Sülke Schulz: Geheime Linien
Renate hatte Recht. Es war gut, dem Mann zu sagen, dass er die Frau nicht ins Wasser werfen soll. Ich wusste, dass sie Angst hat.
Vor mir sitzt jetzt eine andere Frau, die mich ein wenig an diese erinnert, und sie will meinen behinderten Ausweis nicht akzeptieren. Er ist abgelaufen, weil ich den Brief an das Versorgungsamt einen Tag zu spät abgeschickt hatte. Meine Behinderung muss darum ganz neu festgestellt werden, als wäre sie nicht ein lebenslanges Gefängnis.
Neue Ärzte, neue Fotos. Letztes Mal haben sie 14 Monate gebraucht. Wie lange werden sie dieses Mal brauchen? Ich habe nur diesen Ausweis, um das Sozialticket zu beantragen, damit ich an dem Englischkurs teilnehmen kann und vielleicht doch noch einen Job finde.
Mein richtiger Ausweis ist weg, hat sich einfach in Luft aufgelöst und wie das so ist:
Dinge, die nicht da liegen, wo sie hin gehören, könnten sich an jedem beliebigen Raumzeitpunkt im Universum befinden.
Einen neuen will ich nicht. Mein Staat will, dass ich einen kaufe für 30 oder mehr Euro und er wird dennoch sein Eigentum bleiben. Und er wird dennoch meine Fingerabdrücke enthalten, als sei ich ein Verbrecher. Ich habe das Verbrechen noch nicht begangen und vielleicht werde ich es nie begehen, aber die Unschuldsvermutung gilt nicht mehr und der Staat will dass ich etwas kaufe, das dann sein Eigentum ist.
Ich hatte schon genug mit unlogischen Staaten zu tun, denn ich bin in einem Land geboren worden, in dem man mir weismachen wollte, dass man mich einsperren muss, um mich vor dem Klassenfeind zu schützen. Man ließ den Klassenfeind aber hinein und mich ließ man nicht hinaus. Ich habe damals nicht für meine Freiheit gekämpft, nur gegen die Unlogik. Ich war noch zu jung, als mir die Freiheit in den Schoß fiel und bis heute habe ich mich nicht an sie gewöhnt. Die Freiheit macht mir nur Probleme und ihr einziger Vorteil ist:
Ich entscheide. Was mit mir geschieht, was ich sage, was ich denke, wohin ich gehe und was ich anderen von mir zeige.
Die geheimen Linien meiner Finger gehören mir, sie sind einzigartig. Ich will nicht, dass andere sie kennen und studieren, meine Lebenslinien. Ich werde meine Finger nicht hergeben, meine Finger sind meine Freiheit.
Sie verbinden mich mit den Menschen. Sie tippen mühsam meine Gedanken in die virtuelle Welt hinaus und manch einer hört mich und manch anderer will mir diese Freiheit auch noch nehmen. Will mich stumm machen, kontrollieren, einsperren, verkaufen.
Renate hatte Recht und sie sah so schön aus mit ihren blauen Augen und der weißen Bluse. Als ich versuchte, ihr beizubringen, über Selbstmörderwitze zu lachen.
In dem Brief stand, dass mein Strom am 3.8. abgestellt wird. Ich schob den Brief in den Beutel mit den Pfandflaschen, weil ich Angst hatte, dass er ins Wasser fällt, wenn ich mich nach vorn beuge, um in den Fluss zu starren.
Und dann habe ich ihn vergessen, beim Flaschen zurückgeben. Ich wollte noch sagen: „Bitte den Beutel nicht weg werfen!“, aber dann sagte ich, etwas ärgerlich: „Acht mal acht ist vierundsechzig!“, denn der Mann am Kiosk hatte nur vierzig Cent in die Schale gelegt.
Er dachte, wir sind betrunken und er kann uns betrügen.
Wenn ich nicht betrunken gewesen wäre, hätte ich an den Brief gedacht, aber eigentlich ist er nicht wichtig, denn ich habe mir das Datum gemerkt: Am 3.8. wird der Strom abgestellt.
Das sagte ich Renate, als wir da saßen, Bier tranken, ins Wasser starrten.
Da waren diese Mückenlarven. Renate wusste nicht so genau über Mücken Bescheid und ich lachte sie aus, Frau Biologielehrerin.
Wir tranken Bier und noch mehr Bier, denn es war so einer dieser Tage, an denen man nicht weiß, wie es weitergehen soll oder an denen man sich wundert, warum es bisher immer weiter ging. Wir sprachen über Gott und warum er manchmal Menschen verlässt.
Wir sprachen auch über Vergebung und Wut und über den Schmerz der Frauen, als würden wir über’s Brot schneiden reden. Und dann war da dieser Mann, der seine Freundin einfach in den Fluss werfen wollte. Sie hatte Angst, ich wusste es.
Dabei habe ich damals in dem Test an der Charité alles falsch gemacht und konnte Angst, Überraschung und Erstaunen nicht auseinander halten. Dafür bekam ich 60 Euro.
Bisher hat mich der behinderte Ausweis immer gerettet.
Renate hatte Recht, man braucht einen richtigen Personalausweis. Da sitzt diese Frau und sie sagt, dass ich die Karte nicht bekomme, mit der ich das Sozialticket kaufen kann.
Sie will, dass ich weiter gehe und sie will, dass der nächste dran kommt. Aber ich bleibe hier stehen. Denn hier endet mein Weg.
Was will sie schon tun? Die Polizei rufen?
Ich habe keine Angst vor der Polizei, ich rufe selbst da an und sage zum Beispiel:
„Guten Tag. Mein Name ist Mühlmann und ich bin hier im Treptower Park. Gerade eben habe ich beobachtet, wie ein Mann eine Frau ins Wasser werfen wollte und als die Frau sagte, dass sie die Situation nicht mehr lustig findet und der Mann sie daraufhin hoch hob und Anstalten machte, sie zu trotz heftiger Gegenwehr zu werfen, ging ich dazwischen. Jetzt hat der Mann eine Kratzwunde, behauptet, sie sei von mir und will meine Daten. Muss ich sie ihm geben?“
„Gehen Sie bitte weiter!“, sagt die Frau hinter dem Schalter, ich werde aus meiner Erinnerung gerissen und schaue sie an mit diesem Blick, der angeblich so leer ist, weil sie nicht in mir lesen können, wie ich in ihnen. In Wahrheit ist alles ganz anders.
Ich kann hier nicht weg gehen, ich brauche diese Karte und einen Ausweis brauche ich nicht. Da ist mein abgelaufener Schwerbehindertenausweis, den nächsten gibt es in 14 Monaten, aber die Fahrkarte brauche ich morgen. Ich schaue ihr fest in die Augen, weil ich weiß, dass mein Blick die Leute irritiert. Man hat es mir oft genug gesagt.
„Lassen Sie sich doch einen vorläufigen Personalausweis geben!“
Ich schüttele den Kopf. Ich habe nur ein normales Passbild und kein biometrisches. Ich habe kein Geld für neue Bilder. Auch die zehn Euro Gebühren habe ich nicht.
Renate hatte Recht, ich brauche Hilfe. Aber es ist niemand zuständig für mich. Letztes Jahr war ich beim Sozialpsychiatrischen Dienst mit einem Stapel Papieren. Sie haben mir nicht geholfen, sondern mir einen weiteren, ebenso hohen Stapel in die Hand gedrückt, den ich auch noch erledigen sollte. Schuldnerberatung, Anwälte. Sie haben nicht verstanden, was mein Problem ist. Ich kann nicht einfach irgendwo anrufen oder irgendwo hin gehen. Ich muss mich einige Tage darauf vorbereiten, wenn ich etwas tue, was ich normalerweise nicht tue. So wie heute hier her kommen zum Beispiel. Oder so wie einen Brief an einem Dienstag einwerfen. Es ist die Panik vor der Panik. Wenn die Dinge anders laufen, als sie sollen. Wenn etwas meine Ordnung stört oder wenn keine Ordnung existiert, kein Sinn, keine Logik.
Als ich Renate im Park getroffen habe, fiel mir das nicht schwer. Ich kenne Renate und ich kenne den Park. Ich habe natürlich vorher einen Schnaps getrunken, damit ich nicht so empfindlich bin. Obwohl ich dann manchmal solche Sachen mache, wie Frauen retten, weil sie mir ängstlich scheinen, wobei ich das gar nicht wissen kann.
Vielleicht weiß ich es, wenn ich betrunken bin. Vielleicht reicht es, diesen grausamen Computer in seiner Funktionsweise ein wenig zu stören, damit ich mich menschlich verhalte. Oder ich bilde mir das nur ein. Ich bin eine Gefangene meines Kopfes. Ich bin eine Gefangene meiner Wohnung. Ich werde niemals wirklich frei sein. Darum will ich nicht in einem Land leben, das mir auch noch eine Hundeleine anlegen will. Mir reichen mein Kopf und meine Wohnung und niemand hat Zugang, außer manchmal Renate.
Renate sagt, dass ich gut reden kann. Da hat sie Recht. Ich sage:
„Ich kann keinen vorläufigen Personalausweis beantragen, denn ich habe kein Geld.“
„Dann leihen Sie sich welches!“
„Leihen Sie mir zwanzig Euro?“, frage ich. „Ich gebe es Ihnen auch sicher zurück. Meine Daten haben Sie ja.“
Sie schaut mich an, denn sie will herausfinden, ob ich einen Witz mache oder es ernst meine. Sie wird es nicht herausfinden, indem sie mich anschaut.
„Sie halten hier den ganzen Verkehr auf!“
Ich nicke langsam, denn das ist mir selbst auch schon aufgefallen. Ich hole tief Luft und sage: „Ich muss morgen in den Wedding zu einem Kurs, damit ich einen Job bekomme und Geld verdiene. Denn mein Hartz-IV reicht mir nicht, weil ich so hohe Schulden habe, wegen meinem Studium und wegen Darlehen, die fälschlicherweise als Einnahmen angerechnet wurden, wogegen ich nicht vorgehen kann, weil es mich überfordern würde, mir auch noch einen Anwalt zu suchen und die Prozesskostenbeihilfe zu beantragen, genauso wie es mich jetzt überfordern würde, einen vorläufigen Personalausweis zu beantragen. Aus diesem Grund bin ich schwerbehindert, auch wenn der Ausweis abgelaufen ist, aber ich konnte nicht ahnen, dass wegen einem Tag Verspätung alles neu bearbeitet werden muss, obwohl sich nichts geändert hat und meine Behinderung nicht heilbar ist. Sie können mir jetzt also diese Karte ausstellen oder nicht. Wenn Sie es nicht tun, kann ich morgen nicht in den Wedding fahren, dann werden weitere 30% von meinem Hartz-IV gekürzt, was dazu führen wird, dass ich außer der Miete nichts mehr bezahlen kann. Keinen Strom, kein Essen, kein Telefon. Und dann werde ich mich vor die S-Bahn werfen, und zwar vor die Nummer sieben, die jetzt auf Gleis fünf einfährt, obwohl sie jahrzehntelang auf Gleis sechs fuhr. Entscheiden Sie sich jetzt bitte, ob Sie sich an die Vorschriften halten, ob Sie die Polizei rufen oder ob Sie mir einfach das Leben nicht noch schwerer machen wollen, als es ohnehin schon ist.“
Renates Pupillen waren ganz klein, denn sie saß so, dass sie die Sonne im Gesicht hatte und dadurch wirkten ihre Augen so unfassbar blau. Sie war so hübsch mit ihrer weißen Bluse und ihre Jeans war auch blau. Sie zeigte mir die Schwalben und die Mauersegler und erklärte mir den Unterschied, Frau Biologielehrerin.
Ich legte mich auf den Rücken und betrachtete die Vögel.
Danach sprachen wir über den Schmerz der Frauen wie über’s Brot schneiden. Und dann hörte ich jemanden kreischen und ich sah einen Mann, der eine Frau zum Wasser zog. Ich war nicht sicher, ob er nur Spaß machte, aber die Frau lachte nicht. Ich hörte sie sagen: „Ich finde das nicht mehr witzig!“ und sah wie sie schon vorsichtshalber ihre Handtasche am Ufer ablegte. Da packte er sie und hob sie hoch. Er trug sie zum Wasser, ich erhob mich und ging auf die beiden zu. Als ich sie erreichte, waren mehrere Passanten stehen geblieben und einer rief: „Ich geb dir fünf Euro, wenn du sie rein schmeißt!“
„Du lässt jetzt die Frau runter!“, befahl ich. „Sie hat gesagt, sie findet es nicht lustig, also lass sie runter!“
Er schaute mich an, er war breit und einen Kopf größer. Er hätte auch mich ins Wasser werfen können. Dass ich keine Angst hatte, machte ihm vielleicht Angst. Er konnte ja nicht wissen, dass ich vor noch nicht mal einer halben Stunde zu Renate gesagt hatte, dass ich mich sicher nicht wegen einer Stromrechnung umbringe, es mir aber egal wäre, wenn ich genau jetzt stürbe.
Er hätte auch eine Waffe ziehen können und mich erschießen. Vielleicht habe ich es mir insgeheim gewünscht. Er zog aber keine Waffe, stattdessen stellte er die Frau ab und machte noch ein paar Bemerkungen, was für eine besoffene Aggro-Lesbe ich wohl sei.
„Ich bin keine Lesbe, nur weil ich die Eier habe, die du nicht hast“, sagte ich, „und ihr alle hier nicht“, fügte ich noch hinzu und blickte zu all den Menschen, die mich anstarrten.
Renate war jetzt erst aufgestanden war, so schnell war alles gegangen. Wir setzten uns wieder, erschrocken und auch ein wenig belustigt. Dann kam jemand, blieb hinter uns stehen und sagte, ich solle mal „da rüber“ kommen.
„Wer was will, kann her kommen“, knurrte ich, ohne meinen Blick vom Wasser zu wenden.
Da kamen sie. Vier Leute standen auf dem Weg, ich unten am Ufer und sie schrieen alle durcheinander, was mir einfiele, es sei doch nur Spaß gewesen.
Ich sagte: „Gewalt gegen Frauen ist kein Spaß. Und sie hat gesagt, es ist kein Spaß. Daraufhin habe ich erst meinen Arsch gehoben. Wenn ihr eure Sadomasospielchen in der Öffentlichkeit spielt, müsst ihr damit rechen, dass so was passiert.“
Sie wollten nun meine Adresse und sie wollten, dass ich mich entschuldige, denn der Mann hatte eine Wunde an der Hand, wie sie entsteht, wenn sich jemand mit kurzen Fingernägeln mit aller Kraft in die Haut krallt.
Meine Fingernägel waren lang, keiner war abgebrochen, an keinem war Blut und ich hatte den Mann nur einmal kurz an die Schulter getippt. Ich fasse Menschen nicht gern an.
Die Fingernägel der Frau waren kurz, aber zu weit weg, um sie genau zu sehen. Renate stand neben mir und fragte die Frau, wie es ihr geht und sie schaute lange zu ihrem Freund und sagte dann, sie sei schockiert, dass ihr Freund so schwer verletzt sei.
Ich betrachtete die Hand dieses großen, starken Mannes, der so schwer verletzt war mit zwei halbmondförmigen Kratzern und war erstaunt, wie wenig mir zum Lachen zumute war, trotz der Absurdität der Situation.
Denn wir hatten ja zuvor erst über den Schmerz der Frauen gesprochen. Und über die Zeit, die nicht existiert, wenn man den Schmerz aushalten muss.
Ich nahm mein Handy raus und rief die Polizei. Ich schilderte, was vorgefallen war, erfuhr, dass ich im guten Glauben gehandelt hatte und meine Daten niemandem geben müsse, der Mann könne ja Anzeige erstatten, und entschuldigen müsse ich mich auch nicht.
Für mich war die Sache damit erledigt, ich begab mich an meinen Platz zurück und ließ den Pöbel noch ein bisschen pöbeln. Leiser und leiser werdend.
Renate hatte Recht, diese Frau war schwach. Und auch die hinter dem Schalter. Und alle, die immer tun und sagen, was andere tun und sagen. Die erst dann den Helden spielen, wenn es zu spät ist. Die dann Stärke zeigen, wenn es gegen Schwächere geht und Schwäche, wenn sie auch nur den kleinsten Schmerz aushalten müssen.
Und darum bin ich nicht schwach.
Ich bin nicht in der Lage, irgendein Amt zu besuchen, ohne eine Katastrophe zu verursachen. Ich wäre völlig hilflos ohne meine Freunde, denn für mich ist niemand zuständig. Es kann sich niemand vorstellen, dass eine Frau mit einem IQ von 140 und einem Hochschulabschluss manchmal einfach nicht in der Lage ist, ein einfaches Formular auszufüllen. Und bei den Anlaufstellen für Behinderte kann sich keiner vorstellen, dass jemand mit meiner Diagnose nicht in einem Heim lebt und überhaupt sprechen kann, mit dem Mund und mit den Händen. Sogar ziemlich gut, sagt Renate.
Und Renate sagt auch, dass Gott sich vielleicht was dabei gedacht hat, dass nicht alle Menschen gleich sind, denn sonst gäbe es niemanden, der im richtigen Moment aufsteht, weil die Logik ihm sagt, dass da etwas nicht stimmt, wenn einer einen Spaß macht und der andere nicht lacht. Oder wenn man einen Menschen einfach nimmt und in einen Fluss voller Entenscheiße, toter Fische und Mückenlarven wirft, dessen senkrechtes Ufer aus Beton eine kleine, schwache Frau nicht allein erklimmen kann.
Was für ein Spaß. Es muss ihm so viel Spaß gemacht haben, dass er nicht einmal bemerkt hat, wie sie sich in sein Fleisch gegraben hat mit der ganzen Kraft ihrer kleinen Hände.
Was für ein Spaß, mit einem Menschen einfach zu tun, was man will.
Was für ein Spaß, die absolute Macht zu haben.
Ich sitze auf dem Polizeirevier, vielleicht ist es derselbe Beamte wie der, den ich angerufen habe, als ich letzte Woche mit Renate im Park war. Ich sitze auf meinen Händen mit ihren geheimen Linien und schweige. Mal sehen, was jetzt passiert.