Myriam Witt: Alexeys Freiheit
Wenn Alexej den Mund aufmacht, weiß man sofort, dass er Russe ist, obwohl er aussieht wie ein Araber. Schon allein deswegen, weil er nicht sagt „ich bin Russe“. Alexej sagt „ich – Russe“. Oder ich Arzt. Mit solchen Nutzlosigkeiten wie den Verbformen des Seins beschäftigt sich die russische Sprache nicht und deswegen geraten sie Alexej manchmal irgendwo, meist aber nirgends in seine Sätze hinein. Ich möchte ihm sagen, dass er gar nicht aussieht wie ein Russe, aber für ein paar Tage hält die Höflichkeit die Neugier in Schach. Dann sage ich es doch. Du redest wie ein Russe, aber du siehst aus wie ein Türke.
Alexej lacht und sagt, er kein Russe, er Turkmene.
Und seine Frau Nadja auch keine Russin, sondern Deutsche.
Er zeigt mir seinen alten, russischen Pass und da steht in der fünften Zeile unter Nationalität Turkmene. Aber das ist doch ein russischer Pass? Da ist er doch Russe, so wie ich Deutsche bin, weil ich einen deutschen Pass habe.
Russischer Turkmene, sagt Alexej und Nadja sei russische Deutsche.
Ich frage mich, was eine deutsche Russin sein mag und ob es so was gibt, in Deutschland oder in Russland. Und ob Alexej ein deutscher Turkmene wird, wenn er den deutschen Pass kriegt und Nadja eine deutsche Deutsche. Wo doch alle hier sie für eine Russlanddeutsche halten. Und Alexej für einen Deutschtürken, des Aussehens wegen. In Russland ist es nicht genug, einfach nur Russe zu sein, man ist immer auch noch etwas anderes. Ukrainer, Kasache, Georgier. Offenbar kommen die Russen mit ihren russischen Deutschen und turkmenischen Russen genauso schlecht zu Rande wie die Deutschen mit ihren deutschen Türken und italienischen Deutschen.
In Turkmenistan, steht bei Wikipedia, ist Nyyazow Präsident. Auf Lebenszeit. Theater, Oper und die freie Wahl des Studienfachs sind seitdem verboten. Ein paar Tage später frage ich Alexej, warum er nach Deutschland gekommen ist.
Na, sagt Alexej, meine Frau ist schließlich Deutsche.
Als wisse ich damit alles, was von Interesse sein könnte.
Bei Wikipedia steht, dass unter Nyyazow 15000 Krankenhausangestellte in Turkmenistan entlassen worden sind. Krankenhäuser bräuchten die Turkmenen nicht, fand der Präsident.
Diesmal frage ich Alexej, warum er aus Turkmenistan weggegangen ist. Alexej sieht mich an, sieht mich lange an. Seine rechte Augenbraue wandert seine Stirn hoch. Keiner der anderen Ärzte hat ihn je gefragt. Alexej sitzt mit ihnen zusammen im Arztzimmer im OP-Trakt. Er lächelt ab und zu und sagt nichts, wenn man ihn nicht fragt und wenig, wenn man ihn fragt. Weil das eben so ist. Es fragt ihn ohnehin niemand.
Ich gucke ihn an und frage, wieso?
Alexej lacht. Er sagt, sein Vater sei Pilot, aber jetzt sei er Bauer. Turkmenen bräuchten keine Flugzeuge, sagt Nyyazow. Seine Mutter sei Journalistin und jetzt sei sie Bäuerin. Turkmenen, sagt der Präsident, haben Zeitung nicht nötig. Seine Zwillingsschwester war Schulleiterin und jetzt melkt sie Kühe, obwohl sogar Turkmenen Schulen brauchen. Ich tauge nicht zum Bauern, sagt Alexej. Ich bin Arzt. Ich habe in Moskau studiert, ich bin Anästhesist, Kinderanästhesist. Ich bin kein Bauer. Sie haben kein Recht, aus mir einen Bauern zu machen.
Ich frage Alexej, ob ihm seine Familie nicht fehlt, seine Eltern, sein Onkel, seine Geschwister.
Ahh, sagt Alexej, mein Vater sagt, in Turkmenistan gewinnt man nicht deshalb, weil man Recht hat. Er sagt, warum gehst du nicht nach Europa, wo sie so etwas glauben. Alexejs Vater sagt, seinem Sohn fehle das gewisse Verständnis für die Geschichte, für die Politik, für die rechte Geschmeidigkeit im Leben, die ein Turkmene bräuchte. Warum, hat Alexejs Vater seinen Sohn gefragt, gehst du nicht nach Deutschland, wo Platz ist für alle Sorten von Aufmüpfigkeit?
Alexej macht einen Kurs zur Berufseingliederung ausländischer Ärzte an der Rackow Schule in Hamburg. Von dort aus schicken sie ihn für ein Taschengeld als Integrationspraktikant an unser Krankenhaus. Alexej ist seit zehn Jahren Anästhesist. Ich bin frisch von der Uni und will erst noch einer werden. Die anderen Ärzte ignorieren ihn, weil er nur auf Zeit da ist, einen ungeklärten Status hat und weil er morgen vielleicht schon wieder weg ist. An manchen Tagen, an denen wir zu viele sind, ist er zwar Arzt, aber doch nur Integrationspraktikant und wird genauso wie ich von einem der Großen beaufsichtigt. An anderen Tagen ist er Arzt, auch wenn er Integrationspraktikant ist und hat seinen eigenen Saal, ganz ohne Aufsicht. Und an manchen Tagen muss er zusätzlich mich beaufsichtigen. Unser Oberarzt findet, dass sei eine gelungene Zusammenführung von Fähig- und Unfähigkeiten. Ich kann Deutsch aber keine Narkosen und Alexej kann Narkosen aber kein Deutsch. Zusammen können wir einen Patienten am Leben erhalten und mit ihm reden, ohne dass sonst jemand seine Zeit an ein medizinisches Küken oder einen Integrationspraktikanten verschwenden muss.
Wenn mir die Oberärzte etwas erklären, erklären sie und gehen wieder. Wenn Alexej etwas erklärt, fragt er hast du verstanden? Hast du verstanden? Wirklich? Zeig es mir. Wenn ich anfange, mich wohl zu fühlen, wenn ich ein bisschen selbstsicher werde, nimmt er mir etwas weg. Er sagt – und jetzt? Pulsoximeter kaputt, was machst du jetzt, damit dein Patient lebt? Und die Antwort ist nicht, ich lasse die Schwester ein heiles holen. Was wenn du nicht genug Medikamente hast? Was wenn die Beatmungsmaschine ausfällt? Was wenn du das falsche gespritzt hast? Hast du verstanden?
Alexej tut immer nur so ruppig, damit niemand auf den Gedanken kommt, dass er ein netter Kerl ist. Wenn die Schwestern draußen sind, unternimmt der russische Turkmene mit mir einen Streifzug durch die deutsche Kinderliteratur. Die Kinder liegen ihm am Herzen, und dass ich was lerne, liegt ihm am Herz. Ich weiß nicht, dass Bibi Blocksbergs Besen Kartoffelbrei heißt und bin bei den Kindern unten durch. Alexej sagt, wenn man Kindernarkosen machen will, muss man auch Kinderbücher lesen. Er kann die wunderbarsten Grimassen schneiden. Er lacht, knurrt, grollt, gestikuliert und seine Augenbrauen gehen in seinem Gesicht spazieren, dass die Kinder keine Zeit für Angst haben.
Die Kinder interessieren sich nicht für sein russisch-deutsches Kauderwelsch. Die Oberärzte schon. Sie sagen, manche unserer Patienten waren noch in russischer Gefangenschaft, und das kann man ihnen nicht zumuten, dass sie, frisch aus der Narkose aufgewacht, russisch hören müssen. Das bringt die alten Leute doch durcheinander.
Alexej will, dass ich Anästhesie lerne und ich will, dass er Deutsch lernt. Wenn er genug Deutsch kann, lassen sie ihn vielleicht auch Patienten in der Ambulanz betreuen, oder auf der Intensivstation, statt nur Narkosen im OP zu machen. Vielleicht stellen sie ihn ein, wenn sein Zweijahrespraktikum zu Ende geht. Ich habe ein kleines Lexikon mit und wenn wir ein Wort nicht wissen, schlagen wir es nach. Er in seiner Hälfte des Buches und ich in meiner. Über das Wort Angst werden wir uns nicht einig. Ich sage, die Kinder haben Angst, wenn sie zur Operation kommen. Alexej sagt, nein, nein, keine Angst, nur ein bisschen allein gelassen, weil die Mutter nicht mit dabei ist. Ich sage, die Erwachsenen haben auch Angst, wegen der Krankheit, wegen des Krebses, wegen der Operation. Alexej sagt, hmhm. Ich frage ihn, ob er keine Angst gehabt hat in seiner Zeit in Turkmenistan. Aber Angst ist ein selten benutztes Wort in Alexejs Mund. Ich habe den Verdacht, dass seine Art, das Wort Angst zu benutzen, eine andere ist als meine. Sein Wort für Angst ist unverträglich mit der alltäglichen Sorte Angst, mit der ich gewohnt bin, banale Unsicherheiten zu beschreiben.
Wenn die anderen in die Pause gehen, runter zur Cafeteria, fragen sie ihn nicht, ob er auch gelegentlich etwas isst oder trinkt. Alexej raucht dann im Pausenraum eine Zigarette. Er sagt, er ist weniger einsam, wenn er alleine mit seiner Zigarette sitzt, als in der Cafeteria alleine zwischen all den anderen. Wenn Alexej mal mit ihnen zusammensteht, hält er die Zigarettenschachtel in der Tasche seines blauen OP-Kasacks fest. Sie nicken ihm zu und rücken ein wenig zur Seite, um Platz in ihrem Kreis zu machen, aber eine wie nebensächliche Änderung ihrer Körperhaltung lässt verstehen, dass er gleichwohl ausgeschlossen ist.
Wenn Alexej ein Wort unverständlich ausspricht, lasse ich es ihn wiederholen, bis es richtig klingt. Alexej sagt das Wort und fragt mich auffordernd, hast du verstanden? Hast du verstanden? Und ich lache, schüttele den Kopf, kratze mich am Kopf oder halte die Hand hinter das Ohr und sage was, was willst Du? Wenn Alexej daran verzweifelt, legt er seine beiden Hände wie ein Dach zusammen und lässt es schief zur Seite rutschen. Du bist verrückt heißt das in russischer Fingersprache, dir ist dein Dach verrutscht. Oder er schlägt sich mit der Zeigefingerseite der Hand leicht an den Adamsapfel und sagt es stünde ihm bis hier, unser Deutsch. Zu schwer, zu holperig. Sein Hals kriege Krämpfe davon.
Wir laden Alexej, Nadja und ihren sechsjährigen Sohn Mischa zum Grillen zu uns nach hause ein. Mischa hat einen Herzfehler. Er kann nicht so spielen wie die anderen Kinder. Er kann nicht regelmäßig in die Schule gehen. Niemand weiß, was er einmal können oder nicht können wird. Ich weiß nicht, wie Alexej nicht wissen kann was Angst ist, wenn er einen kleinen behinderten Sohn zu hause hat, von dem er nicht weiß, ob er im Leben zurecht kommen wird. Nadja will extra Nachhilfestunden für Mischa, Nadja sagt, sie müssten sich mehr kümmern. Alexej will das nicht. Er sagt, Mischa solle nicht das Gefühl haben, dass seine Behinderung wichtig ist, wichtiger als er selbst, wichtiger als die Entscheidungen, die Mischa irgendwann über sein Leben fällen wird. Alexej will nicht, dass seine Behinderung ihm zusätzlich zu der körperlichen auch die geistige Freiheit nimmt.
Alexej erzählt, der Oberarzt habe ihn mitgenommen für eine Narkosevorbesprechung mit einem Patienten. Es habe sehr gut geklappt bis zu dem Moment, wo er den alten Bauern fragen wollte, von wann sein letztes Röntgenbild sei, aber stattdessen gefragt hätte, wann er denn wohl das letzte Mal gerumpst habe? Der Bauer habe erwidert, rumpsen? Sowas tue er schon seit Jahre nicht mehr, immerhin sei seine Frau schon länger verstorben. Wir lachen alle, aber natürlich bedeutet es, dass Alexej weiter im OP eingesperrt bleibt. Es bedeutet, dass es unwahrscheinlich ist, dass ihn das Krankenhaus einstellt, wenn auch die Verlängerung seines Praktikums zu Ende ist.
Wir reden über Politik in Deutschland, in Russland und in Turkmenistan. Alexej sagt, ganz egal ob Patriotismus, Nationalsozialismus, Kommunismus oder Katholizismus, es sei alles nichts für Leute, die frei sein wollen. Solange man Angst vor den –ismen dieser Welt habe, könne man gar nicht frei sein. Nadja ist in der Kirche und sie runzelt wegen des Katholizismus die Stirn. Wenn du ein wenig gläubiger wärest, sagt sie, hätte Gott vielleicht mehr Erbarmen mit deinem armen, behinderten Sohn. Aber Alexej wischt das mit einem Lächeln fort. Ich bin viel zu sehr damit beschäftigt Vater zu sein und Ehemann, Turkmene, Russe und Deutscher - zum gläubig sein, habe ich gar keine Zeit mehr.
Mit dem Weiterkommen in meinen Ausbildungsstationen geraten Alexej und ich uns ein wenig aus den Augen. Ich lerne Intensivmedizin und er ist im OP, ich lerne Rettungsmedizin und er ist im OP. Wir sehen uns zur Geburtstagsfeier von Nadja. Wir sehen uns manchmal auf dem Parkplatz und auf den langen Krankenhausgängen. Ich rufe ihm he, Russenjunge hinterher und er lacht mit hochgezogenen Augenbrauen und droht mir mit der Faust.
Ich höre, dass Nadja und er sich getrennt haben. Dass Mischa jetzt in eine Spezialschule geht. Ich höre von ihrer Scheidung. Sie haben sein Praktikum noch einmal um zwei Jahre verlängert, aber er bekommt jetzt nur noch soziale Stütze, wie alle Langzeitarbeitlosen. Jeden Morgen ist er um 7.15 h im OP, raucht jeden Mittag alleine seine Zigarette. Ich frage ihn, ob er nicht sauer ist, darauf, dass sie ihn schneiden, dass sie ihn nicht weiterkommen lassen. Er lacht auf eine Art, die sagt, dass ihn solch gewöhnliche Enttäuschungen nicht bekümmern. Er sagt, man mache sich selbst unfrei, wenn man anderen Leuten die Schuld am eigenen Leben gäbe. Er sagt, damit gestehe man ihnen einen Einfluss zu, der unglücklich mache. Er könne als Arzt arbeiten, er könne Zeitung lesen, Mischa gehe zur Schule. Manchmal fühle ich mich, als hätten wir uns zu einer Reise verabredet, aber irgendwie hätte ich einen früheren Zug genommen und Alexej sei am Bahnhof stehen geblieben.
Dann wird mein Vater krank und zum ersten Mal seit langer Zeit reden wir wieder miteinander. Ich weine und er sieht mich an und raucht eine Zigarette. Als sie zu Ende ist, nimmt er eine meiner Hände und sagt:
Keine Angst haben. Keine Angst um Vater haben. Es ist wie es ist. Sonst nichts.
Alexej hält meine Hand und fragt hast du verstanden? Hast du das verstanden?
Ich sage, dass ich das nicht verstehe, nicht verstehen will. Wie soll man ein Leben verstehen, das Vätern Lungenkrebs gibt und kleinen Söhnen Herzfehler.
Über das Leben, sagt Alexej, gibt es nichts zu verstehen, außer das es weiter geht, bis es zu Ende ist. Es gäbe ja sonst auch gar nichts anderes, was es tun könne.
Ich frage ihn hast du keine Angst vor dem Tod?
Nein. Angst, sagt Alexej, mache unfrei.
Ich frage ihn hast du keine Angst vor dem Sterben?
Ah, sagt Alexej, ich bin unsterblich, jeden Tag, …bis ich sterbe, jedenfalls.
Da war er noch für 14 Tage unsterblich.
Alexej stolperte im OP und schlug sich den Kopf an der Stahlkante eines Tisches. Acht Tage lag er mit einer schweren Hirnblutung auf der Intensivstation, auf der er nicht arbeiten durfte. Ich saß an seinem Bett und hielt seine kalte Hand in meiner.
Wahrscheinlich verstehe ich Alexejs Wort für Freiheit nur ebenso ungenau, wie sein Wort für Angst. Er hat Freiheit zur Entscheidungsgrundlage seines Lebens gemacht hat.
Alexejs Freiheit war es, Dinge, die er ändern konnte zu ändern, auch wenn der Preis hoch war.
Alexejs Freiheit war es, Dinge, die er nicht ändern konnte, hinzunehmen, ohne sich nutzlos aufzulehnen.
Alexejs Freiheit war es, sich selbst immer als Handelnden und nicht als Behandelten, als Opfer, der Umstände, der Menschen, der Zeit oder der Umgebung zu verstehen.
Alexej hatte die Gelassenheit, solche Dinge unterscheiden zu können.
Mir stehen die Tränen in den Augen, seine dunkle Hand in meiner, während ich mir vorstelle, wie er mich anfährt, he, Nemezkaja, he, deutsches Mädchen, hast du das verstanden?