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Christian Stahl: Stehen und Liegen 

Das mit der Freiheit sei doch alles ein Riesenschmarrn, hatte Schmeller auf einmal durchs Lokal gebrüllt.

Der einmalige Schmeller, über sein Weinglas hingebuckelt, scheinbar schlafend, zumindest kurz eingenickt, um dann dem zu einer Art Diskussion angeschwollenen Tischgespräch mit einem plötzlichen Einwurf, einer hingeworfenen Sentenz eine neue Richtung zu geben.

Wie ich von meinem Nebentisch – viel eher ein Katzentisch im hinterletzten dusteren Eck des Schlammer Stüberls – auch heute beobachten konnte, war Schmeller eindeutig der ruhende Pol der kleinen Trinkerrunde, er dominierte gerade durch seine Schweigsamkeit, seine Müdigkeitsanfälle über dem Weinglas, wenn sein Kinn langsam seiner Brust zustrebte.

Wodurch er mir auch aufgefallen war: seine Waghalsigkeit, im Schlammer Stüberl nicht ein Bier wie alle anderen, sondern einen Wein, insbesondere einen Weißwein zu bestellen, und nicht nur zu bestellen, auch zu trinken.

Ein Riesenschmarrn. Schmeller beharrte darauf und erhob ins Schweigen hinein erneut die Stimme. Dieses Gefasel von Freiheit. Wenn es darauf ankomme, dann werde sowieso gekniffen. Alles Liegen und Stehen lassen. Wer traue sich das. Zum Beispiel jetzt und hier und sofort. Schmeller knallte seinen Autoschlüssel auf den Wirtshaustisch. Ans Meer, jetzt gleich. Nachtfahrt über die Berge. Dann Sonnenaufgang über der Adria. Wer sich das denn traue. Ob denn einer der Anwesenden so frei sei, sich das jetzt zu trauen.

Schweigen. Hände, die sich an Biergläsern festhielten, Blicke, die auf der Tischplatte die Krümel zählten. Therese aber zapfte seelenruhig ein paar frische Bier, das Leben, auch hier im Schlammer Stüberl, ging schließlich weiter, immer weiter.

 

Man hat immer die Wahl, denke ich. Man kann schweigen oder den Mund aufmachen. Man kann sitzenbleiben oder aufstehen. Auch ich hätte auf meinem Platz im Schlammer Stüberl sitzenbleiben können wie alle anderen. Sitzenzubleiben und noch ein Bier zu trinken, ist immer eine Möglichkeit, gerade in diesem Milieu. Es war noch nicht spät, durch die offene Tür des Stüberls sah man ein winziges Bisschen von der Welt da draußen, ein kleiner, aber nicht zu übersehender Ausschnitt. Passanten, geparkte Autos, ein Abend im September.

 

Der Süden sei auch nicht mehr das, was er einmal war. Aber ganz habe er noch nicht abgewirtschaftet, seinen Reiz nicht verloren, sagt Schmeller als wir endlich die Stadt hinter uns lassen und auf der B 13 tatsächlich in südlicher Richtung unterwegs sind. Besonders Nachtfahrten hätten es im angetan. Immer schon. Durch die Nacht und dem Morgen entgegen, dem südlichen Morgen. Aber man müsse sich den Süden verdienen, so Schmeller, dürfe es sich nicht zu leicht machen. Nicht umsonst hat der Herrgott zwischen uns und den Süden die Berge hingeklotzt. Inntal und Brenner, das könne jeder. Autobahn könne ja jeder. Ein Witz sei das und komme für uns nicht in Frage.

 

Sauerlach, Otterfing, Holzkirchen, die nächtliche Landstraße gehört uns. In Gmund kurzer Kaffee-Stop an einer Tankstelle. Dann der Tegernsee, über den Achenpass hinüber ins Österreichische. Mit Karacho in die Kurven, dass die Reifen von Schmellers Wagen nur so aufjaulen. Die Nacht wird nicht ewig dauern, denke ich. Wenn Anna mich jetzt sehen könnte. Als Stubenhocker hat sie mich beschimpft. Ganze Nächte am Schreibtisch verhockt, gearbeitet, aber noch öfter vor mich hin gestarrt, meine Abschlussarbeit wollte nicht fertig werden, nicht ums Verrecken. Kein Abschluss in Sichtweite, nirgends.

Als sie weg war, hab ich es dann nicht mehr ausgehalten in der Wohnung. Räume vollgestellt mit ekligen Erinnerungen, die Luft kam mir mit einem mal so seltsam klebrig vor.

Aber was man draußen soll, weiß man dann auch nicht. Der Katzentisch im Schlammer Stüberl eine Art Zuflucht. Ein paar Tage dachte ich sogar, der Ort würde mich anregen, die undeutlichen Stimmen von den anderen Tischen, das ewige Gerede um alles und nichts, ich schrieb den einen oder anderen weiterführenden Gedanken in mein schwarzes Notizbuch. Ideen sogar, Inspirationen. Eine Art sozialpsychologischer Feldforschung, dachte ich.

 

Schmeller hantiert auf dem Beifahrersitz mit der Karte und dirigiert uns ins Zillertal hinein. Er scheint ganz in seinem Element und blüht auf. Seine chronische Müdigkeit im Schlammer Stüberl war vielleicht bloß Strategie, denke ich. Als sammelte er alle Kräfte für den kommenden Aufbruch.

Dutzende Bedienknöpfe leuchten unheimlich in der Dunkelheit, wie im Cockpit eines Flugzeugs hoch über den Wolken. Wie kann sich Schmeller so einen Wagen leisten, noch keine 10.000 Kilometer. Weichste Ledersitze, der Motor kaum zu hören, auch wenn man ihm die Sporen gibt.

 

Gerlos, Bramberg, Uttendorf. Aufbruch wohin und wozu.

Sind wir auf der Flucht. Ist Schmeller sterbenskrank und möchte partout noch ein letztes Mal das Meer sehen. Sind wir Schmuggler, die geheime Dokumente oder Schwarzgeld über die Grenzen befördern, Grenzen, die aber nur noch auf den Landkarten zu erkennen sind.

Jedenfalls haben wir keine Zeit zu verlieren, ich habe schon lange aufgehört, an den Ortstafeln vom Gas zu gehen. Wir rasen über die ausgestorbenen Dorfstraßen wie ein metallic-lackiertes Geisterschiff, das nicht anhalten darf.

 

Warum hätte ich mich nicht melden sollen als Schmeller einen Mitfahrer suchte, um sich und uns seine Freiheit zu demonstrieren. Allein an meinem Katzentisch, wo man vor Beachtung sonst recht sicher war. Die Alteingesessenen im Schlammer Stüberl dachten bestimmt, ich wolle mich aufspielen, partout befördert werden von meinem Einzeltisch da hinten auf einen besseren Platz näher am Stammtisch. Aber am Ende weiß man gar nicht, warum man sich so entscheidet und nicht so.

 

Der Mensch richte alles zugrunde, sagt Schmeller. Das sei ja die Tragik des Menschen, dass er immer alles zugrunde richten müsse. Und gerade das, was ihm am meisten gefalle. Er erdrücke alles mit seiner Liebe. Das habe der Süden auch zu spüren bekommen. Weil er so schön sei, fahre man hin und baue alles zu mit Wochenendhäusern und Hotels und immer mehr Autobahnen, damit man schneller hinkomme. Und am Ende ist die Schönheit der südlichen Küsten genauso ramponiert und verschandelt wie alles andere, aber der Mensch kann nicht ablassen und mache immer weiter, fahre immer weiter und suche die Schönheit. Denn trotz der Verschandelung sei die zugrunde gerichtete Schönheit noch zu erahnen. Was alles noch schlimmer mache.

Schmeller redet und redet, ich schalte meine Sitzheizung auf Stufe 4. Vielleicht hat er Angst, dass ich ihm am Steuer einschlafe. An meinem Schreibtisch bin ich nachts nie eingeschlafen, ich kann stundenlang in die Dunkelheit starren und auf den Morgen warten.

 

Ihre Freiheit brauche sie zurück. Hatte Anna gesagt. Jetzt und auf der Stelle. Als hätte ich ihr etwas weggenommen. Als würde ich ihr die Luft zum Atmen nehmen, was für ein absurder Gedanke. Wenn man sich mag, sucht man die Nähe des anderen. Natürlichste Sache der Welt, dachte ich.

Nur ein paar Tage später dann, auf der Maximilianstraße. Wobei ich wirklich nicht wüsste, was ich ausgerechnet dort zu suchen gehabt hätte. Sehe ich sie, am Arm eines mir völlig unbekannten männlichen Subjekts. Vielleicht sind ihre Schritte noch unsicher in der neuen, ungewohnten Freiheit und sie muss sich deshalb stützen lassen, sich einhängen an einem starken Männerarm, damit sie nicht fällt und hinschlägt vor den edlen Schaufenstern. Statt sie zur Rede zu stellen, ob ich nicht richtig liege mit dieser Vermutung, wechsle ich die Straßenseite, verschwinde wie ein Dieb in der nächsten Seitengasse.

 

Schmeller hat Recht, denke ich, warum sollte man nicht alles stehen und liegen lassen.

Vielleicht, weil man versprochen hat, die Katze der Nachbarin zu füttern.

Die Nachbarin von schräg oben ist nach Ottawa gereist und bittet ausgerechnet mich um diese Gefälligkeit und nicht den alten Biberger oder die Schneiders aus ihrem Stockwerk. Das muss etwas bedeuten. Aber ich komme nicht drauf, was es bedeutet.

 

Man macht eine Tür auf und geht durch die offene Tür. Oder lässt es bleiben. Weiß einen Augenblick später vielleicht gar nicht mehr, warum man sie überhaupt aufgemacht hat. Der Mensch weiß vielleicht gar nicht, was er tut. Was hat meine Nachbarin in Ottawa zu suchen, was Anna in der Maximilianstraße am Arm dieses Mannes, wozu braucht Schmeller diesen Sonnenaufgang über dem Meer.

 

Ich nehme mir vor, als erstes im Süden eine Ansichtskarte an Anna zu schreiben. Sie hat mir ihre neue Adresse – vielleicht aus Freiheitsgründen – noch nicht gegeben. Aber ich weiß, wo sie zu finden ist. Was glaubt sie denn.

Und Schmeller wird die Ansichtskarte mit einem möglichst idyllischen Meer-Steilküste-weiter-Himmel-Panorama auch unterschreiben. Schmeller muss mit seiner Unterschrift beglaubigen, dass ich ihn in einer Nacht über die Alpen chauffiert habe als sei es eine Kleinigkeit.

 

In der Hirnforschung wird behauptet, der Impuls für eine Geste, eine Handlung sei schon vorhanden, wenn unser Gehirn sich dazu aufrafft, eine Entscheidung zu treffen. Vielleicht gilt das nur für unbedeutende Kleinigkeiten, wenn man sich am Kopf kratzt oder wenn man auf dem Trottoir einem Entgegenkommenden ausweicht.

Aber vielleicht auch nicht und wir denken wir bloß, wir hätten alles in der Hand und können deshalb gar nicht anders, als unsere Entscheidungen in eine logische Ordnung zu bringen, erzählen uns selbst unentwegt Geschichten, damit wir glauben, wir hätten unser Leben im Griff.

 

Niedersill, Fusch, Wölfern. Irgendwo zwischen Fusch und Wölfern ist Schmeller eingeschlafen. Da vorne rechts muss der Großglockner sein, an dem wir vorbei müssen, halb hinauf sogar, auf Dutzenden Kehren hinauf, ebenso viele dann wieder hinunter, während die Erde sich weiter dreht und der Sonnenaufgang näher rückt. Zum verrückt werden unaufhaltsam.

Man könnte mit dem schlafenden Schmeller kehrt machen und ihn zur nächsten Autobahnauffahrt bringen. Statt sich einen Berg, einen Pass nach dem anderen hinauf zu quälen. Man könnte aber auch endlich einmal etwas entschlossen zu Ende bringen. Auch wenn es knapp wird mit dem Sonnenaufgang über dem Meer. Auch wenn es unmöglich wird.

Ich überlege noch, was man machen kann oder soll oder darf, als mein rechter Fuß schon die Antwort parat hat und wir in dieser Luxus-Maschine die Serpentinen hinauffliegen. Wir können es schaffen, die Nacht ist noch tief, der Himmel auch im Osten noch schwarz.

 

Wenn wir es schaffen. Wenn wir es wirklich schaffen und morgen zurückkehren, ins Schlammer Stüberl oder nach Hause. Vielleicht ist Anna einfach wieder da. Weil sie gemerkt hat, dass ihr etwas fehlt, weil sie gemerkt hat, dass Freiheit nicht alles ist. Ich schließe die Wohnungstür auf und sie stürmt in meine Arme. Sie hat den Schlüssel ja behalten, das muss etwas bedeuten. Liebling, wo warst du denn so lange, wird sie mich fragen und mich küssen, dass mir die Luft wegbleibt, so wie früher.

 

Schmeller schläft selig wie ein Baby. In jeder Kehre lehnt sich sein schwerer Körper nach links oder rechts wie eine Blume im Wind. Je höher wir den Berg hinaufkommen, desto mehr interessiert mich der Blick nach Osten, ob das Nachtschwarz nicht doch schon an Aufgabe denkt, um dem Licht der Dämmerung Platz zu machen. Ex oriente lux, murmele ich, als wir die letzte Kehre durchfahren. Die Scheibe der Fahrertür surrt sanft auf Knopfdruck nach unten. Nur ein kurzes Stück führt die Straße hier am Sattel des Passes geradeaus, ich strecke den Kopf aus dem Fenster und denke, dass mich die kühle Nachtluft erfrischen wird, am Horizont erkennt man die Zackenlinie der Bergkämme. Und dann sehe ich dort auch das erste Licht. Wie lange dauert eine Dämmerung. Wie viel Zeit bleibt noch.

 

Auf dem höchsten Punkt unserer Fahrt, 2428 Meter über dem Meer, dem wir jetzt unaufhaltsam näher kommen, näher kommen müssen. Ich gebe Gas, der Wagen springt in die erste Kurve, auf dem Weg hinunter, nach Süden, zum Meer hin. Kurz schaue ich auf Schmeller, ob er noch schläft, ob es ihm gut geht. Nur eine Sekunde vielleicht habe ich die Straße aus den Augen gelassen. Bestimmt nicht länger. Aber jetzt steht da, mitten auf der Fahrbahn, mitten im grellen Licht unserer Xenon-Scheinwerfer, ruhig und sorgfältig wiederkäuend, dieses Riesentrum von einem Rindvieh. Und glotzt mich an.

 

Wir heben ab, wir fliegen. Dem Süden entgegen, das immerhin.

 

Denn während ich noch überlege, was das Rindvieh da zu suchen hat und seit wann diese Tiere nachtaktiv sind, beschließt etwas in mir, das Steuer herumzureißen und alles hinter uns zu lassen, vor allem die Straße und den festen Boden unter unseren Reifen, 2428 Meter über dem Meer.

Schmeller schläft weiter als sei nichts, er grunzt bloß ganz leise, vielleicht träumt er vom Morgenlicht über der Adria. Ich bleibe ruhig, verdammt ruhig und warte auf den Film meines Lebens, der angeblich in Todesgefahr sich abzuspulen beginnt, mit Höhepunkten und intensiven Momenten und allem. Aber das ist kein Film, nicht das winzigste Best-Of bekomme ich geboten. Das einzige, was ich vor meinem inneren Auge sehe ist die verhungernde Katze meiner Nachbarin, die schon zu schwach ist um nach Futter oder Hilfe zu maunzen. Das ist alles. Ich warte auf den Aufprall.

 

„Sperrstund!“ – Thereses Stimme, die sehr laut und unangenehm werden kann, eine Hand grob an meiner Schulter. „Sperrstund is. Jetzt gäh weida. Schau, dass d’ hoam kummst. Morgn is aa no a Dag.“