Werner Vogel: Der nächste Fight
Der Mann im schwarzen Anzug ist zufrieden mit seiner Wahl, sehr zufrieden sogar. Der Ort dürfte perfekt sein. Der steinige Boden, auf dem er steht, weist nur wenige Unebenheiten auf. Hier kann man kaum stolpern durch irgendeinen unüberlegten Schritt, der ja selbst ihm einmal passieren könnte. Nein, er ist doch nicht größenwahnsinnig, ein unüberlegter Schritt ist denkbar, zweifellos, das räumt er durchaus ein. Tief unter ihm klatschen schwere Wellen gegen bizarre Felszacken. Das wirkt nicht so beängstigend wie eine echte, wilde Brandung, und es sieht nur, wer sich weit nach vorne beugt. Was den Blick aber sofort und unweigerlich fesselt, ist die graue Horizontlinie in majestätischer Ferne, genau auf Augenhöhe. Ohne Fragen offen zu lassen gehen da die Elemente ineinander über, Wasser und Luft, Böse und Gut, Leben und Tod. Der Himmel ist bewölkt, trotzdem ist es völlig windstill und nicht sehr kalt. Der Mann zieht etwas in Stanniol Verpacktes aus seiner Anzugtasche. Er wickelt es aus, es ist ein Stück Brot. Die junge Verkäuferin in der Bäckerei, die ihm das Brot verkauft hat, hat so verloren gewirkt, so leere Blicke gehabt. Er wird sie im Auge behalten, das ist klar.
Sofort segeln die Möwen wie Engelsscharen näher heran, kreischen begehrlich, nun gar nicht mehr engelsgleich, und bleiben erwartungsvoll vor ihm in der Luft stehen wie auf festem Grund. Auch das wirkt ohne Zweifel beruhigend. Er füttert die Tiere sorgfältig und gerecht, beobachtet interessiert ihren Kampf um die Nahrung, ums Überleben. Das Stanniolpapier faltet er anschließend, Kante an Kante, bis es klein genug ist, und steckt es wieder ein.
Dann blickt er sich prüfend um. Er ist ein Profi auf seinem Gebiet. Alles hier scheint bereit für den kommenden Event, für das mit Spannung erwartete Duell. Sein Fahrrad lehnt noch da, an dem verwachsenen Baum, dessen dürre Äste wie ein Kruzifix geformt sind. Sogar das gesenkte Haupt des Erlösers kann man erkennen, wenn man dazu auserwählt ist. Das Gestrüpp dahinter ist so dicht, dass die wenig befahrene Straße nicht mehr zu sehen ist. Jugendliche Pärchen, die ihre abartigen Triebe in den verkommenen Autos ihrer erfolglosen Eltern hier befriedigen wollen, sind nicht zu erwarten. Den steinigen Platz im Schatten des Kreuzes besucht nie jemand, das hat er in der Vorbereitungszeit auf den Kampf genau überprüft. Alles ist also in Ordnung. Die Möwen stehen über dem Abgrund und singen ihren jämmerlichen Bittgesang. Ein Hirschkäfer krabbelt vor den glänzenden Lackschuhen des Mannes. Er bemerkt, dass dem Insekt ein Bein fehlt. Wahrscheinlich hat es dieses bei einer sinnlosen Auseinandersetzung um die Fortpflanzung verloren. Angewidert zertritt er den Käfer und reinigt seine Schuhsohle penibel an einem Grasbüschel. Nichts darf den Gleichklang heute beeinträchtigen.
„Na, gibt es sogar hier, am Arsch der Welt, Hundescheiße?“
Ein peinlicher Fauxpas, hat er doch tatsächlich die Ankunft seines Gegners überhört! Der Junge ist kleiner als erwartet, auch hübscher im Gesicht, aber genau so ungepflegt, wie es zu befürchten gewesen war. Auch sein Zynismus stört gewaltig. „Andreas?“, fragt der Mann leise. Der Bursche nickt. Er ist unsicher, das merkt man schon daran, wie tief er seine Hände in den Hosentaschen vergräbt.
„Wo ist dein Fahrrad?“
Andreas deutet mit dem Kopf die Richtung an. Natürlich hat er es achtlos irgendwo ins Gebüsch geworfen.
„Keine schlechte Idee, mit dem Drahtesel anzurauschen, aber leider hat mich das ein bisschen zu sehr an meine beschissene Kindheit erinnert!“, sagt Andreas.
Es reicht! Er muss jetzt endlich in die Offensive gehen. Er muss den Rhythmus vorgeben, die Schlagzahl erhöhen, dem Gegner die Schneid abkaufen, ihn unter Druck setzen. So siegessicher er sich auch ist, das alles muss er tun, das ist er seinem Sport schuldig.
„Nicht in diesem Ton! Dir ist doch hoffentlich klar, dass das hier etwas Besonderes werden soll? Das ist kein Kinderfest, Jungchen, kein Kinderfest, sondern eine Sache für Männer. Also nicht in dem Ton, verstanden?“, zischt der Mann.
„Schon gut!“, lenkt Andreas kleinlaut ein, „Ich weiß ja, wie sauer dich das beim Chatten gemacht hat, wenn ich bei ’nem Wort oder zwei mal danebengegriffen hab’. Genau deshalb hab’ ich dich übrigens von Anfang an irgendwie cool gefunden.“ Andreas fixiert bereits den Horizont. Das ist gut. Die Taktik hat gewirkt. Ein Fischkutter ist weit draußen unterwegs. Das stört ein wenig den Ablauf der Veranstaltung. Da ist es nötig, ein wenig auf Zeit zu spielen. Aber das kann er ja auch. Er hat die Routine. Er kniet nieder und bindet die Masche seines rechten Schuhs sorgfältig neu.
„Willst du reden?“, fragt nun Andreas. Dem Mann im schwarzen Anzug ist bewusst, dass er sich jetzt konzentrieren muss auf seine Aufgabe. „Warum nicht?“, erwidert er. Das Boot quert die „Arena“, wie er seine Orte gerne nennt, wenn er mit ihnen zufrieden ist, von rechts nach links, wird wohl noch einige Minuten brauchen. Andreas zündet sich eine Zigarette an. Sein Gesicht ist blass.
„Magst du auch eine?“
„Nein, auf gar keinen Fall!“
Der Mann weiß, dass ein Annehmen des Angebots psychologisch wohl günstiger gewesen wäre, aber keine Lüge, nicht einmal die kleinste Notlüge, darf die Harmonie vor dem Kampf verderben. Sein Herausforderer ist zum Glück aber auch so beeindruckt. Selbst pafft er aber natürlich weiter, dieser disziplinlose Schwächling. So wird er keine Chance haben, keine! Und anders auch nicht.
„Du hast eben Prinzipien! Sag’, wie soll ich dich heute und hier eigentlich nennen?“, fragt Andreas.
„Nenne mich doch einfach Großvater, wie wir das immer gehandhabt haben. Es hat sich nichts geändert zwischen uns, überhaupt nichts.“
„Gut, Großvater, ich hätte da noch zwei Fragen, die ich vorher loswerden will. nur zwei.“
Andreas schnippt die eben erst angezündete Zigarette in den Abgrund und bestaunt ihren Fall. Die Glut trudelt in einer Schlangenlinie hinab wie ein winziges abgeschossenes Flugzeug.
„Wau, ist das …“
„Schau nicht nach unten, sieh zum Horizont!“
Die Möwen stürzen der rauchenden Kippe nach, schimpfen dann aber enttäuscht.
„Erste Frage: Wieso, Großvater, macht einer wie du, einer im Anzug, in deinem Alter, einer mit Bildung und Prinzipien und all dem Mist, so was Irres, so was Endgültiges gerade mit einem wie mir?“
„Weil einer wie du eben einen wie mich dazu braucht. Und weil auch ich allein nie tun könnte, was eindeutig zu tun ist.“
Das Schiff ist dabei, hinter der Landzunge links zu verschwinden.
„Das stimmt schon, das hat was.“ Andreas nestelt umständlich eine nächste Zigarette hervor. Der Mann wird ungeduldig. Andreas saugt einige hektische Züge in seine kränkelnden Lungenflügel. Seine Hände zittern.
„Und deine zweite Frage?“
„Großvater, die is’ mir ein bisschen peinlich.“
„Nur heraus damit!“, stößt der Herausforderer hervor.
„Okay, also, Großvater, was is’n mit Gott?“
Der Mann ist erleichtert. Er atmet erlöst auf. Darauf ist er bestens vorbereitet, das hat er oft und oft schon durchgebetet. Sein Handy vibriert lautlos in der Anzugtasche. Er wird später nachsehen. Hauptsache ist, dass der Gegner von der Störung nichts bemerkt hat. Das allein ist momentan wichtig, wo es ins Finale geht.
„Mit Gott? Es gibt da zwei Möglichkeiten, so weit ich das erkenne: Die erste wäre, Gott existiert nicht. Darauf deutet doch einiges hin, oder? Dann müssen wir uns über ihn keine Gedanken machen. Oder aber, zweitens, er existiert doch und beobachtet uns, in diesem Augenblick und immer, wie wir uns durchschlagen, und greift bloß nie, niemals ein. Dann müssen wir uns erst recht nichts überlegen, weil Menschen, die Fehler machen, ihm dann offensichtlich nicht wichtiger sind als beispielsweise uns irgendwelche verkrüppelte Insekten. Du hast mir doch lange geschrieben, wie sie dich gedemütigt haben, alle, jeden Tag. Hat er sie bestraft, hat er dir geholfen? Er ist kein fairer Schiedsrichter, kein Sportsmann, nein, er ist bloß ein geiler Voyeur!“
Der Mann ist gegen Ende fast ein wenig laut geworden. Andreas starrt ihn von der Seite mit offenem Mund an. Deshalb übersieht er glücklicherweise den Sonnenstrahl, der für einige Sekunden eindrucksvoll durch die Wolken bricht, das Meer aufleuchten lässt, etwas andeuten hätte können, was womöglich zu Komplikationen oder weiteren Diskussionen geführt hätte.
„Richtig! Bringen wir es hinter uns!“, schreit Andreas befreit. Er ist so weit, dämpft seine Zigarette am Steinboden aus. Der Mann im schwarzen Anzug ist, trotz all der Jahre in diesem Metier, trotz all seiner Routine, sehr stolz jetzt. Eine Meisterleistung! Er tänzelt feierlich vor an die Kante. Sofort nähern sich wieder wie geplant die Möwen, seine Himmelsboten, täuschen Sicherheit vor im unbekannten Element.
„Gib mir deinen Abschiedsbrief, ich lege ihn mit meinem zusammen da hin. Sie werden weinen über ihre Schuld, wenn sie das lesen.“
Das Kuvert, auf das Andreas mit ungeübter Schrift bloß seinen Vornamen und ein großes K gekritzelt hat, ist mehrfach gefaltet und zerknittert. Der Mann deponiert es, zusammen mit seinem glatten, unter einem Stein. Sein Blick ist nun hoch konzentriert, seine Bewegungen sind ökonomisch.
„Nun reiche mir deine Hand! Von drei weg! Sieh zum Horizont, warte auf die Engelschöre!“
Seine Stimme klingt jetzt fast wie die eines Ansagers im Boxring, nein, vieler Ansager im Gleichklang beim finalen Countdown. Er zählt, zählt den anderen an, geht zusammen mit seinem Kontrahenten bei zwei in die Hocke, gibt bei eins dem Jungen neben ihm den letzten entscheidenden Stoß, während er selbst seinen Körperschwerpunkt gekonnt in die andere Richtung verlegt. Es ist kaum Gegenwehr zu spüren. Fantastisch gemacht, einfach grandios! Was für eine Finte! Ein lupenreiner Fight! Er saugt diesen letzten Blick des ungehobelten Burschen, der endlich, endlich begreift, diesen Blick der Erkenntnis, der Erleuchtung, der eingestandenen Niederlage gegen den ungeschlagenen Großmeister aller Klassen tief in sein Innerstes. Er beobachtet gierig, wie der stürzende Leib des Besiegten lautlos an den aufgescheuchten Möwen vorbeijagt und im Ozean verschwindet, als wäre er nie gewesen. Einige Sekunden nur genießt der Mann die vollständige Harmonie des Sieges, während der er die Engelschöre singen hören kann. Dann muss wieder gehandelt werden. Er hebt vorsichtig, damit es seinen Anzug nicht versaut, das verlotterte Fahrrad des Unterlegenen, Gott habe ihn selig, aus dem Gebüsch, schiebt es in Richtung Klippe, betätigt sogar mehrere Male übermütig die verrostete Klingel und schleudert es mit etwas Anlauf kraftvoll hinab in den Orkus. Es ist genau so verlottert, wie der gewesen ist, der es benützt hat. „Einmal waschen, bitte …“, keucht er dazu im Scherz. Seine Laune ist prächtig. Er muss über seinen Witz lachen. Mein Gott, wenn nur schon Zuschauer erlaubt wären bei dieser Sportart, er wäre in diesem Moment der Liebling der Massen, da ist er sich absolut sicher.
Die beiden Abschiedsbriefe hebt er auf. Den von Andreas wird er zu Hause lesen und anschließend seiner Trophäensammlung einverleiben. Seinen eigenen, den er bereits vor vielen Jahren verfasst hat, wird er irgendwann einmal verwenden, das steht felsenfest. Diesmal war es noch nicht so weit. Dann aber, ja dann werden tatsächlich viele weinen. Das Publikum wird dann in die große Arena gebeten, und es wird toben. Keine Lüge darf das Geschehen stören, ist es einmal so weit. Es muss alles sportlich fair zugehen bis dahin.
Er zieht sein Handy aus der Tasche und kontrolliert das Display. Der Anruf ist von einer ihm unbekannten Nummer gekommen. Es wird Gegnerin Erika gewesen sein, die er schon seit einigen Monaten trainiert. Ihr hat er erst neulich seine Nummer geschickt. Er wird sie nicht zurückrufen, noch nicht, auch hier ist die Zeit nicht reif. Ihr wird er erst in ein paar Tagen schreiben. Die Wolken sind dunkler geworden, bedrohlicher. Wind kommt auf. Es könnte bald regnen.
Der Mann streckt die Hosenbeine seines schwarzen Anzuges mit goldenen Klemmen hoch, verneigt sich vor dem Kruzifix, das jetzt seiner Ansicht nach deutlicher zu erkennen ist, und besteigt das tadellos in Stand gehaltene Fahrrad. Er kann noch den Zug um 17 Uhr 35 erreichen. Gelingt ihm das, so ist auch der Anschlussbus um 19 Uhr 43 in Kranewitten machbar. Das Fahrrad wird er wohl am Bahnhof zurücklassen, für spätere Gelegenheiten. Die Arena hier muss er sich ohnehin vormerken, sie war schlichtweg ideal, nicht zuletzt wegen der ausgezeichneten Verkehrsanbindung. Daheim wird er zuerst ein heißes Bad nehmen. Ein wenig Zeit zum Feiern gönnt sich doch jeder Athlet! Aber dann wartet eine Menge Arbeit auf ihn. Der Anzug muss Quadratmillimeter für Quadratmillimeter gesäubert werden. Anschließend sind die Schuhe zu vernichten. Es darf keine Spuren geben bis zum Einlasstag.
Dann muss er viel lesen und nachdenken. Über Gott und die Welt. Er darf nicht aus dem Gleichgewicht kommen, muss reaktionsschnell und geistesgegenwärtig bleiben wie die Jungen. Je älter er wird, desto genauer muss er sich auf seinen nächsten Fight vorbereiten. Die Konkurrenz schläft nicht. Da macht er sich überhaupt keine Illusionen.
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