Maja Roedenbeck: Scheint so, als wär das das Leben
„Ich hab nun wirklich auch nicht das vom Leben gekriegt, was ich mir vorgestellt hatte. Wirklich nicht“, sagt Frau Schubert von der Arbeitsagentur zum Abschluss einiger verunglückter Gedanken des Mitleids.
Und Denise denkt: „Hör ma, Trulla, glaubst du, das interessiert mich jetzt irgendwie?“
Zu sagen fällt ihr überhaupt nichts ein. Was erwartet die Schubert denn? Dass Denise fragt: „Ja, wieso hamm Sie’s denn so schwer? Mensch, da geht’s Ihnen ja wie mir! Sollen wir ’ne Selbsthilfegruppe gründen?“
Die einzige Frage, die ihr auf der Zunge liegt, wäre die, ob das eigentlich rechtens ist, die Beratungskabinen hier im Souterrain der Arbeitsagentur nur mit mannshohen Glaswänden voneinander abzutrennen. Dass durch die hindurch und über die hinweg jeder vom anderen mitkriegt, welch Leid ihn plagt.
Aber Denise kann das ja egal sein. Sie ist nicht für sich selber hier. Sie darf sich überlegen fühlen: Ihr habt alle keine Arbeit, oder was? Ich hab eine! Ich komm nur für meinen Mann, der ist erst vierzig und schon scheißekrank. Und ich bin ein fucking Heiliger, dass ich das alles ertrage und jetzt auch noch hier Männchen mache für sein Arbeitslosengeld im besonderen Fall.
Nachdem sie Frau Schubert so lange empört angestarrt hat, bis die ihren Blick senkt, sammelt Denise Fabians Krankenhausaufenthaltsbescheinigung, die Vollmacht, einen Packen auszufüllende Formulare und was nicht alles für Unterlagen wieder ein und sieht zu, dass sie rauskommt.
Wenn nicht jetzt, wann dann, wäre der Zeitpunkt gekommen, um sich endlich aus dem ganzen Elend loszueisen?
„Man trennt sich nicht auf der Intensivstation, aber zwei Jahre danach“, hat ihr zwar neulich ein in diesen Dingen erfahrener Freund gesteckt, jedoch muss sich Denise das ja nicht zur Vorschrift machen. Wenn schon Binsenweisheit, dann hat die Sache mit Fabsi sie gelehrt, dass auf diesem Planeten nur eins vernünftig ist, nämlich im Hier und Jetzt zu leben. Ich bitte dich, in zwei Jahren, da kann die Welt schon untergegangen sein! Guck mal „Melancholia“!
Fabsi ist schon immer krank gewesen. Seit sie ihn kennt.
Was für eine Krankheit, ist eigentlich echt egal. Was soll man da beschreiben? Ob das jetzt schwarze Krebsklumpen sind, die in seinen Gedärmen expandieren, oder ein Herz so groß wie ein Handball, das keinen Takt mehr halten kann, was macht das für einen Unterschied. Denise kann das auch alles nicht mehr hören. Das macht ihr eine rasende Angst, was mit einem Körper so passieren kann. Schon die Schwangerschaften sind ihr damals unheimlich gewesen: Was für eine Absurdität der Natur, dass so was funktioniert! Und nachdem sie inzwischen jeden Notarzt der für ihre Straße zuständigen Feuerwache beim Namen kennt, erscheint es ihr sogar wahrscheinlicher, dass ein Körper nicht funktioniert als dass er funktioniert.
Sagen wir einfach, Fabian ist krank.
Seit dreieinhalb Jahren richtig krank.
Seit sechs Monaten und siebzehn Tagen richtig, richtig krank.
Und Denise hat die Schnauze so was von voll. Schon lange eigentlich, aber wenn sich die ganz große Scheiße langsam ranpirscht und in kleinen Nuancen immer brauner und wurstiger wird, dann gewöhnt man sich dran und merkt lange Zeit gar nicht, wie arg das Leben schon stinkt.
Und wovon ist Denise dann aufgewacht? Weiß sie selber gar nicht so genau. Vielleicht die Magenkrämpfe, die sich zu jeder Tages- und Nachtzeit ungefragt über sie hermachen, oder der zwingende Impuls zu heulen, wenn sie eine Frauenzeitschrift sieht. Vielleicht auch einfach der Verbrüderungsversuch von Frau Schubert auf der Arbeitsagentur.
Verdammt noch mal, sie ist fünfunddreißig, sie hat einen Mann gefunden und einen Beruf, hat die Kiddies heil bis in die Grundschule gebracht und sich mit ihrer großen Nase und den kleinen Titten so gut wie arrangiert. Alles könnte gerade gut sein! Richtig, richtig gut!
Und dann so was.
Denise will jetzt nur noch da raus, raus, raus. Ich, ich, ich, ist das einzige, was sie denken kann. Die wahnsinnsnahe Wut in ihr drin lässt nicht mal mehr Mitleid zu mit dem Mann, der ja – und da muss man kein Philosoph sein, um das zu durchschauen – auch alles andere als frei ist. Der kann nicht raus, der kann nicht duschen, der kann gar nichts. Und trotzdem sind in Denise nur ihre eigene Wut und das Ich:
Kein’ Bock mehr auf die Hetze vom Büro zur Schule zum Krankenhaus jeden Tag, kein Bock mehr, volle Coke- und leere Pfandflaschen, saubere und Dreckwäsche, ungesehene und für gut oder schlecht befundene DVDs hin und her zu schleppen. Kein’ Bock mehr, wechselweise als Beinahewitwe (von denen, die es wissen) oder Alleinerziehende (von denen, die es nicht wissen) behandelt zu werden. Und vor allem kein’ Bock mehr auf die Frau, die sie geworden ist: dieses hyperängstliche, aggressive, unzufriedene, broterschöpfte Etwas, das nichts mit der Frau zu tun hat, die sie mal war und zu der sie kaum noch einen Zugang hat. Das einzige, was Denise ganz sicher über sich sagen kann: Sie wollte immer schon, und will auch jetzt, frei sein.
Um frei sein zu können, muss man allerdings zuerst wohl mal lebendig sein.
Und wenn man sich Denise so anguckt, fragt man sich schon, ob da noch viel Lebendiges im Sinne von Optimismus, Enthusiasmus und Orgasmus in ihr ist, was sich zu befreien lohnt.
Vielleicht hat das Leben sie auch einfach schon klein gekriegt. So krass das ist in ihrem Alter. Hätte man das mit zwanzig geahnt! Dass es nicht mal annähernd bis siebzig dauern würde, bis man sich geschlagen gibt!
Mittags sitzt Denise noch mit Franka auf der Sonnenterasse des Café Beaudelaire. Es sind ein paar andere Leute da und es gibt eisgekühlten, koffeinfreien Latte mit fettarmer Milch und ohne Zucker und Franka kommt erst gar nicht zu Wort. Weil Denise, nachdem sie einmal angefangen hat, mit dem Schwärmen nicht mehr aufhören kann:
„Ich werd’ beim Tagesspiegel kündigen und abhauen und mit den Kiddies in einem kleinen Steinhäuschen in Irland am Meer leben! Und du kommst uns besuchen! Ich werd’ mir die Haare abschneiden und blond färben, das wollte ich schon immer!“
Franka guckt skeptisch.
„Ja! Und ich werd’ mir ’ne Westerngitarre kaufen und spielen lernen wie Norah Jones und in kleinen irischen Pubs auftreten! Und ich werd’ einen neuen Mann finden, der groß und stark ist und nie krank wird und sich immer um mich kümmert!“
Franka guckt weiter skeptisch.
„Das wird toll, wirklich. So wie ich mir das immer vorgestellt hatte!“, bekräftigt Denise noch mal, aber die Luft ist da schon ziemlich raus. Franka braucht gar nichts mehr zu sagen, denn Denise weint dann auch bald von ganz alleine. Die ersten paar Liter Tränen laufen noch geräuschlos, aber dann fängt sie an, in wechselnden Tonlagen und Lautstärken zu wimmern, und sich zu schütteln, denn ihr ist heiß und kalt und in der Gegend um den Solarplexus ballt sich ein wehenartiger Schmerz zusammen.
Franka hält sie im Arm und weiß jetzt, wofür das Wort „wehklagen“ im Duden steht. Hierfür. Für das.
Es ist zehn Jahre her, da haben sie am selben Tisch im Café Beaudelaire gesessen und Denise hat Franka von dem tollen neuen Typen in der Redaktion erzählt, der mit dem Tattoo auf dem Unterschenkel, der Fabian hieß, aber Fabsi genannt werden wollte. Der sie im Fahrstuhl geküsst hat und ihr versprochen: „Wenn du dich für mich entscheidest, heirate ich dich sofort!“
Und genau das ist dann passiert.
Und dann der ganze Rest.
Die haben ein neues Desinfektionsmittel im St. Anna. Es riecht nicht mehr nach Chemie, es riecht jetzt nach Vanille, nach grotesk aufgeplusterter, absolut unnatürlicher Vanille – das geht ja gar nicht! Gestern hat Denise auf dem Wagen der Reinigungslady Beweisstück A gesichtet: Eine Plastikflasche
Unigloves® Flächendesinfektion Vanille,
gebrauchsfertige, aldehyd- und phenolfreie Sprühdesinfektion für Inventar und Flächen.
Für alle Bereiche der Praxis und des Krankenhauses geeignet,
erhältlich auch in den Duftnoten fresh und lemon.
Wer denkt sich denn so was aus? Als ob Vanille es auch nur das kleinste Bisschen besser machen würde! Denise weiß das natürlich noch nicht, aber sie wird für den Rest ihres Lebens nie mehr Vanillejoghurt essen. Nie mehr.
Gänge, Zimmer, Gänge, Aufzüge, Gänge, Zimmer voller Vanille. Und da liegt er dann: Fabsi. Vierzig Jahre und ein alter Mann. Die Haare zu lang für kurz, zu grau für jung, die Haut erstarrt. Grün-blau unterlaufen an den Einstichstellen ehemaliger venöser Zugänge an Armen und Händen, vernarbt am ganzen Oberkörper und hellbraun gefleckt an den verquollenen Unterschenkeln. Macht das Sinn, jemanden gleichzeitig als aufgeschwemmt und ausgemergelt zu beschreiben?
„Hallo, Schatz“, sagt Denise, gibt Fabsi einen nichtssagenden Kuss und fragt ganz sicher nicht: „Wie geht’s dir?“, denn dann würde er nur von der Visite anfangen und sie – kann – das – nicht – mehr – hören.
„Hallo, Schatz!“, sagt Fabian und hält die Lippen viel länger hin und die Augen viel länger geschlossen als Denise ihn küsst.
Denise packt alles Mitgebrachte aus und alles Ausgediente ein und ist dann eigentlich innerlich fertig, um wieder zu gehen, aber das geht natürlich nicht, ganz besonders heute nicht, denn sie hat ja noch was vor. Sie hat ja noch was zu sagen, und wenn sie den Mann da im Bett anschaut und mit dem vergleicht, den sie geheiratet hat, dann ist das nur bedingt derselbe. Deshalb, folgert sie, muss sie auch kein schlechtes Gewissen haben, wenn sie ihr Versprechen nicht halten kann. Wobei, denkt Denise und hört dann auf zu denken, denn wenn sie weitergedacht hätte, hätte sie gedacht: Bin ich ja auch nicht. Dieselbe, die er geheiratet hat. Auch wenn natürlich in meinem Fall die Schuldfrage offen bleibt.
Plötzlich Gewusel draußen vor der offenen Zimmertür, zwei Typen vom Krankentransport laufen etwas orientierungslos herum, hauen Sprüche raus und scherzen, es dröhnt richtig in der Stille des Ganges und ihre Schritte wirken zu groß, monströs geradezu. Einer öffnet die Tür direkt neben Fabians Zimmer und verschwindet.
„Hey, das ist ein Patientenklo!“, schreit Fabsi, beziehungsweise eigentlich müsste man sogar sagen, er bellt, es ist superpeinlich, Herrgott noch mal, als ob der Typ vom Krankentransport der Feind der gesamten Menschheit wäre.
„Wenn du noch so was zu dem sagst, geh ich“, droht Denise und Fabsi verteidigt sich: „Aber der hat doch überall Keime an sich dran!“ und Denise sagt: „Jede Türklinke hat mehr Keime an sich dran als der Arsch von dem Johanniter auf deinem Klo. Du bist ein richtiger Menschenhasser geworden hier drin’.“ Das war unfair und sie weiß es. Aber sie kann nicht anders. Nicht mehr nach sechs Monaten und siebzehn Tagen.
Fabian kratzt sich am Arm und es rieselt Schuppen.
Jetzt können sie erst recht nicht mehr miteinander reden, die beiden, dabei sind sie zusammen doch erst bis zur Rosenhochzeit gekommen, das ist doch nichts! Sie spielen eine wortlose Runde Würfel-Siedler. Irgendwann sagt Denise mehr zu sich selbst, dass sie sich mit Franka getroffen und über Frauenkram unterhalten hat; Fabian bringt dann doch noch seine Story von der Visite, obwohl er weiß, dass Denise nicht zuhört. Erzählt, dass sie ihm seit heute weniger Calium geben und mehr Torasemid und dass er seit einigen Stunden keine Episode mehr hatte und heute schon sechzehn Mal auf dem Klo war von den Diuretika. Und dann sagt er noch was, völlig zusammenhanglos. „Ich hab’ mir überlegt“, sagt er, „sollen wir uns nicht’n Billardtisch für’s Wohnzimmer kaufen, da ist doch Platz genug zwischen Sofa und Esstisch. Aber nicht so’n kleines Freizeitding, sondern so’n richtiges großes, schweres Teil aus dunklem Holz, das in ’nem englischen Herrenclub stehen könnte!“
Denise weiß, dass da nie und nimmer genug Platz zwischen Sofa und Esstisch ist, dass die Erinnerung an zu Hause Fabsi trügt, er ist einfach schon zu lange weg. Aber das ist ihr gerade egal. Was er da eben gesagt hat, hat ihn ihr für einen klitzekleinen Moment zurückgebracht.
Schließlich versucht Fabian, die Füße aus dem Bett zu hängen und sich aufzurichten, um Denise wenigstens für zehn Minuten richtig gegenüber zu sitzen. Aber das klappt heute nicht. Denise kann kaum mit ansehen wie sehr er das will und wie sehr er sich quält. Holt ein paar Mal Luft und atmet dann doch ergebnislos wieder aus.
„Nun sag schon“, meint Fabian arglos – und kurzatmig von der Anstrengung.
„Ach nichts, ist egal.“
„Ist nicht egal, du hast doch was!“
„Ach, hier ist doch doof.“
Denise nickt in Richtung Dr. Ortmann, der am Schreibtisch im Eingangsbereich des Intensivzimmers sitzt und Epikrisen schreibt.
„Das interessiert doch den Doc nicht, was du mir zu erzählen hast!?“, wundert sich Fabian.
„Das geht den aber auch nichts an!“
Denise weiß, sie kann jetzt nicht mehr nichts sagen, irgendwas muss sie sagen.
Die vorbereiteten Worte steigen sauer wie Sodbrennen in ihr auf.
Und dann trifft sie eine Entscheidung.
Es ist gar nicht die Einsicht „Er kann ja nichts dafür“ oder das Versprechen „In guten wie in schlechten Zeiten“. Es ist das, was vorhin zusammen mit der Vorstellung von einem Billardtisch in ihr aufgeblitzt ist: das, was mal war, die Gefühle, die Gemeinsamkeiten. Dieser Mann, der Denise so fremd vorkommt wie nur irgendwas und riecht wie Opa Schorsch ganz zuletzt, der war da mit einem Mal wieder jener andere Mann, mit dem sie früher jeden Freitagabend im „Pool & Cigars“ verbracht hat – Whisky Cola für sie und Desperados für ihn – und dessen Träume perfekt zu ihren passten.
„Ich“, sagt Denise, und weiter sagt sie: „warte auf dich. Wird Zeit, dass du wieder rauskommst und neben mir schläfst.“ Und mit mir schläfst und dich auch mal wieder um die Kinder kümmerst und und und, Denise könnte gleich wieder anfangen mit einer langen Latte Sachen, die ihr das Leben schwermachen und die verdammt noch mal abgestellt gehören, wenn es nicht irgendwer drauf anlegt, dass sie demnächst auch zusammenklappt. Aber es gelingt ihr, den Mund zu halten und Fabian in den verschwitzten Nacken zu greifen und ihn dort zu kraulen, ohne sich allzu sehr zu ekeln.
Denn sind wir nicht, überlegt sie, während sie das tut, so lange wir Entscheidungen treffen können, trotz allem noch frei?