Andreas Kurz: Zu wenig zuviel
Alles begann mit diesem Wisch von der Krankenkasse. Ich hielt es erst für Werbung und wollte es wegwerfen, schon wegen dem fetten Schwein auf dem Umschlag, ein Typ mit Schmerbauch, der gerade in einen Hamburger biss. Die Mayonnaise quoll ihm durch die Wurstfinger, er stand in lächerlich karierten Unterhosen auf der Waage und darunter leuchtete in grüner Blockschrift: LEICHTER LEBEN BESSER LEBEN, auch Sie können es jetzt schaffen. Was ich für eine Massendrucksache hielt, entpuppte sich als persönliches Anschreiben, in dem mir mitgeteilt wurde, dass ich wegen meinem erheblichen Übergewicht und der drohenden Fettsucht in Zukunft den dreifachen Beitrag zu bezahlen hätte. Wäre ich allerdings bereit, auf einer Kur meine Bereitschaft zur Verhaltensänderung zu beweisen, könnte ich es vermeiden.
Nun, ich muss zugeben, ich lachte erst nur darüber, denn wenn ich etwas in meinem Leben niemals war, dann zu dick. Im Gegenteil, als Kind bekam ich Tropfen, weil ich keinen Hunger hatte und auch später war Essen nie ein Problem. Bei 1,77 m Körpergröße bringe ich kaum mehr als 65 Kilo auf die Waage, ich bin, das muss ich zugeben, eher ein halbes Hemd. Optisch jedenfalls. Ich treibe Sport und das nicht zu knapp, sogar den Stadtmarathon lief ich schon mit.
Meine Krankenkasse unterhält ein Büro ganz in der Nähe. Dort stellte ich mich in die Reihe und als ich endlich drankam, klatschte ich der Kuh am Tresen den Wisch vor die Nase und sagte, na, das sei ja wohl ein schlechter Witz, wie sie denn da drauf kämen.
Sie rückte sich die Brille zurecht, krauste die Stirn und fragte: „Wieso?“
„Schauen Sie mich doch an“, knurrte ich. „Seh ich vielleicht aus wie euer Mastschweinchen da auf dem Kuvert?“
Ich tippte mit dem Finger drauf.
„Dafür bin ich nicht kompetent“, sagte sie, „das läuft alles über unsere Zentrale. Sie können natürlich Einspruch erheben und die Kur ablehnen, hier unten müssen Sie es ankreuzen.“
Also legte ich Einspruch ein und hielt die Sache für erledigt, bis ich zwei Monate später die Aufforderung bekam, mich bei einem Vertrauensarzt der Kasse vorzustellen. Wenn ich dazu nicht bereit wäre, würde sich mein Beitrag wie angekündigt verdreifachen, Hochachtungsvoll und so weiter. Ich hab ein wenig herumgeschrieen, zu Hause, in meinem Wohnzimmer, aber es half alles nichts. Obwohl ich extra einen Termin vereinbart hatte, war das Wartezimmer proppenvoll und ich musste stundenlang in Golfsport-Magazinen aus den Siebzigern blättern.
Der Arzt war genervt und sein Händedruck lasch. Er wies mich, ich solle mich entkleiden, dann vergrub er seine Nase in irgendwelchen Unterlagen auf dem Schreibtisch.
„Alles“, sagte er, als ich in Unterhemd und Unterhose auf dem kalten Linoleum stand. Ich tat ihm den Gefallen.
„Na, bin ich zu dick?“ fragte ich ihn triumphierend.
Er ignorierte mich vollständig. Als seine Sprechstundenhilfe hereinplatzte, wurde ich rot.
„Ach, wie süß“, sagte diese dumme Nuss und grinste.
Der Arzt nagte am Bügel seiner Lesebrille und fragte: „Warum haben Sie Widerspruch eingelegt?“
Ich stemmte triumphierend die Hände in die Hüften. „Na, weil ich nicht dick bin.“
„Warum sind Sie nicht dick?“
Ich stutzte. „Was für eine blöde Frage. Ich weiß ja nicht mal, wie Sie drauf kommen?“
„Nun, das sind Stichproben, die ein Computer aus Ihrem Datenmaterial nach dem Zufallsprinzip schöpft.“
„Was denn für Daten?“ Ich fuchtelte in der Luft herum.
„Zum Beispiel aus Ihren Einkäufen. Ich sehe hier, dass sie einen überhöhten Fastfood-Faktor aufweisen, auch erkenne ich eine deutlich überproportionale Menge an Colagetränken und Chiptüten, die Sie öfters an Tankstellen kauften ...“
Ich unterbrach ihn. „Woher wollen Sie wissen, dass ich das war?“
Er lächelte. „Nun, es wurde mit Ihrer ec-Karte bezahlt.“
„Na und?“ Ich stampfte auf den kalten Boden. „Manchmal lade ich meine beiden Neffen ein.“
„Ihre Neffen, so so.“ Er schüttelte den Kopf. „Die durchschnittliche Zucker- und Fettrate Ihrer Einkäufe weist dennoch unzweifelhaft eine äußerst ungesunde Tendenz auf, sowohl Ihr Schokoriegelindex, als auch Ihr Fertiggericht-Faktor ist deutlich im roten Bereich ...“
„Na, und wenn schon“, polterte ich. „Was geht Sie das an?“
Er schwang seine Brille durch die Luft und lächelte überheblich. „Oh, guter Mann, mir ist das natürlich egal, doch reden wir hier über die Inanspruchnahme öffentlicher Leistungen und da müssen wir schon aus Rücksicht auf die anderen Versicherten sehr genau hinsehen.“
Ich schlug mir mit der Hand auf die Brust. „Dann sehen Sie jetzt her. Bin ich zu dick?“
Der Arzt blätterte weiter in seinen Unterlagen.
„Ich finde auch nirgends Beiträge für ein Fitness-Studio oder einen Sportverein.“
„Ich gehe lieber in den Wald zum Laufen.“
„So, so ...und wo sind Belege für Laufschuhe? Diese müssten doch regelmäßig verschleißen.“ Der Arzt lächelte großspurig.
Mir dagegen wurde heiß. „Hab ich mir aus Amerika mitgebracht.“
„Umso besser, dann gibt es eine Kreditkartenabrechnung ...“
Ich wurde rot. „Ein Kollege war in USA ...also, im letzten Jahr.“
„Ein Kollege ...“ Der Arzt winkte ab. „Sehen Sie, das ist das Problem, es wird so viel gelogen, auch sich selbst machen die meisten etwas vor. Darum gibt es jetzt dieses Programm. Aus dem Datenpool objektiv gesammelter Fakten errechnet es Wahrscheinlichkeiten und setzt es selbsttätig um. In Zukunft soll es angepasste Tarife für Risikogruppen geben. Jeder hat es dann in der Hand, seinen persönlichen Beitrag mitzubestimmen. Zum Beispiel durch gesunde Lebensweise.“
Nackt, wie ich war, drehte ich mich vor ihm im Kreis. „Ich bin nicht dick!“, rief ich entschlossen aus und zog meinen flachen Bauch dazu noch ein.
„Sie haben aber eine sehr hohe Wahrscheinlichkeit für extremes Übergewicht, das müssen Sie zugeben.“
„Nun sehen Sie mich endlich an ...“, schrie ich verzweifelt.
Der Arzt aber lehnte sich zurück und betrachtete die Decke.
„Sie glauben also, eine Kur nütze Ihnen nichts?“
„Richtig.“
Der Arzt schüttelte amüsiert den Kopf. „Guter Mann, ich kreuze das hier gerne für Sie an, kein Problem. Allerdings werden Sie danach in Zukunft das Vierfache des bisherigen bezahlen müssen, denn dann gelten Sie nicht nur als übergewichtig, sondern auch noch als unbelehrbar. Das ist fast die Schlimmste aller Möglichkeiten.“
„Ich bin nicht dick“, stammelte ich.
So kam ich also im regnerischen Frühling nach Bad Breynlesheim an der Neck, ein Ort so schön wie eine Sommergrippe. Ein rechteckiges Kurheim neben dem anderen, vollkommen austauschbar, der Architekt muss einen guten Fotokopierer haben. Ich war der einzige in meiner Gruppe, der unter hundert Kilo wog, selbst bei den Frauen. Entsprechend beliebt war ich, kaum einer wollte mit mir reden. Morgens gab es etwas Obst, mittags zerkochtes Gemüse und abends Salat ohne Dressing. Dazwischen mal ein Tässchen biologisch angebauten Kamillentee ohne schädlichen Kristallzucker. Jeder von uns musste sich ein Gewichtsziel setzen und das auf seine persönliche Tafel im Flur schreiben. Mein Ziel waren die 65 Kilo, die ich bereits hatte. Ich dachte belustigt an die Gesichter der anderen, wenn ich nun normale Essensportionen erhalten würde, doch man teilte mir mit, das gäbe es in diesem Haus nicht, schon aus dem hehren gesellschaftlichen Prinzip der Solidarität. Etwaige Ungleichbehandlungen unter den Kurgästen führten nur zur falschen Elitenbildung und zur Frustration der vermeintlich Unterlegenen.
„Ich hab aber Hunger“, protestierte ich.
Alle hier litten irgendwie an Hungergefühlen, entgegnete man nur kühl. Es würde nun auch für mich höchste Zeit, meine Essgewohnheiten und vor allem die Heißhungerattacken auf ein vernünftiges, sozial verträgliches Maß zu reduzieren. Mein auffallend zwanghafter Drang, fortgesetzt darauf hinzuweisen, ich sei nicht dick, deute auf einen schweren inneren Konflikt hin, dessen Ursache weit in meiner Kindheit liegen könne. Um das herauszufinden, wäre ich hier und es liege eine große Chance darin. Bald werde ich bemerken, wie viele Menschen sich hinter solchen Schutzbehauptungen verstecken und ich bräuchte mich bei den anderen ja nur umzusehen, um zu erkennen, wie sichtbar Wunsch und Wirklichkeit auseinander klaffen. Nach diesen Worten nahm mich mein Betreuer in den Arm und sagte, gemeinsam würden wir es schaffen. Ich war gerührt und wollte antworten, doch in diesem Moment begann die Meditationsstunde und es durfte außer „Om“ nicht gesprochen werden.
Aus Wut machte ich mir den Spaß, beim morgendlichen Waldlauf immer in weitem Bogen um die Gruppe herumzurennen, um ihnen – ich muss es zugeben – auf doch etwas kindische Weise meine Überlegenheit zu demonstrieren. Auf dem ersten Stück beschimpften sie mich noch, doch dann ging ihnen selbst dazu die Puste aus. Streck- und Turnübungen übertrieb ich ins Absurde und machte Liegestützen und Klimmzüge für alle anderen mit. Sie hassten mich dafür und ließen mich beim täglichen Gruppengespräch nie zu Wort kommen, da sie der Meinung waren, einer wie ich hätte keine Probleme, von denen er erzählen könnte. Nach mehreren Anläufen, meine Stimme dennoch zu erheben, gab ich es auf und verdöste fortan die Zeit.
Am Anfang der zweiten Woche nahm mich unser Gruppenleiter zur Seite. Er wirkte besorgt und fragte, ob ich nicht wenigstens 10 Kilo Gewichtsabnahme auf meiner Tafel als Ziel angeben könnte? Das sei doch nicht viel, gerade wenn ich an die anderen denken würde, die dreißig oder vierzig Kilo angaben. Ich müsse mich auch mal in seine Lage versetzen, er erhielte schließlich im Zuge der Reformen nur noch ein geringes Grundsalär und wäre auf die Erfolgsprämien angewiesen. Ich zögerte und er hielt mir ein Foto seiner Familie hin, die Kinder hatten ganz hungrige Augen, wie ich fand, aber das war mir egal. Als ich verneinte, begann er mir zu drohen. Ob mir eigentlich klar sei, dass ich mindestens zehn Kilo schaffen müsste, um der Krankenkasse gegenüber wenigstens meinen guten Willen zu beweisen.
„Ich bin nicht dick“, entgegnete ich trotzig.
„Am Ende zählen nur die Fakten“, meinte er. „Wieviel Gewicht wurde abgebaut? War der Versicherte bereit, etwas zu verändern, ja oder nein.“
Also ließ ich mich breitschlagen und fortan standen zehn Kilo auf meiner Tafel als Ziel. Ich begann zum ersten Mal, Achim um seine hundertachtzig Kilo zu beneiden, er war der Schwerste von uns. Zehn Kilo weniger würde man ihm nicht mal ansehen. Überhaupt meine Gruppe. Als ich rasch schwächer wurde, dunkle Augenringe bekam und mein Kreislauf am Morgen verrückt spielte, ich also keinen einzigen Kreis mehr um die anderen herum schaffte, wurde ich endlich in ihre Gemeinschaft aufgenommen. Es tat mir gut, gerade wenn ich spürte, wie diese Anflüge an Verwirrtheit zunahmen. Gemeinsam halluzinierten wir von Familienpizzas und XXL-Menüs, die wir uns in allen fetttriefenden Details ausmalten, Petra kannte so viele tolle Backrezepte und Hermann konnte so schön von Grillfesten mit Nackensteaks und Bier vom Fass erzählen.
Nach drei Wochen brachte ich noch 58 Kilo auf die Waage und meine Gruppe applaudierte mir, damit lag ich gut im Mittelfeld. Bärbel gestand mir eines Nachts im Flur ihre wachsende Zuneigung für mich und lockte mich mit dem Versprechen auf eine eingeschmuggelte Prinzenrolle in ihr Zimmer. Der gemeinsame Biss in diese köstliche Backware war besser als jeder Orgasmus. Leider rationierte sie bald die Kekse und forderte als Gegenleistung anstrengende Liebesspiele, die weitere lebensnotwendige Kalorien aus mir zogen. Doch ich konnte der Lockung dieser Kekse einfach nicht widerstehen ...
Hier muss ich meinen Bericht nun leider abbrechen, die Worte verschwimmen vor meinen Augen und meine Hände zittern stark. Plötzlich kam auch das Gerücht auf, fünfzehn Kilo Gewichtsreduktion wären das Minimum, um in Zukunft überhaupt noch krankenversichert bleiben zu können. Vielleicht hat es auch nur unser Gruppenleiter in die Welt gesetzt, um uns zusätzlich zu motivieren. Bärbel gibt mir keine Kekse mehr. Sie sagt, sie findet mich hässlich und meine Libido zu schwach. Agnetha nimmt sich jetzt meiner manchmal an, sie ist hier der Star. Dreißig Kilo in fünf Wochen, jetzt schafft sie es wieder durch die normale Tür. Sie wollte nachher mal bei mir im Zimmer vorbei schauen, keine Ahnung warum. Sie sagte, sie wolle es endlich mal wieder fühlen. Auf meine Frage, was denn eigentlich, grinste sie nur. Wenn es das ist, was ich glaube, bekomme ich allerdings Angst ...
Manuel schlug das Heft zu, in dem er gelesen hatte und stand etwas ratlos im kleinen Wohnzimmer. Seine Frau kam herein.
„Was ist, worauf wartest du?“ sagte sie.
„Ach nichts, ich hatte nur gerade in diesem Heft deines Bruders geblättert, das im Beutel lag, den das Kurheim zusammen mit seinen Sachen schickte.“
„Und?“ fragte sie genervt. „Was interessantes?“
„Nein, nein.“
„Dann los, wir müssen uns ranhalten, all der Krempel hier muss raus.“
Manuel warf das Heft in den prall gefüllten blauen Müllsack.
„Wieso will eigentlich keiner zugeben, dass mein Bruder Krebs hatte?“ fragte sie, während sie Ordner aus einem Schrank räumte und auf den Boden warf.
„Wie kommst du drauf?“
Sie unterbrach ihre Arbeit, stellte sich vor ihn hin und tippte ihm mit dem Finger gegen die Brust. Ihre Augen blitzten. „Ich bitte dich, denk doch mal nach. Diese Kur, seine plötzliche starke Gewichtsabnahme ...das ist doch nicht normal.“
„Nein, da hast du recht.“
„Also, für mich deutet das eindeutig auf Krebs hin. Wo er doch immer so sportlich war, so fit.“
Sie bückte sich und hob einige von den Sporturkunden auf, die zusammen mit dem Altpapier auf einem Haufen lagen. Manuel nickte nur.
Auf der Heimfahrt bog er zielstrebig in den Drive-in einer großen Fastfood-Kette ein und bestellte großzügig. Seine Frau wollte nichts und musterte ihn tadelnd von der Seite.
„Solltest du nicht ein wenig mehr auf dein Gewicht achten?“ meinte sie kühl. „Du hast mindestens zehn Kilo zuviel.“
„Eben!“, knurrte er. „Ich brauch fünfzehn, mindestens.“
Sie faltete die Hände vor dem Bauch und seufzte. „Bist du verrückt? Warum denn?“
Manuel starrte finster über das Lenkrad. „Wer weiß schon, was morgen für Post kommt.“