Home       Locations       Events       Unternehmen       Lesungen       Kontakt       Impressum       English      

Martin Beyer: Als ich ge-next wurde 

Ich bin inmitten der Dinge. Bin im Zentrum von nichts. Ich bin frei. Next. Ich sehe ein leeres Zimmer, ein Fernseher flimmert. Next. Ein Mann masturbiert. Next. Ich erkenne eine palmenartige Pflanze. Ich führe mit einer Stimme aus dem Off ein Gespräch über die Pflege von palmenartigen Pflanzen. Next. Ein Mann masturbiert. Next. Support the troops, show me your boobs. Next. Jemand spielt Schlagzeug auf einem Kissen. Es ist kein Laut zu hören. Next. Next. Ein Junge hat sich mit einem PLO-Schal vermummt. Er fühlt sich frei. Next. Jemand masturbiert. Next. Gonzo von den Muppets huscht vorbei. Er sagt etwas über Miss Piggy und fasst sich an die gebogene Nase. Next. Ich führe mit einer jungen Frau ein kurzes Gespräch über das Sein und das Nicht-Sein und alle meine Seine überhaupt. Next. Ein Mann masturbiert. Next. Ein Mann steckt in Frauenkleidern und sieht dabei unglücklich aus. Ich bin frei. Next.

 

*

 

Wenn es doch nur Bosheit gewesen wäre, Vernichtungswille, kühle Berechnung – aber wahrscheinlich war es das nicht, wahrscheinlich dachte der Chefredakteur wirklich, ich wäre geeignet für diese Aufgabe.

 

*

 

Ich schaue in ein hässliches Gesicht. Next. Ich schaue in ein dummes Gesicht. Next. Ich werde ausgelacht. Next. Jemand zeigt mir den Mittelfinger. Ich bin frei. Next.

 

*

 

Der Chefredakteur gab mir einen Zettel und sagte: Mach was draus, ist der Internet-Hype der Stunde, und wir haben’s wieder nicht gemerkt. Halb München macht da mit. Auf dem Zettel stand: Chatpoker ist eine Plattform im Internet, die per Zufallsgenerator Video-Chat-Partner zusammenführt. Durch Drücken der Taste F9 kann man sich gegen seinen Partner entscheiden, wenn man nicht selbst schon längst ge-nexted wurde.

 

*

 

Es sind fast nur Männer hier. Next. Ein halb nackter Mann. Next. Ein nackter Mann. Next. Ein dicker Mann. Next. Ein muskulöser Mann. Next. Genitalien in allen Größen, Formen und Erregungsgraden. Next. Next. Ein Menschenpark, in dem auch Perverse willkommen sind. Das Drama der Selbstinszenierung ohne Einteilung in Akten, ohne Pause – und meistens ohne Applaus. Wir alle sind frei. Next.

 

*

 

Ich hatte Chatpoker für ein Weilchen im Büro ausprobiert, doch das war schwierig. Ich war verkrampft, abgelenkt, wollte nicht, dass Kollegen dumme Fragen stellen und dumme Sprüche machen. Also beschloss ich, das Ganze abends zuhause zu erledigen, mit einem Feierabendbier neben dem Laptop. Tanja war in London, ich würde mich ohnehin langweilen. Ich gab mir eine Stunde für dieses Programm, dann würde ich den Artikel runterschreiben. Insgesamt 90 Minuten, Spielfilmlänge, das war ohnehin das Maximum für eine solche Sache. Ich hatte nach den ersten Minuten Chatpoker im Büro und einer kurzen Konkurrenzanalyse schon eine Ahnung, wohin ich die Sache lenken würde. Ein Kollege vom Spiegel war in seinem Artikel richtig ins Schwärmen gekommen: Das Internet, wie man es von seinen Anfängen kennt. Rau, wild, ungeschützt, die große Freiheit. Ein Panoptikum der modernen Menschlichkeit, eine Sozialhölle, Sex, Schock, Langweile. In die Begeisterungskerbe konnte ich also nicht mehr schlagen, ich musste das Gegenteil behaupten: Chatpoker, würde ich schreiben, ist eine Heimstatt für Perverse; es ist unverantwortlich, dass Minderjährige einen freien Zugang haben, denn was bekommen sie zu sehen? Keine netten Menschen, die auf eine gepflegte Konversation mit Unbekannten aus sind, sondern böse Menschen, die nur ihre eigene Lust befriedigen wollen, die es geil finden, wenn ihnen jemand dabei zusieht, wie sie sich befriedigen. Wenn ein Exhibitionist vor der Schule seinen Mantel aufklappt, ist die Aufregung groß, aber wenn das im Internet passiert, ist es völlig egal? Biblischer Onan, was hast du nur angerichtet? (Gute Überschrift) Vielleicht würde ich noch einen Jugendschützer anrufen und meine wunderbare Empörung durch einen O-Ton beglaubigen lassen. Die Sache war so gut wie erledigt.

 

*

 

Ich unterhalte mich mit einer finnischen Studentin, die vielleicht eine Russin ist, oder eine Ungarin. Sie nennt sich Mika, vielleicht heißt sie in Wirklichkeit Olga oder Svetlana. Sie hat eine angenehme Stimme, aber ihr Mikrofon ist schlecht, ich kann sie kaum verstehen. Sie möchte wirklich nur reden, das ist beinahe enttäuschend, und trotzdem bin ich froh, dass nach zwei Stunden nexten und ge-nexted werden endlich einmal eine längere Verbindung zustande gekommen ist. Sie möchte für ein Jahr ins Ausland, behauptet sie. Ich sage, um mich interessant zu machen, ich würde mich gerne einmal für längere Zeit zurückziehen und einen Roman schreiben. Really? Du schreibst? Ihr Gesicht verändert sich, jetzt hab ich sie. Worum soll es in dem Roman gehen?, fragt Mika. Mir fällt nichts ein, deshalb versuche ich es weiter auf die enigmatische Tour. Ich habe da schon eine Idee, behaupte ich, etwas ganz Ungewöhnliches, kein Mainstream jedenfalls, aber darüber möchte ich erst sprechen, wenn das Buch fertig ist. Mika hat also einen glücklich unglücklichen, dabei auch noch verhinderten Künstler vor sich, aber offenbar hatte sie sich etwas anderes vorgestellt. Ihre Gesichtszüge verändern sich erneut, sie lächelt etwas zu süß, dann sagt sie, sie müsse jetzt weiter. Weiter, weiter, aber wohin?, denke ich, da hat sie mich schon weggedrückt. Next. Ein kurzer Blick auf die Uhr, es ist drei Uhr morgens. Aus dem Spielfilm ist eine Wagner-Inszenierung geworden. Ich sollte aufhören, ich habe mehr als genug für meinen Artikel. Aber ich drücke noch einmal die Taste F9. Ich werde noch einmal weggedrückt. Menschenfetzen ziehen vorbei. Die große Freiheit ist ein Knast. Next. Next. Und noch einmal: Next.

 

*

 

Ich hatte es mir sozusagen bequem gemacht vor meinem Rechner, hatte kurz mit Tanja telefoniert und gesagt, ich müsse noch arbeiten, eine dringende Geschichte, ein ganz großer Internet-Hype. Tanja sagte, es sei ja toll, dass der Chefredakteur dabei an mich gedacht habe, wenn es so wichtig ist. Da fühlte ich mich auf eine Weise ertappt, die mich eigentlich ermahnen sollte, die Menschen nicht zu unterschätzen, und schon gar nicht Tanja. Ich machte mir ein Bier auf und startete das Programm. Absurde Gedanken kamen auf, wahrscheinlich die Gedanken eines blutigen Anfängers: Sollte ich meine Brille besser abnehmen? Welcher Hintergrund sollte zu sehen sein? Sicher keine Bücher, das würde den Großteil der User womöglich verschrecken. In der ersten Stunde traute ich mich noch nicht, das Mikrofon einzuschalten. Wenn es zu einem Chat kam, erledigte ich das mühsam über die Texteingabe. Ich musste mich erst daran gewöhnen, dass ich gesehen werde, dass mich jeder sehen und in einem Bruchteil einer Sekunde darüber entscheiden kann, ob ich seine Aufmerksamkeit verdiene oder nicht. Das schmeckt bitter, am Anfang, das beleidigt den Stolz. Aber ich lernte schnell, dass es ein Geben und Nehmen ist, verzog selbst demonstrativ mein Gesicht, wenn mir etwas oder jemand missfiel, und drückte F9.

 

*

 

Hi, ich bin Jane, quakt es aus dem Lautsprecher. Ich sehe nur ein Bein, eigentlich nur einen lockenden Fuß. Ein nackter Fuß. Kurz überlege ich, weiterzuklicken, denn das ist sicher nur ein Fake. Die Kamera zeigt jetzt mehr von diesem Bein, fährt höher, stoppt an einer unglücklichen Stelle. Wie heißt du, fragt eine Stimme, Janes Stimme. Ich erfinde einen Namen, brauche dafür viel zu lange. Jetzt will ich etwas von dir sehen, sagt die Stimme. Sonst geht es nicht weiter. Für eine Reaktion benötige ich Äonen, doch ich werde noch nicht weggeklickt. Ich bilde mir ein, so etwas wie ein Existenzzittern zu verspüren, aber wahrscheinlich bin ich nur erregt. Im kleinen Kontrollfenster sehe ich mein blödes Gesicht, der journalistische oder doch nur männliche Blick, in Erwartung, nacktes Fleisch zu sehen, überfordert mit der Anforderung, selbst etwas bieten zu müssen. Wenn mich Tanja jetzt sehen würde … aber Tanja wird mich nicht so sehen. Ich bin kurz davor, F9 zu drücken, sage dann aber ein leises Wait und klappe den Deckel des Laptop mit der integrierten Kamera etwas nach unten. Mein Gesicht verschwindet, es ist nur noch mein Oberkörper im Bild, was mir sehr gelegen kommt. Ich will mehr sehen, sagt Jane, ich nehme einen Schluck Bier, fühle mich wie auf einer Türschwelle, weiß nicht, ob vor oder zurück. Mehr, sagt die Stimme, oder ich bin weg. Chatpoker, werde ich morgen schreiben, bedeutet, sich einer permanente Handlungszumutung auszusetzen, es zählt nur eine Währung: Aufmerksamkeit. Ich ziehe mein T-Shirt aus. Ich werde schreiben: Geleitet von einer unzulänglich informierten Sympathie entblöden sich die Menschen und begehen virtuelle Tölpelhaftigkeiten, die im schlimmsten Falle Minderjährige gefährden. Janes Kamera fährt höher, ich sehe einen weißen Slip, ein Finger lupft ihn ein Stück an, aber ich sehe noch nicht alles. Jetzt deine Hose, sagt sie. Next.

 

*

 

Es wäre jetzt besser, aufzuhören, aber in meiner journalistischen oder sonstwie gearteten Erregung kann ich das nicht. Ich setze meine Tour auf den exzentrischen Bahnen dieses Chatprogramms fort, die Kamera zeigt wieder mein Gesicht, mein nackter Oberkörper ist diesmal angedeutet, ich bin, wenn man so will, mutiger geworden, auch das Mikrofon stelle ich etwas lauter ein. Ich verordne mir eine neue Biografie, damit es beim nächsten Mal nicht so lange dauert, bis mir etwas einfällt. Ich bin Maurice, der Maler, auf dem Sprung zum großen Erfolg. Solche Leute finden doch alle faszinierend, aber es geht mir längst nicht mehr um Talk, Talk, Talk, ich will dieses System ausreizen, ich will mich selbst reizen, das Unerwartete tun, von dem niemand etwas wissen darf. Die große Freiheit spüren. Ein Künstler muss das können, sage ich mir, und jetzt bin ich ein Künstler, Maurice der Maler, der neue Pollock. Meine Leidenschaft für dieses Programm bekommt in diesem Augenblick womöglich etwas Wahnhaftes, aber keine Sorge, Michelle (so heißt meine Freundin), ab morgen ist es wieder sicher, mich zu lieben. Ich nehme noch einen Schluck Wein und sage: Next.

 

*

 

Ich sehe im Chatfenster ein goldbemaltes, ausdrucksloses Gesicht, eine schillernde Perücke, wie man sie wahrscheinlich am Hofe Ludwig XIV getragen hat. Ein virtuelles Pantomimengesicht. Wenn ich in der Fußgängerzone solchen gold- oder silberlackierten Gestalten begegne, die auf einem Podest stehen und, zumeist erstarrt, die Leute an sich vorbeiziehen lassen, versuche ich schnell weiterzugehen. Denn meistens bewegen sie sich ausgerechnet bei mir, schneiden eine Grimasse in der Hoffnung, auch ich werde mein Gesicht verziehen. Und dann imitieren sie mich, meinen eigenen Ausdruck, und ich fühle mich schmerzlich, allzu schmerzlich ertappt. So geht es mir in diesem Augenblick, denn dieser virtuelle Pantomime hat sich darauf spezialisiert, die Gesichter seiner Chatpartner zu imitieren. Ich sehe mich nicht nur im Kontrollfenster, ich sehe mein Abbild auch im großen Fenster meines Gegenübers: ein lüsternes, trollhaftes Gesicht. Für solche Spielereien ist es immer zu spät oder zu früh, denke ich, ich nexte den Pantomimen-Mann, dann werde ich von einer jungen Frau ge-nexted, sie hat mir nicht einmal eine Sekunde geschenkt. Ich werde morgen schreiben: Chatpoker bedeutet die Pervertierung unserer Zeugnisgesellschaft. Binnen Sekunden wird ein Urteil gefällt. Aussehen: ungenügend. Sechs, setzen. Die radikale Reduktion des Menschen, liebe Leser, aber wir sind ja keine Bratensoße. Ein Mann masturbiert. Next. Ein Teenager möchte darauf aufmerksam machen, dass er auch schon Heavy Metal hört. Next. Da ist wieder der Pantomime. Next. Da ist womöglich: die Freiheit. Der Knast. Nichts. Next.

 

*

 

Ich schlief nur kurz, vielleicht zwei Stunden. Es würde natürlich äußerst knapp werden, den Artikel noch rechtzeitig abzuliefern. Ein Jugendschützer musste noch recherchiert und interviewt werden, um, wie ich es genannt hatte, meine wunderbare Empörung über Chatpoker beglaubigen zu lassen. Es würde also schwer werden, den Chefredakteur zufriedenzustellen, um danach den Erfolg mit der mittlerweile aus London zurückgekehrten Tanja zu feiern. Natürlich. Doch ich verlor nach dem Aufstehen ohnehin den Gefallen an dieser Geschichte mit dem Journalisten. Ich musste mir eingestehen, dass ich die Sache falsch angegangen war. Es wäre irgendwie trivial, aber im Grunde doch dramatischer gewesen, wenn Tanja den Journalisten bei seiner neuen Leidenschaft ertappt, ihn also nackt vor dem Rechner vorgefunden hätte und eine handfeste Auseinandersetzung in Gang gekommen wäre. Oder, daran hätte man auch denken können, der Journalist wäre von den Behörden erwischt worden während seiner sogenannten Recherche für den Artikel über einen neuen Internet-Hype. Er wäre verhaftet worden, und die wunderbare Empörung seines Artikels hätte sich im Nachhinein als bloße Verhöhnung der Leserschaft herausgestellt. Das hätte den hiesigen Journalismus womöglich in eine bemerkenswerte Krise gestürzt.

Ich hatte als Künstler und als Journalist keinen richtigen Zugang zu der Tiefe und Bedeutsamkeit dieses Chatprogramms gefunden, also verordnete ich mir eine neue Biografie. Jetzt war ich Karl, der Philosoph. Er war der Einzige, der über eine präzise Begrifflichkeit verfügte, um Chatpoker angemessen zu charakterisieren. Ich durchwanderte über zwei Stunden das Internet auf der Suche nach geeigneten Zitaten, bis ich schließlich fündig wurde. Den Essay über Chatpoker würde ich mit folgenden Sätzen beenden, und wer würde schon danach fragen, von wem sie entliehen waren. Das Denken, das Wissen, das Gesprochene, selbst das Verschwiegene, alles ist aufgehoben in einer Wolke. Aber Karl mag diese Wolke nicht, Karl mag auch Chatpoker nicht. Karl der Philosoph würde also schreiben:

 

*

 

Jeder, angetrieben von einer schmerzlichen Sehnsucht, verlangt in Chatpoker vom anderen weiterhin das, was er nicht mehr sein kann, setzt wie ein irregeführter Geist die Suche nach dem Gewicht des Seins fort, das er in sich selbst nicht mehr findet. Nach Beständigkeit, nach Dauerhaftigkeit, nach Tiefe. Jeder scheitert natürlich, und die Einsamkeit ist schrecklich.

 

*

 

Ich glaube, die Sache mit Karl war doch keine so gute Idee. Ich brauche eine neue Biographie. Ich will frei sein. Next. Radikal frei sein. Jedermann sein. Niemand sein. Frei sein. Next.