das war damals auch im Winter. Ich hab die beiden mit nach Hause genommen, obwohl ich gar nicht wusste, was ich mit ihnen anfangen sollte. Der blasse, rotäugige Fisch schamm die ganze Zeit neugierig und unruhig an der Wasseroberfläche herum, und ich habe sofort an "Straight to the top" aus "Franks wild years" denken müssen, wo Tom Waits singt: "Until I know I´m wild and free just like a Champagne bubble." Und Martha habe ich dann eben auch nach einem Waits-Song benannt, weil die beiden ja nun für einige Zeit in der gleichen Welt leben würden.
Sie hängt in diesem Schneckenhaus fest, das ihr langsam zu klein wird, und häufig frage ich mich, ob sie bereits weiß, dass sie hier bei mir kein größeres mehr finden wird, oder ob in ihrem genetischen Programm immer noch Umzug angesagt ist, und sie deshalb so unermüdlich hin und her rennt, auf der Suche nach einem neuen Zuhause.
Jedenfalls habe ich letzten Winter eigentlich alles genauso gemacht wie immer. Ich habe rund zwölf Wochen damit zugebracht, in so einer Art Spät-Spätsommer-Erinnerung zu verharren, um dann im frühen Vorfrühling meine Pläne und Vorhaben aufzutauen und ihre Umsetzung in Erwägung zu ziehen. Ich denke ohnehin, dass die menschliche Geschäftigkeit in den Wintermonaten ein Versehen der Natur gewesen sein muss, dass wir irgendwo in den Anfängen der Evolution alle einmal Winterschläfer waren, und dass die tagelange Dunkelheit und der feuchte, weiße Matsch, der vom Himmel fällt, im Grunde eine völlig inakzeptable Zumutung gegenüber der Menschheit im Allgemeinen und mir im Besonderen darstellen.
Genau genommen habe ich das die längste Zeit meines Lebens gedacht. Aber dann ist diese merkwürdige Geschichte passiert.
Weil meine Wohnung im Erdgeschoss liegt, bin ich für die Forsythienhecke und die sechs Quadratmeter Vorgarten verantwortlich. Es gibt ein paar Stockmalven, einen Hibiskus, drei Tomatenpflanzen und die üblichen Frühblüher: Schneeglöckchen, Krokusse, Narzissen, dazwischen Gräser und Gestrüpp, wenn ich eine Zeit lang nachlässig war. Als Ende Januar die grünen Spitzen der Schneeglöckchen noch nicht aus dem Boden schauten, hätte ich eigentlich schon stutzig werden müssen, oder spätestens als die Forsythien keine Triebe bildeten und der Boden seine Farbe nicht veränderte, aber wer denkt denn schon an so was ...
Dass irgendwas nicht stimmte, habe ich zum erstenmal an dem Tag gemerkt, an dem sie im Radio 12 (C für den Vormittag angesagt hatten - und als ich dann zu meinem Auto kam, sah ich, dass die Scheiben zugefroren waren. Bei Renault ist man ja allerhand gewohnt, aber Frost bei über 10 (C? Das kriegen nicht einmal die Franzosen hin, dass sie mit ihrer eigenwilligen Kfz-Mechanik die Naturgesetze außer Kraft setzen. Keines der anderen Autos in der ganzen Straße hatte gefrorene Scheiben und - wie ich fast zeitgleich bemerkte - keiner der Leute, die vorbeikamen, war so winterlich gekleidet wie ich. Das war am 2. März, und obwohl der kalendarisch natürlich noch mitten im Winter liegt und es bis in den Mai hinein Frost geben kann, sah ich da draußen einen ersten warmen Frühlingstag, an dem ich und mein alter Rapid aber keinen Anteil hatten. Ich habe dann die Scheiben freigekratzt, den Wagen in drei Anläufen gestartet und mir befohlen, nicht weiter darüber nachzudenken.
Den ganzen März über habe ich versucht, die Augen davor zu verschließen, dass der Garten tot blieb, dass meine Hände von der permanenten Kälte rau und rissig wurden, und dass es um sieben Uhr morgens noch immer stockfinster war, die mir entgegenkommenden Autos aber allesamt ohne Licht fuhren.
Erst am letzten März-Wochenende, als es mir nicht gelang, meine Uhren auf die Sommerzeit umzustellen, war es dann wirklich nicht mehr wegzudiskutieren: Ich musste irgendwo im Winter hängen geblieben sein, vielleicht an einem bestimmten Tag, an dem ich mich verhakt hatte, und die Dinge um mich herum, meine Dinge, waren zusammen mit mir dort stecken geblieben. Nicht aber die Welt der anderen, die ich zwar sehen, durch die ich mich aber nur in meinem Wintervakuum bewegen konnte.
Ich bin eigentlich ein durch und durch rationaler Mensch. Wenn ich mir etwas nicht erklären kann, dann liegt das meines Erachtens eben daran, dass ich in der Schule an der entscheidenden Stelle nicht aufgepasst habe, oder dass mir das entsprechende Fachbuch bislang noch nicht in die Hände gefallen ist. Ich glaube nicht an Astrologie, nicht an Schicksal und nicht an Gott. Nicht einmal an Intuition. Aber diesen Dauerwinter um mich herum, der in all meinen Sachen und tief in meinen Knochen steckte, den konnte ich sehen. Also war es so: Ich steckte fest.
Ich persönlich habe das ganze Jahr über keinen Moment daran gezweifelt, dass ich mich an irgendeiner konkreten Stelle verhakt haben musste, wie sich ein auf dem Wasser treibendes Blatt in der Uferböschung verhaken kann. Und anfangs habe ich gedacht, ich muss diese spezielle Stelle finden, um mich dann dort auszuhaken. Aber erstens hatte ich keine Ahnung, wie man sich aus einem Lebensmoment aushakt - es konnte ja sein, dass ich dort wie ein Dübel in der Wand festsaß - und zweitens würde ich dann vielleicht bis an mein Lebensende immer zwei Monate hinter den anderen herleben, denn allem Anschein nach war ich ja von einer autonomen Zeit umgeben, die mit der Zeit der anderen nichts zu tun hatte, und die dann einfach weiterticken würde, wie es ihr gefiele. Außerdem hatte ich keine Idee, wie und wo ich nach dieser bestimmten Stelle suchen sollte.
Ich richtete mich also so gut es ging in meinem Winter ein. Mein Appetit auf Grog, Grünkohl und Griebenschmalz ließ auch im Mai nicht nach, mein chronischer Winterschnupfen blieb mir den Sommer über treu, an Strom- und Heizkostensenkung war nicht zu denken. Die Wäsche trocknete auf dem Dachboden unvermindert langsam, der Honig blieb zäh, die Schokolade hart, das Auto sprang morgens nicht an, und die Leute drehten sich auf der Straße nach mir um, wenn ich ihnen mit Schal und dampfendem Atem entgegenkam.
Die erste, der ich von der ganzen Sache erzählte, war Susanne. Ich bat sie in den Laden zu kommen. In einem Café hätte sie an diesem warmen Apriltag draußen sitzen wollen, und ich hätte vor klappernden Zähnen kaum sprechen können.
Als sie den Laden betrat, wäre sie wohl am liebsten sofort rückwärts wieder hinausgetaumelt, weil ich die Heizung so hoch gedreht hatte. Ich sagte ihr, genau darüber wolle ich mit ihr reden. Während der folgenden Minuten, in denen ich ihr von meiner Misere erzählte, spielte sie unablässig an meinem Zentriergerät herum und warf immer wieder einen amüsierten Blick auf mich. Als ich geendet hatte, schwieg sie noch einen Moment, dann sagte sie: "Max", in so einem Ton, in dem sie das häufig sagt, "Max, da draußen an deiner Ladentür sollte statt `Optikermeister´ besser `Verharrungsmeister´ stehen. Nicht du bist im Winter hängen geblieben, sondern der Winter ist an dir hängen geblieben. Weil du so schön bewegungslos dagesessen hast, hat sich der Winter in aller Ruhe an dir festmachen können. Und jetzt musst du ihn mit dir herumtragen." Ich fragte sie, was denn das nun wieder für ein ausgemachter Blödsinn sei. Die Vorstellung, eine Jahreszeit könne sich an einer Person befestigen, sei doch nun wirklich völlig abstrus. "Ach, aber die Vorstellung, in einer Jahreszeit stecken zu bleiben, ist ganz natürlich und naheliegend? Nein, Max, was denkst du denn, wo so eine Jahreszeit bleibt, wenn der Kalender sich ihren Mitstreitern zuwendet? Jede Jahreszeit braucht so eine Art Wirtstier, das sie ein Dreivierteljahr mit sich schleppt und mental durchfüttert. Und du bist nun einmal das ideale Wirtstier für den Winter, das nämlich so lange und geduldig stillsteht, bis die für gewöhnlich recht träge Jahreszeit sich quasi hochgehievt und angeschnallt hat." "Und am 21. Dezember lässt mich dieser Verrückte dann endlich los und kann wieder für sich alleine sorgen?" wollte ich wissen, ohne wirklich an diese verschrobene Theorie zu glauben. Das, meinte Susanne, stehe wohl fifty-fifty. Schließlich könne sie sich gut vorstellen, dass meine alljährliche Bewegungslosigkeit es dem Winter auch im kommenden Jahr besonders leicht machen würde, mich abermals als Wirtstier auszuerwählen. Dabei kicherte sie schadenfroh in sich hinein und fächelte sich mit einer Vorschleifscheibe frische Luft zu.
Ich ließ mir Susannes Hypothese in den kommenden Tagen noch einige Male durch den Kopf gehen, und erwog vorübergehend, den Winter, wenn ich ihn denn tatsächlich mit mir herumschleppen sollte, irgendwo loszuwerden, etwa in der Sauna, wo ihm die Hitze zu schaffen machen könnte, oder in Gesellschaft einer noch viel unbeweglicheren Person, zu der er dann vielleicht überlaufen würde. Aber erstens war mir klar, dass so ein Eukalyptus-Aufguss gegen einen ausgewachsenen Winter nichts würde ausrichten können, und zweitens kannte ich weit und breit niemanden mit einem so großen Verharrungsvermögen wie dem meinigen. Und außerdem glaubte ich sowieso nicht an diesen Quatsch mit dem Wirtstier.
Ich habe dann in den folgenden Monaten allen guten Freunden von der Geschichte erzählt. Inge und Heiner sahen die Sache so wie ich, Mike konnte sich für Susannes Theorie erwärmen, und Carsten wollte wissen, ob Schwalben und Mauersegler sich in meiner Nähe zum Flug nach Süden versammelten, oder ob sie für mich einfach nur nicht sichtbar wären.
Mit der Zeit entdeckte ich die Vorzüge des Winters: Ich bekam das ganze Jahr über keinen Heuschnupfen, keinen Sonnenbrand und keine Probleme mit den Gefäßen. Nicht eine einzige Mücke verirrte sich in mein Schlafzimmer, nicht eine Fliege saß auf meinem Käse, nicht eine Wespe am Marmeladenglas. Und ich hatte mir rechtzeitig im Schlussverkauf einen stattlichen Vorrat an Wollsocken, Pullovern und Schals zugelegt, die mich unter normalen Umständen wohl noch einige Winter lang zweckmäßig und variantenreich kleiden dürften.
Das Tollste aber war das Gehen im Schnee. Ich konnte den Schnee nicht sehen, aber ich konnte ihn unter den Schuhen spüren und hören. Ich lief permanent auf Schnee, auf knirschendem festen, auf weichem schallschluckenden oder auf frischem, noch unberührtem Schnee, und ich begann zum erstenmal zu verstehen, was die Leute am Schnee finden. Wenn ich die dicken, leichten Flocken von oben auf mich herabfallen spürte, wünschte ich mir jetzt manchmal, ich könnte ihnen dabei auch zusehen, wie sie scheinbar aus dem Nichts des hellgrauen Himmels mal rascher, mal langsamer auf den, der den Blick hebt, zustürzen, um ihn dann nur flüchtig zu berühren und sich mühelos aus den Haaren und der Kleidung schütteln zu lassen. Und schließlich die Helligkeit, in die der Schnee die Nächte tauchte.
So arrangierte ich mich mit dem Zustand, von dem ich immer noch nicht wusste, wie er zustande gekommen war, und ob er je enden würde, verbrachte manchen Biergartenabend mit einer unter dem Pullover versteckten Wärmflasche und bestellte im Eiscafé die Variante mit den heißen Himbeeren.
Anfang November beschlich mich noch einmal kurz der Verdacht, Susanne könnte mit ihrer Theorie vielleicht doch Recht gehabt haben, als mir am Liebknecht-Platz eine Frau mit Sonnenbrille, Sandalen und ärmellosem Top entgegenkam, die verschämt zu Boden blickte und es eilig zu haben schien. Ich fragte mich, ob der Sommer in dieser Frau ein geeignetes Wirtstier gefunden hatte, und welche ihrer Eigenschaften es wohl war, die sie für diese Aufgabe prädestinierte.
Aber wenn ich abends zuhause saß, einen kräftigen Rotwein trank, "Cold cold ground" hörte und Martha beobachtete, wie sie sich mit dem Schwanzfächer an ihrem gedrehten Hinterleibsende in dem viel zu kleinen rechtsgewundenen Schneckenhaus festkrallte, so dass man sie auch mit Gewalt nicht hätte herausziehen können, hatte ich wieder das deutliche Gefühl, mich selbst in diesem Winter verhakt zu haben, an irgendeiner konkreten Stelle.

Mittlerweile ist es Januar geworden. Der Schnee fällt jetzt sichtbar vom Himmel und ich mache häufiger große Spaziergänge. In einem Punkt denke ich wie Susanne: Es steht fifty-fifty, ob ich diesmal vom Winter loskomme oder nicht.
Martha lässt los, wenn sie ein größeres Schneckenhaus findet. Ich überlege, wo ich eines für sie auftreiben könnte. Was mich angeht, so ist es mir mittlerweile eigentlich egal, ob das mit dem Winter aufhört oder nicht. Ich warte nicht mehr darauf.
Aber als ich eben nach Hause kam, sah es so aus, als bohrten sich durch die Schneedecke im Vorgarten dunkelgrüne Spitzen.

 


Dorothea Beckmann