Dorothea Beckmann: Ungebremst
Fünf ... Tobler zog seinen Windsor noch einmal enger ... vier ... synthetische Pauken und Trompeten erschallten ... drei ... die Kameras wurden hochgefahren ... zwei ... auf der Leinwand drehte sich das funkelnde Eurozeichen ... eins ... rotes Licht: auf Sendung! Tobler straffte Schulterblätter und Mundwinkel, trat mit vier großen, festen Schritten durch die sich lautlos öffnende Studiowand und nahm den tosenden Applaus des Publikums mit einer demütigen Geste entgegen.
„Hallo und guten Abend zu Hause und im Studio! Mitgedacht und mitgelacht, wenn es wieder heißt: Wissen ist - Million! Ja, meine Damen und Herren, begrüßen Sie mit mir hier und heute Abend vier neue Kandidaten aus allen Himmelsrichtungen unseres schönen Landes, die sich jetzt noch alle Hoffnungen auf einen Geldsegen in siebenstelliger Höhe machen können.“ Tobler kam ein bisschen aus der Puste. Das taktische Überziehen des Atembogens in den nächsten Satz fiel ihm heute schwerer als sonst. „Ich freue mich auf: Margarethe Enstrupp aus Wilhelmshaven! Hans-Dieter Plassnow aus Chemnitz! Beate Wannstädtner aus Ulm! Und Christian Grosch aus Duisburg!“ Das Publikum ließ den Applaus routiniert an- und abschwellen. „Wer wird es heute Abend als erster auf unseren heißen Stuhl schaffen - der kühle Norden, der junge, wilde Osten, der bildungsverwöhnte Süden oder der jüngst kulturell geadelte Westen? In wenigen Minuten werden wir es wissen, wenn Sie mir diese, nicht für jeden ganz leichte Frage beantwortet haben!“
Die vier Kandidaten blickten konzentriert auf ihren Monitor, die Hände dicht über den nun zu drückenden Tasten. „Ordnen Sie diese heimischen Gemüsesorten chronologisch nach ihrer Saison, und beginnen Sie im Frühjahr! A: Zuckermais, B: Dicke Bohnen, C: Grünkohl, D: Spargel.“ Alle Kandidaten hatten schnell getippt. Der Gong ertönte, Margarethe Enstrupp presste ihr Plüschhäschen an die Brust und Hans-Dieter Plassnow tupfte sich den Schweiß von der Stirn.
„Ja, meine Herren, hier waren die Damen natürlich klar im Vorteil, denn jede deutsche Hausfrau kauft ihren ersten ... Spargel (!) zu Ostern, im Juni kommen dann die ... Dicken Bohnen (!) auf den Tisch, im Spätsommer wird der ... Mais (!) gegrillt und der ... Grünkohl schmeckt natürlich am besten nach dem ersten Frost, ab November, Dezember. Wer hat das gewusst?“ Auf der eingeblendeten Deutschlandkarte blinkten die Piktogramme dreier Glühbirnen, nur der Süden blieb finster - Beate Wannstädtner lebte erst seit kurzem in einer Studenten-WG und ernährte sich vorwiegend von Sushi, Caipirinha und Actimel. Am hellsten aber leuchtete die linke Landesecke auf der Leinwand und identifizierte den Duisburger als eifrigen Marktgänger oder schnellen Tipper mit glücklicher Hand. Grosch erhob sich zögernd und ließ sich von Tobler zu dem in der Boulevard-Presse schon häufig als „heißester Stuhl Deutschlands“ bezeichneten Sitzmöbel geleiten.
„Christian Grosch lebt in Duisburg, im schönen Ruhrgebiet, ist zweiundvierzig Jahre jung und von Beruf ... äh ... ich habe hier gar keine Angabe ...“ Tobler sah von seinem Monitor auf und dem blassen, schlecht rasierten Mann ihm gegenüber ins Gesicht: „Sie sind -?“ „Berufstätig“, ergänzte Grosch und brachte damit das Publikum zum Lachen und Tobler zu der Überzeugung, es hier - wie schon so häufig - mit einem eher einfältigen Kandidaten zu tun zu haben. „Ja, Herr Grosch, es ist natürlich in der heutigen Zeit gar nicht mehr selbstverständlich, überhaupt Arbeit zu haben, aber die Frage war ja: Was arbeiten Sie?“ Und als der andere nicht sofort antwortete: „Nun, denken Sie ruhig noch ein bisschen darüber nach, und teilen Sie es uns einfach mit, wenn es Ihnen eingefallen ist. Wollen wir doch erst einmal schauen, wer Sie heute Abend begleitet. ... Aber auch da sehe ich gähnende Lehre auf unserer Ich-halt-zu-Dir-Couch. Was ist da los in Duisburg? Herr Grosch! Kein Job, keine Freunde? Müssen wir uns Sorgen um Sie machen?“ Dem Kandidaten schien keine schlagfertige Antwort einzufallen, er saß regungslos und abwartend auf seinem Stuhl, so als gehe ihn das Geschehen um ihn herum gar nichts an. Tobler sah im Geiste schon die morgige Schlagzeile des Blizz: „Der Zustand der Deutschen: blass, einsam und sprachlos?“ Er unterdrückte ein Gähnen und widmete sich wieder seiner Rolle als Moderator der beliebtesten Quizshow in der deutschen Fernsehlandschaft.
„Herr Grosch, Sie kennen die Spielregeln: Fünfzehn Fragen bis zur Million, Sie haben vier Joker, den Internet-Joker (Sie dürfen 90 Sekunden im Internet recherchieren), den Zufalls-Joker (ein Zufallsgenerator wählt für Sie eine Antwort aus), den Moderator-Joker, bei dem Sie auf mein bescheidenes Wissen zurückgreifen dürfen, und den Prominenten-Joker, als den ich heute besonders herzlich begrüßen möchte: Helmut Karasek! Einen Mann, der schon oft unter Beweis gestellt hat, dass deutsche Wissenselite nicht in der akademischen Einsiedelei unserer Unis verstauben muss, sondern auch enormen medialen Charme verbreiten kann!“ Via Leinwand grüßte der omnipräsente Kulturpapst das wissensdurstige Publikum, den verschüchterten Kandidaten und seinen langjährigen Freund und Weggefährten, Fritz Tobler.
„So, Herr Grosch, dann wollen wir auch gleich mit der ersten Frage einsteigen. Fünfzig Euro, wenn Sie mir sagen können: Wer ein an ihn herangetragenes Ansinnen absegnet, gibt sein `Ja und ...´ A: ...“ Tobler stockte und kämpfte mit der Aussprache des eingeblendeten Wortes. „Egirls, B: Oboys, C: Iwomen, D: Amen!“ „Antwort D“, gab der Kandidat zurück und wurde mit einer schrillen Fanfare umgehend in seiner Wahl bestätigt.
„Einem Sprichwort zufolge geht der Krug so lange zum Brunnen bis er A: reihert, B: kotzt, C: göbelt, D: bricht.“ Und wieder parierte der Duisburger: „Antwort D“. Auch Tokio Hotel, Oliver Kahn und des Müllers Lust wusste er richtig zuzuordnen und erklomm damit die erste sichere Gewinnstufe von 500 Euro.
„Na, sehen Sie, Herr Grosch, der Anfang ist gemacht, jetzt dürfen Sie langsam auftauen und uns ein wenig über sich erzählen.“ Die Kamera zoomte auf Groschs Gesicht, das keinerlei besondere Regung zeigte. „Ich möchte jetzt bitte die 1.000-Euro-Frage beantworten.“ Jemand im Publikum räusperte sich. Toblers vorübergehendes Mitgefühl mit dem vermeintlich unbeholfenen Kandidaten wich einer leichten Verärgerung. „Herr Grosch, wir sind hier in einer Unterhaltungssendung. Da wollen wir uns doch auch ein wenig unterhalten.“ Grosch schien das nicht zu wollen, er schwieg und sah Tobler unverwandt an. „Nun gut“, lachte Tobler verkrampft, „dann werde ich ein bisschen mit dem Publikum plaudern: Kennen Sie den Unterschied zwischen der Wüste und einem Duisburger? - Die Wüste lebt!“ Verhaltenes Lachen aus der hintersten Reihe.
Auf Toblers Monitor wurde jetzt die nächste Frage eingeblendet. Die Regie schien der Ansicht, dass man dem Kandidaten am besten mit schwierigeren Aufgaben beikommen könne.
„1.000 Euro, wenn Sie mir sagen können, was man unter einem oder einer Karnivore versteht. A: einen Andenbewohner, B: einen Fleischfresser, C: eine Korallenart oder D: ein antikes Gefäß?“ „Antwort B“, kam es wie aus der Pistole geschossen. Grosch sah gar nicht auf seinen Monitor, sondern fixierte mit ausdruckslosem Blick den Moderator. „Was macht Sie denn da so sicher?“ ... „Kennen Sie überhaupt Korallenarten?“ ... „Herr Grosch, Sie wissen ja, wie es dem MSV in dieser Saison ergangen ist.“ ... „Nun gut, Sie haben es nicht anders gewollt, also B: ein Fleischfresser.“
Es zeigte sich, dass Grosch mit dieser, wie auch mit den Antworten A: Salpeter, C: 1972 und A: das Austrocknen von Zigarren zweifellos richtig lag und ihn kein noch so trickreicher Versuch des Moderators dazu veranlassen konnte, irgendetwas anderes zu sagen als „Antwort soundso“ oder etwas anderes zu tun als dazusitzen und Tobler anzuschauen. Die Antwort B: Komoren wies Grosch dann noch als profunden Kenner des Indischen Ozeans aus und sicherte ihm einen Gewinn von 16.000 Euro.
Von einem Joker war bislang nicht die Rede gewesen, das heißt, Tobler hatte schon viel davon gesprochen, so wie er überhaupt viel gesprochen, gefragt, insistiert, prophezeit und gedroht hatte, nur Grosch hatte sich an diesem Gespräch nicht beteiligt und nicht nach einem Joker verlangt.
Im Studio wurde das Licht jetzt futuristisch, die Stille gespannt, und Tobler lockerte ein wenig seine Krawatte und hoffte, dass die Kameras das feuchte Gefühl auf seiner Stirn nicht bildlich einfangen und in Millionen deutsche Haushalte übertragen würden.
„Wofür Sie das Geld benötigen, möchten Sie uns nicht vielleicht mitteilen?“ fragte Tobler mit leicht brüchiger Stimme und ohne große Hoffnung auf erschöpfende Antwort. „Nein“, bestätigte Grosch. Und weil er den Vormärz literarisch und Andreas Dresen cineastisch richtig einzuordnen wusste, waren es wenig später bereits 64.000 Euro, deren Verwendungszweck dem deutschen Fernsehpublikum vorenthalten blieb. Ein Affront sondergleichen, und Tobler nahm jetzt noch einmal Anlauf, die Ehre seiner Sendung zu retten und dem Publikum zu geben, wonach es verlangte, und was ihm doch schließlich zustand: einen privaten Kandidaten und öffentlichen Hans-Wurst, dessen Gewinnsumme eben ihren Preis hatte - die Fernsehzuschauer und morgigen Zeitungsleser mit Menschlichem zu unterhalten.
„Herr Grosch, glauben Sie nur nicht, die geballte Kraft Ihrer vier gesammelten Joker könnte Sie mit Gewinngarantie durch die drei letzten Fragen manövrieren! Auf mein Entgegenkommen können Sie beim Moderator-Joker jedenfalls nicht mehr zählen, und ob Herr Karasek noch bereit ist, Ihr perfides Benehmen mit seinem Wissen zu honorieren, das wage ich ebenfalls zu bezweifeln. Nein, mein Lieber, da müssen Sie ganz allein durch.“ Im Publikum wurde es unruhig. Grosch lehnte sich zurück, öffnete zwei Knöpfe seines Jacketts und betrachtete Tobler ungerührt. Dessen entgeisterter Blick haftete nun an dem neongrünen Emblem, das Groschs T-Shirt auf Brusthöhe zierte: „Pro Kandidat e.V.“ stand dort in einem Rund aus Händen, die einander reichten. Und während Grosch für 125.000 Euro entscheiden sollte, was er sich unter einer Syrinx vorzustellen habe, recherchierte die Regie fieberhaft den vom Kandidaten zur Schau gestellten Verein.
„So, D: Stimmerzeugungsorgan eines Vogels meinen Sie! Und verraten Sie uns auch, wie Sie darauf kommen? Nein? Nein?“ Tobler lachte hysterisch und warf dabei sein Wasserglas aus der Halterung. „Quasselwasser für Herrn Grosch!“ rief er dem herbeigeeilten Praktikanten zu, der sich bemühte, die durchnässte Hose des Moderators trocken zu tupfen. „Quasselwasser!!“ Toblers Stimme überschlug sich. Dann sackte er erschöpft in seinen Sessel, schwieg und sah Grosch mit geröteten Augen an. Mindestens zwanzig Sekunden verharrten sie so, Aug in Aug, schweigend, im Unklaren über die Ermüdung des anderen.
„Buh!“ machte Tobler und schnellte mit einer plötzlichen Bewegung nach vorne. Christian Grosch zuckte nicht mal mit der Wimper. Ruhig griff er zu seinem Wasserglas, trank einen Schluck und betrachtete interessiert den Moderator, der jetzt an einen Hamster im Laufrad erinnerte, wie er noch einmal mit den Jokern drohte, die Grosch zu gewähren er nicht mehr gewillt sei, wie er mit allen Mitteln versuchte, den Kandidaten zu erschrecken, zu beeindrucken, zu belustigen und zu provozieren, und mit all diesen Versuchen doch nur so ungebremst ins Leere lief.
„Ja, Grosch, Sie blasierter Fatzke, dann wissen Sie wohl auch das hier: Gründungsmitglied der Neuen Frankfurter Schule! Kennen Sie alle, was? Traxler, Horkheimer, Adorno, Marcuse? Na, kommen Sie, kommen Sie! B? D? C? A?
Aber man wird Sie auf der Straße erkennen, morgen! Und Sie haben sich hier heute Abend keine Freunde gemacht!“ Toblers linkes Augenlid zuckte im Rhythmus seines Zeigefingers, mit dem er mehrmals bekräftigend in die Luft stach.
Grosch fuhr derweil unbeirrt fort, die ihm gestellten Fragen wahrheitsgemäß zu beantworten: „Antwort A“, gab er sein differenziertes Wissen bezüglich alter und neuer Frankfurter Schule kund und erspielte damit vorläufige 500.000 Euro.
Auf des Moderators Monitor blinkte jetzt ein kleines rotes Ausrufezeichen: wichtige Regieanweisung! „Pro Kandidat e.V.:“, stand da. „Verein zur Wahrung und Wiederherstellung der Integrität von Medienopfern! Grosch ist seit 2005 juristischer Berater des Vereins!!“
Tobler wurde heiß, das Studio begann sich vor seinen Augen zu drehen, hilflos suchten seine Blicke festen Halt irgendwo im Publikum. „Lesen Sie mir bitte die letzte Frage vor“, drang Groschs ruhige Stimme in sein Bewusstsein und erinnerte ihn an seine ursprüngliche Aufgabe als Moderator der beliebten Quizshow Wissen ist - Million! Million! Saalbeleuchtung und gedämpfter Paukenwirbel kündigten bereits die Frage aller Fragen, die letzte und damit 1.000.000-Euro-Frage an.
Tobler rückte sich noch einmal in seinem Sessel zurecht und umfasste entschlossen mit beiden Händen den Monitor. Er räusperte sich, um auch seiner Stimme etwas von jener Stabilität zurückzugeben, die ihm der kantige Flachbildschirm zu verleihen schien. Ein letzter Hoffnungsschimmer flackerte auf und zuckte als unmerkliches Lächeln um seine Mundwinkel: Was, wenn der feine Herr Jurist mit seiner anmaßenden Auskunftsverweigerung am Ende auf die Nase fiel?
„Wollen Sie uns zu guter Letzt nicht doch noch verraten, welch ehrbaren Beruf Sie ausüben?“ Grosch schwieg. „Nein, wollen Sie nicht? Ja, das kann ich mir denken! Ich weiß es nämlich bereits“, triumphierte Tobler. „Und morgen wird es in allen Zeitungen stehen. Und man wird überhaupt all den ganzen Dreck, den Sie uns heute Abend nicht über sich erzählen wollten, herausgefunden haben. Integrität von Medienpopfern? Pah! Dass ich nicht lache!“ Ein Teil des Publikums verließ jetzt, obwohl Security-Personal das zu verhindern versuchte, den Sendesaal, und Margarethe Enstrupp drückte ihr Plüschhäschen so feste, dass eines seiner Knopfaugen absprang und über den Studioboden rollte.
„Die letzte Frage wollen Sie? Bitte, die können Sie haben! Wie nennt man ein Kreuz mit doppeltem Kreuzbalken? Haha, doppelt! Haben Sie gehört: ein Doppel mit gekreuztem Gebälk! Konstantinisches, Antonius-, Lothringisches oder Schächer-Kreuz? X? Y? Z?“ krakeelte Tobler mit irrem Blick und allerhand Gehampel vor Groschs Nase herum. „Konstantinopoli, Lotharinger, Antitoni, schlechter Schächter! Sie wissen es nicht! Sie wissen es nicht!“
Christian Grosch hatten die Eindrücke des Abends ein wenig ermüdet. Er hatte jetzt keine Lust mehr, den zweifellos unterhaltsamen Anstrengungen des Moderators zuzuschauen. Er stand auf und legte Tobler eine kleine neongrüne Karte auf den Monitor. „Loggen Sie Antwort C ein, und überweisen Sie das Geld auf dieses Konto.“ Er hatte sich schon umgedreht und wollte gehen, wandte sich dann aber doch noch einmal zu Tobler: „Lesen Sie morgen besser nicht den Blizz.“
Und Während der blasse, schlecht rasierte Duisburger aufrecht und ohne Eile das Studio verließ, ertönte die 1.000.000-Euro-Fanfare, und lauter lachende Smileys und Euro-Zeichen aus Silberfolie regneten auf Tobler hernieder, der zusammengesunken in seinem Sessel saß.
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