Projektionsflächen fürs Ich
Wahre Partytiger brauchen zum Feiern extravagante Orte
Manchmal sieht Fleisch zum Reinbeißen lecker aus. Das ist das Geheimnis der Beleuchtung, wie wir sie von der Wursttheke im Supermarkt kennen. Das Licht auf dieser Party ist das Gegenteil. Bläulich schimmernde Funzeln verwandeln sogar bezaubernde Königinnen der Nacht in käsige Moorleichen. Bei so einem Licht lacht man normalerweise verkniffen dünnlippig, damit der Zahnschmelz nicht grünlich leuchtet. Hier aber reißen alle die Münder auf, um sich gegenseitig zuzuraunen: "Geile Location, ey!" Münchens Partytiger haben mal wieder eine Einladung bekommen. Die Party heißt "Unter unserer Stadt" und steigt in der Fußgängerunterführung vor dem "Schuhmann`s" in der Maximilianstraße. Bis in den letzten Winkel ist alles gut gelaunt. Es gibt nicht einmal die typische Looser-Ecke vor dem Frauenklo, weil die Geschlechter gemeinsam vor Dixie-Chemotoiletten anstehen, heftig flirtend und ungeduldig auf der Stelle tretend vor Freude über den revolutionären Partyort. Denn dem erfahrenen Feier-Freak fehlt in gewöhnlichen Gebäuden inzwischen der Kick. Erst ein extravaganter Ort, im Cool-Jargon "Location" genannt, bringt die Hedonisten in Stimmung. Pflücke die Nacht, so lautet die Lebensweisheit. Nirgendwo wird das sinnfälliger als an diesem flüchtigen Ort. Da, wo jetzt rund tausend ausgelassene Leute feiern, ist morgen wieder eine blau-gelb-geflieste Unterführung – so hässlich wie das Wort. Nur für diese Nacht hat der Veranstalter ein paar Diskokugeln aufgehängt, eine Bar gezimmert, einen DJ engagiert. Mehr braucht es nicht zum Glück. Es tobt das Leben. Wie es sich für eine richtige Party gehört, geht um ein Uhr das Bier aus. Der Veranstalter fährt mit dem Taxi zur Tankstelle und holt neues. Ohne Flaschen zum Festhalten sind sogar die Jungs von der Hüftlähmung geheilt. Alle tanzen. Das einzige winzige Manko, das man kritisieren könnte: Die Schönste der Nacht, die bezaubernde Moorprinzessin, muss einen Plastikbecher an ihre wundervollen Lippen führen. Da wünscht man sich eine Champagnerflöte. Überall im Raum hat Holleschek Leinwände aufgespannt, auf denen Bilder von U-Bahnhöfen projiziert werden. Aber wer will so was im Tanzgetümmel sehen? Verträumte Gäste entdecken die Leinwände als Projektionsfläche für das eigene Ich. Sie tanzen stundenlang konzentriert im Schein des Diaprojektors, als wäre er die Sonne der Nacht. Ihre Schatten berühren sich, lange bevor sich die Pärchen gefunden haben. Damit wäre bewiesen: Licht ist schneller als Liebe.
(Süddeutsche Zeitung 22.04.99 / Oliver Kuhn und Jochen Temsch)