Ralf Kratzert: Nichts als die Wahrheit
[Saallicht geht mit einem Klack aus, Wir hören einen lang gezogenen, schmerzenden Ton von der Kapelle, ähnlich Kreide auf Schiefertafel. Mit einem Klack gehen zwei Spots auf die Schauspieler an. Spots von vorne, extremes Unterlicht. Er spricht.]
Ich will ohne Umschweife und direkt zur Sache kommen: Die nächsten 15 Minuten werden die letzten sein, die Sie erleben. Sie werden sterben.
[Kleine Pause]
Ja, lachen Sie ruhig, Hochmut kommt vor dem Fall – in diesem Fall: vor dem Tod. Ich darf Ihnen kurz das Procedere erklären: Sie werden in Kürze ein Serum zu sich nehmen, dass im wesentlichen dem entspricht, das jede Kriegsmacht dieser Erde, jeder Geheimdienst – auch wenn beide dies auf Anfrage leugnen würden, ja sogar müssen – bei Verhören eingesetzt hat. Es handelt sich also, wie die Intelligenteren unter Ihnen bereits erraten haben dürften, im weitesten Sinne um ein Wahrheitsserum. Um auch bezüglich der Wirkung keinen von Ihnen im Unklaren zu lassen: Als Wahrheitsserum bezeichnet man eine Droge, welche geeignet ist, Informationen von einer Person zu erhalten, die diese eigentlich nicht preisgeben will. Nach Verabreichung des Serums wird man in der Regel sehr kommunikativ und äußert seine Gedanken,
ohne zu zögern.
Wir wollen uns diesen Umstand nun noch einmal verdeutlichen: Bitte lassen Sie also eben Gesagtes noch einmal in aller Ruhe
auf sich wirken:
[Sie spricht]
Das Serum, das Sie in Kürze zu sich nehmen werden, ermöglicht es, einer Person – in unserem Falle: Ihnen allen – Informationen zu entlocken, die Sie ansonsten niemals preisgeben würde. Und weiter: Nach Verabreichung des Serums wird man – also Sie alle – in der Regel sehr kommunikativ und äußert seine Gedanken,
ohne zu zögern.
[Er spricht]
Ich habe mich bezüglich des Wahrheitsserums für Thiopentothal entschieden, ein schnell- und hochwirksames Barbiturat, das bei einem Wirkungseintritt von 10 bis 40 Sekunden ganze 15 Minuten wirkt. In klaren Worten: Sie werden nach Einnahme des Serums ganze 15 Minuten die Wahrheit denken – und auch sagen.
[Kurze Pause]
Und nun sehen Sie sich bitte um. Mit wem sind Sie heute Abend hier? Mit Ihrem Partner? Herzlichen Glückwunsch. An Ihnen werden wir in Kürze die meiste Freude haben. Ich bitte Sie nun, sich ihren Partner genau anzusehen – so, wie Sie ihn nun sehen, wie Sie ihn nun erleben, werden Sie ihn nie wieder erleben. Bitte sehen Sie sich ihren Partner genau an.
[Schmerzvoll lange Pause. Dann schnell abwechselnde
Melange beider Schauspieler]
Er wird nun lächeln, sein Ohr oder seine Nase berühren, das Weinglas in die Hand nehmen oder sich eine Zigarette anstecken. Sie werden Ihn wahrscheinlich dafür mögen – und ihrerseits ebenfalls lächeln, Ihr Ohr oder ihre Nase berühren, das Weinglas in die Hand nehmen oder sich eine Zigarette anstecken.
[Er spricht]
Sollten Sie ein sentimental veranlagter Mensch sein – und obendrein auch noch an Reinkarnation glauben: Prägen Sie sich dieses Scheinbild, diese Projektionsfläche all Ihrer Wünsche bezüglich einer erfüllten Beziehung sehr genau ein. Denn in Kürze wird all das überlagert sein von anderen, ganz anderen Gedanken, ganz anderen Empfindungen – und, aber dazu kommen wir später: Zu ihrem eigentlichen Naturell gänzlich unpassenden und extremen Handlungen. Zugrunde legend das, was Sie bis hier und jetzt wissen: Es wird zuallererst überlagert sein von der … Wahrheit.
Vielleicht von der Wahrheit, dass Sie gar nicht mehr genau wissen, warum Sie eigentlich genau mit diesem einen Menschen, dem Sie gerade in die Äugen sehen – und nicht zum Beispiel mit dem daneben, ja, sehen Sie sich bitte auch den Menschen neben ihrem Partner genau an – oder einem x-beliebigen anderen in diesem Saal, in dieser Stadt, auf dieser Welt das versuchen, was Sie nicht nur gesellschaftlich erhebt, als einen Menschen in einer scheinbar funktionierenden Beziehung, und damit im beruflichen wie privaten Umfeld zu allererst fürs Dasein legitimiert … sondern Sie erfüllt, Sie strahlen lässt. Wollten Sie nicht im tief verborgenen Inneren Ihrer selbst … genau das?
Das war ein zugegebenermaßen langer und schwieriger Satz. Aber nichts desto trotz, ein wichtiger:
Also hören Sie bitte noch einmal genau hin:
[Sie spricht]
Vielleicht von der Wahrheit, dass Sie gar nicht mehr genau wissen, warum Sie eigentlich genau mit diesem einen Menschen, dem Sie gerade in die Äugen sehen – und nicht zum Beispiel mit dem daneben, ja, sehen Sie sich bitte auch den Menschen neben ihrem Partner genau an – oder einem X-beliebigen anderen in diesem Saal, in dieser Stadt, auf dieser Welt das versuchen, was Sie nicht nur gesellschaftlich erhebt, als einen Menschen in einer scheinbar funktionierenden Beziehung, und damit im beruflichen wie privaten Umfeld zu allererst fürs Dasein legitimiert … sondern Sie erfüllt, Sie strahlen lässt. Wollten Sie nicht im tief verborgenen Inneren Ihrer selbst … genau das?
[Er spricht]
Vielleicht wird es aber auch die über Jahre andauernde Lieblosigkeit Ihres Partners sein, deren Offensichtlichkeit plötzlich mit einer Wucht auf Sie einbricht, als gäbe es kein Morgen mehr ... was für Sie übrigens exakt zutrifft. Also, wann reinen Tisch machen, wenn nicht jetzt? All die Jahre Ihres kostbaren, Ihres einzigen Lebens, die Sie mit einem Menschen verbrachten, ja, verschwendet haben, der Sie aufgrund seines emotionalen Autismus’ oder schlichter Unfähigkeit offenen Auges verkümmern ließ, ja verhöhnte, in Ihrem Bemühen, zwischen Ihnen etwas … Wahrhaftiges zu schaffen.
[Sie spricht]
All die wortlosen Autofahrten zurück in die Stadt, heimkehrend von wohl geplanten Wochenendausflügen, die wieder nur Zeit verstreichen ließen und außer stereotyper Befriedigung von Trieb nichts, aber auch gar nichts von dem verbuchten, was Sie sich viel viel früher – noch jung und voller Träume – von diesen Momenten exklusiver Zweisamkeit erwünscht hätten.
[Beide sprechen gleichzeitig (oder im Kanon?),
stimmlos, fast wie im Gebet]
Schließen Sie die Augen und denken Sie an die Sekunden und Minuten, in denen Sie sich körperlich so nah waren, wie sich zwei Menschen nur sein können. Denken Sie an zerwühltes Laken, Schwindel, Schweiß, schweren Atem ... verbunden mit dem inständigen Wunsch, es könnte sich anders anfühlen, als es sich tatsächlich anfühlt: fahl, falsch und betrogen.
[Kleine Pause, er spricht]
Vielleicht sind Sie aber gar nicht mit Ihrem Partner hier? Dann sehen Sie sich bitte um, zuerst die Herren. Ist Ihnen diese Dame aufgefallen, in diesem Fähnchen feinster Seide? Adrett, denken, Sie, durchaus … adrett. In Kürze werden Sie das anders sehen. Sie werden sehen, wie Sie sich windet, lächelt und den seit der Pubertät perfektionierten Augenaufschlag gezielt in die Richtung der Herren wirft, die als potentielle Spender von neuem Leben und neuem Geld in Frage kommen? Wie sie, gleich ob diese Herren in Begleitung sind oder nicht, schulmädchengleich kokettiert und sich mit leicht geneigtem Kopf und halb geöffnetem Mund Fremdwörter erklären lässt, deren Bedeutung sie entweder genau kennt oder sie nicht im geringsten interessiert, nur um mit gespielter Demut das zu erreichen, was sie die
„Bestimmung im Leben einer Frau“ nennt?
Sie werden sehen, wie sie sich windet, in diesem Fähnchen feinster Seide, das bestimmt auch eine Nummer größer im Regal lag … ja, und mehr noch: Sie werden sogar hören, wie die Seide wimmert, dass sie einst ein feines Stöffchen mit großer Zukunft war, in Fernost auf zitternden Knien unterbezahlter laotischer Mädchen zu einem schmucken Sommerkleid der Größe S genäht wurde, dass sie von einer glorreichen Zukunft träumte, auf den Laufstegen in Mailand oder Paris – und erwachte in diesem exorbitanten Albtraum von Maßlosigkeit und falsch verstandenem Wohlstand.
Ihnen wird dieses Trio auffallen: Zwei beste Freundinnen, eine von beiden hat ihren neuen Herzbuben dabei. Sehen Sie doch, wie sich die begleitende Freundin mit zunehmender Dauer des Abends zu einer missgünstigen, niederträchtigen und Funken speienden Bestie verwandelt, deren Bluse sich scheinbar wie von Geisterhand immer noch einen Knopf weiter öffnet. Sie werden sehen, dass sich diese beiden Damen, die angeblich nichts, aber auch gar nichts, auf die jeweils andere kommen lassen, zu radikalen Amazonen der Neuzeit verwandeln: Zu Furien, die unter Emanzipation eher
geschlechterspezifischen Fundamentalismus als die eigentliche Intention, nämlich Selbstbestimmung, Gleichberechtigung und die damit verbundene Eigenverantwortlichkeit verstehen, die nach wie vor – seit ihrer ersten Menstruation – ihren kleingeistigen heiligen Krieg für die Schwangerschaft kämpfen. Nichts als die Wahrheit, meine Herren, nichts als die Wahrheit.
[Sie spricht]
Und nun zu den Damen. Sehr verehrte Damen, ist Ihnen dieser recht gewachsene junge Herr aufgefallen, dem sein hellbrauner Anzug im Stile der britischen Noblesse … ausgesprochen gut steht? Warten Sie nur, ja warten Sie noch ein wenig – in Kürze werden Sie gewahr, dass all sein Habitus – das aufmerksame Nachschenken von Wein, das Feuer für die Zigarette mit einem silbernen Feuerzeug aus dem Art Deco – er ist nicht müde, diesen Umstand zu erwähnen – sein bescheidenes Lächeln, wenn ihm Anerkennung zukommt, bezüglich seiner literarischen Veröffentlichungen, die er scheinbar nebenbei aufs Tableau bringt – wie auch sein altes Mercedes Benz Coupe (gut für entspannte Landpartien am Wochenende) – ja, dass all sein Habitus im Ende doch nur Maskerade ist – und dem Erreichen einer rhythmischen Muskelkontraktion mit abschließendem eruptiven Erlebnis entgegenarbeitet, diesen im Angesicht der eigenen Endlichkeit entrückten, klebrigen und völlig überbewerteten 2 bis 5 Sekunden.
Sie werden merken, dass er an Stellen lacht, die Sie nicht zur Erheiterung erzählt haben, dass er dann, wenn Sie stockend vom schmerzvollen Niedergang Ihrer letzten Liebesbeziehung berichten, plötzlich abwesend wirkt, weil der Dame neben ihm bei einer ungeschickten Bewegung die Unterwäsche ihren ursprünglichen Dienst versagt – nämlich den, unter der restlichen Wäsche zu verbleiben … überflüssig zu sagen, dass auch diese ... Ungeschicktheit der Dame kein Zufall war. Nichts als die Wahrheit, meine Damen, nichts als die Wahrheit.
[schmerzvolle Pause, er spricht]
All das, sehr verehrte Damen und Herren, wird Sie in Kürze in den Wahnsinn treiben – und in letzter Konsequenz zu Handlungen hinreißen, die ihrem sonstigen gesellschaftlichen Benehmen nicht nur im Ärgsten widersprechen, sondern darüber hinaus von einer Entrücktheit und Endgültigkeit durchsetzt sind, die Sie erschauern ließe, könnten Sie sich selbst dabei zusehen.
[Sie spricht]
Es ist die Wahrheit selbst, die Sie gleich erschüttern wird. Das Kuriose dabei ist: Diese Wahrheit ist an sich nichts weiter, als das plötzliche sichtbar sein von dem, was immer da war – in Ihnen. Sie haben es nur vergessen: Um zu funktionieren, um gewisse Dinge funktionieren zu lassen, von denen Sie dachten, dass Sie funktionieren müssten, oder dass sie irgendeinem höheren Ziele dienlich wären ... mit der Möglichkeit, dass es anders sein könnte, dass Ihr Leben anders sein könnte, haben Sie gänzlich unbewusst abgeschlossen. Bezeichnen wir dies gütig als die hohe Schule der Assimilation, ist und bleibt es doch in Wahrheit schlicht Feigheit vor dem Kaleidoskop der Möglichkeiten – und damit Feigheit vor der eigenen Courage. Schließen Sie nun die Augen und denken Sie an früher.
[Kapelle spielt „Summertime“, Lied bricht in der Mitte abrupt ab, als wäre man aus einem Traum erwacht. Er spricht]
Und dann denken Sie wieder an heute, hier und jetzt: Sie lassen sich betäuben – deswegen und nur deswegen sind Sie heute Abend hier. Literatur interessiert Sie, wenn überhaupt, nur peripher – gutes Essen serviert man auch anderswo – ohne Amüsement. Man könnte also denken, Sie wollten sich heute Abend … amüsieren. Falsch gedacht. Es geht Ihnen heute Abend nur vordergründig um Amüsement – denn selbst die Fähigkeit, sich rein und vollen Herzens zu amüsieren, vorurteilsfrei und offen aufzunehmen, ist Ihnen verloren gegangen. Es geht Ihnen schlicht und ergreifend um eine lückenlose Betäubung Ihrer Wahrheit.
[Sie spricht]
Machen Sie sich nun gefasst auf einen Sturm scheinbar ausgelöschter Empfindungen. Wie schon anfangs erwähnt, werden Sie in Kürze ein Wahrheitsserum zu sich nehmen. Sie werden Ihren Partner, Ihre Partnerin, die Dame in feiner Seide, die Fundamentalistinnen – und auch den wohl gewachsenen Herrn mit dem Mercedes Benz Coupe anders wahrnehmen, als sonst: nämlich nackt, armselig und verzweifelt.
[Er spricht]
Wir kommen zum Ende. Ich sprach Anfangs davon, dass in Kürze all Ihr Denken und Sein überlagert sein wird von Gedanken und Empfindungen, die ihnen bisher fremd waren – dafür reicht ein Barbiturat. Um zusätzlich auch Ihr Handeln nach meinen Wünschen motivieren zu können, habe ich mir erlaubt, das Wahrheitsserum mit einem Amphetamin anzureichern. Amphetamin ist ein so genanntes Sympathomimetikum – das heißt, es wirkt stimulierend auf den Sympathikus. Konkret bewirkt Amphetamin im Gehirn die Ausschüttung von Adrenalin, Noradrenalin und Dopamin. Der Körper wird daraufhin in einen Zustand versetzt, der englisch als "Fight-Fright-Flight", zu deutsch: „Kämpfen-Fürchten-Flüchten“ bezeichnet wird. Dieser Zustand ist in gewissen lebensbedrohlichen Lagen überaus sinnvoll. Zum Beispiel in einem … Krieg. Im 2. Weltkrieg wurde Amphetamin in Deutschland, den USA, Großbritannien und Japan in den Armeen eingesetzt, um die Soldaten wach, motiviert und aggressiv zu halten. Amphetamin steigert das Selbstbewusstsein und senkt gleichzeitig die Aggressionsschwelle. Kurz gesagt: Amphetamin macht Menschen zu hoch motivierten Kampfmaschinen.
Lassen Sie mich schließen mit einem kurzen Conclusio: In Kürze werden Sie eine geradezu überwältigende Metamorphose durchleben. Sie werden gewahr, was ein Cocktail aus einem Wahrheitsserum und einem aggressions- und motivationssteigernden Amphetamin aus einem scheinbar normalen Menschen macht. Oder sollte ich sagen, was die … Wahrheit aus einem scheinbar normalen Menschen macht?
[Kapelle beginnt mit „Black Rider“ von
Tom Waits]
Machen Sie sich gefasst auf eine Katharsis der besonderen Art: Sie werden sich gegenseitig zerfleischen. Sie werden weit aufgerissenen Auges in ihre eigene Apokalypse rasen. Sie werden sterben. Es ist Zeit aufzuräumen. Hier und jetzt. Sie werden sterben. Denn ohne es zu merken, sind Sie dies bereits: tot. Wenn nicht vollends, so doch zumindest ein gut behüteter Teil von Ihnen – der Teil, der eigentlich Ihr Leben sein sollte. Sie werden nun sterben.
[Beide Schauspieler stehen langsam auf und starren regungslos geradeaus. Die Musik wird leiser. Effektpause für den Text.
Sie spricht.]
Das Dessert bitte.
[Das Saallicht geht mit einem lauten Klack wieder an, Musik wird laut und wild, die Saaltüren öffnen sich, das Dessert wird serviert.]
Copyright by Ralf Kratzert