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Florian Szigat - Willkommen in Libertien 

„Halt! Sofort stehenbleiben!“ brüllte ich dem unscheinbaren jungen Mann entgegen, der gerade im Begriff gewesen war, seinen Fuß so unbedacht über die Türschwelle zu setzen.

Die natürliche Autorität meiner Stimme und meine warnend erhobene Hand ließen ihn erschrocken innehalten, wie ich mit einiger Befriedigung feststellte. Ich betrachtete den Beinahe-Eindringling genauer. Er musste in den späten Zwanzigern sein, wenn er sich gut gehalten hatte – was auch immer das in diesem Alter bedeuten mochte – vielleicht auch Anfang Dreißig. Der blassgraue Anzug passte zu seiner ungesunden Hautfarbe und eine viel zu groß geratene Hornbrille verdeckte gnädigerweise den Großteil seines flachen Gesichtes. Das fettige Haar auf seinem Kopf wurde bereits dünn und ich ertappte mich bei dem Gedanken, dass es vermutlich besser für ihn wäre, wenn es möglichst schnell ganz ausfiele.

Nach meiner eindringlichen Ermahnung klammerte er sich förmlich an seine abgenutzte (graue) Aktentasche und hielt sie sich wie einen Schutzschild vor die Brust.

„Entschuldigen Sie bitte. Ich wollte nicht…“

„Das will ich auch stark hoffen!“ unterbrach ich ihn. „Ihnen ist hoffentlich klar, dass Sie soeben beinahe die Grenzen des souveränen Königreichs Libertien verletzt hätten! Sind Sie im Besitz eines gültigen Reisepasses?“

„Nein, also ich meine ja, aber den habe ich doch jetzt nicht dabei.“

Ich hob missbilligend eine Augenbraue.

„Soso. Wie sieht es mit einem Personalausweis aus?“

„Ja, natürlich.“ Ohne die Aktentasche loszulassen holte er selbigen aus einer Innentasche seines Jacketts hervor.

„Nun Herr… Köppen. Ich denke ich kann Ihnen ein zeitlich begrenztes Visum ausstellen. Was ist der Zweck Ihres Aufenthaltes?“

„Der Zweck meines… geschäftlich, denke ich.“

Ohne auf seinen Protest zu achten nahm ich ihm den Ausweis aus der Hand und griff zum Stempelkissen. Wenige Sekunden später überreichte ich ihm seine vorläufige Aufenthaltsgenehmigung. „Das dürfte fürs Erste genügen, zumindest bis die offiziellen Dokumente eintreffen. Wenn sich jemand beschwert, verweisen Sie ihn bitte einfach an mich.“

Köppen starrte misstrauisch auf seinen gestempelten Ausweis.

„Ist das ein Einhorn?“

„Das königliche Siegel.“ entgegnete ich würdevoll.

Er blinzelte mehrmals nervös, schien sich dann aber zu sammeln.

„Das ist genau das, worüber ich mit Ihnen reden wollte.“ Er öffnete seine Aktentasche mit einer umständlichen Geste und holte ein beschriebenes Blatt Papier daraus hervor. „Sehen Sie Herr Müller…“

„Korrekt heißt es, ‚Ihre Exzellenz und königliche Hoheit Peter der Erste‘.“ musste ich ihn erneut korrigieren. Mein Gegenüber blinzelte wieder mehrmals und schob sich die Brille mit dem Zeigefinger die Nase herauf. Er schien tatsächlich ziemlich eingeschüchtert von meiner königlichen Autorität, also beschloss ich, es ihm ein wenig einfacher zu machen. „Sie dürfen mich mit ‚Exzellenz‘ ansprechen.“

Weiteres Blinzeln.

„In Ordnung Herr Exzellenz.“ Es entstand eine peinliche Pause, aber ich tat ihm nicht den Gefallen, sie zu füllen. „Sehen Sie, es geht um den Brief, den wir von Ihnen erhalten haben…“

„Meine Unabhängigkeitserklärung.“

Er starrte kurz aber intensiv auf den Zettel in seiner Hand und hob dann wieder den Blick.

„Ja. Die Stadtverwaltung schickt mich…“

Ich machte eine auffordernde Geste. „Nur weiter!“

„Also ich hätte da… ich meine wir hätten da noch einige… Fragen.“

„Sicherlich, was die diplomatischen Beziehungen angeht. Aber wo habe ich denn meine Manieren?“ Ich deutete mit der rechten Hand einladend in den Flur während ich mit der linken hinter mir nach dem CD-Spieler tastete, den ich extra für solche Fälle dort platziert hatte. Mit dem Fuß versetzte ich dem roten Teppich einen dezenten Tritt und dann einen weniger dezenten, weil sich das störrische Ding nicht auf Anhieb ausrollen wollte.

Herr Köppen kam meiner Einladung nach kurzem Zögern nach und trat in den Flur. Endlich fand ich den Play-Knopf des CD-Spielers und aus den Lautsprechern dröhnte unvermittelt die libertische Nationalhymne: ‚Freiheit‘ von Marius Müller Westernhagen. Wie es das Protokoll befahl salutierte ich zackig.

„Herr Köppen, es ist mir eine außerordentliche Ehre, Sie als Abgesandten unseres Nachbarlandes und langjährigen Wirtschaftspartners, der Bundesrepublik Deutschland, im Namen seiner Exzellenz, Peters des Ersten und des gesamten libertischen Volkes willkommen zu heißen!“

Köppen spähte vorsichtig ins Wohnzimmer.

„Wieviele Leute sind denn außer Ihnen noch hier?“

„Reden sie keinen Unsinn, Herr Botschafter! Wir haben noch nicht einmal offiziell diplomatische Beziehungen aufgenommen und Sie wollen schon mit mir über Einwanderungspolitik verhandeln.“

„Ich bin eigentlich nur Sachbearbeiter…“

„Papperlapapp! Hätte man denn einen Sachbearbeiter mit einer so wichtigen Aufgabe betraut?“ Köppen sah mich zweifelnd, aber wie ich meinte auch ein wenig geschmeichelt an.

„Champagner?“

Ich hatte diesen Staatsempfang bis ins letzte Detail geplant. Nichts war so wichtig, wie der erste Kontakt mit unserem potentiell wichtigsten außenpolitischen Partner. Man konnte sogar so weit gehen zu behaupten, das Überleben unserer jungen Monarchie hinge davon ab. Der Empfang tat seine Wirkung. Zumindest hatte Köppen aufgehört, sich krampfhaft an seine Aktentasche zu klammern. Er streckte die Hand nach dem dargebotenen Champagnerglas aus.

„Ja, warum n… Nein, warten Sie! Ich darf im Dienst keinen  Alkohol trinken.“

Ich verbarg meine Enttäuschung hinter einem staatsmännischen Lächeln und deutete auf den Beistelltisch. „Aber gegen einen kleinen Happen zwischendurch wird doch nichts einzuwenden sein, oder?“

„Nein, nein. Ich glaube nicht.“ antwortete Köppen und griff vorsichtig nach einem Schinkenbrötchen. „Danke.“ brachte er mit vollem Mund hervor. „Herr M… Exzellenz, wir müssen über diesen Brief reden.“

„Die Unabhängigkeitserklärung. Aber bitte setzen Sie sich doch.“

Köppen nahm im linken Sessel Platz, ich im rechten.

„Danke, aber Herr M…“

„Lächeln, für das offizielle Foto!“

„Welches Foto?“

Bevor er es sich anders überlegen konnte zückte ich mein Handy, rückte lächelnd einen halben Meter näher und schoss vom ausgestreckten aus Arm ein Foto. Vier Megapixel waren nicht optimal und Köppens verdatterter Gesichtsausdruck machte das Ergebnis nicht besser, aber es würde der Presse genügen müssen. Köppen rückte soweit es der Sessel erlaubte von mir ab. Ich musste den Tatsachen ins Auge sehen, es lief nicht sonderlich gut, also setzte ich mein gewinnendstes Lächeln auf und sagte:

„Aber bitte entschuldigen Sie, ich hatte Sie unterbrochen, Herr Botschafter.“

„Ja. Also wie ich bereits sagte, es geht um Ihren… um die Nachricht, die Sie uns haben zukommen lassen.“ Köppen holte tief Luft. „Sie möchten also Ihre Unabhängigkeit von der Bundesrepublik Deutschland erklären und beanspruchen…“ Er sah wieder in das Schreiben. „…das dritte Obergeschoss links in der Günzelburgstraße 127 als Staatsterritorium.“

„Nein.“ Ich mag mich irren, aber er schien über meine Antwort erleichtert.

„Nein?“

„Nein.“

„Gut. Also dann…“

„Ich möchte nicht meine Unabhängigkeit erklären, ich habe sie erklärt. Und die von ihnen beschriebenen Ländereien sind seit jeher die kulturelle und geografische Heimat meines Volkes.“

Köppen sah sich wieder nervös um.

„Ihres Volkes? Sind Sie ganz sicher, dass hier nicht noch andere… Leute sind.“

„Absolut Herr Köppen! Sie müssen sich keine Sorgen machen.  Libertiens Grenzen sind sicher.“

„Gut, gut.“ Köppen nahm sich ein weiteres Brötchen, diesmal mit Käse belegt. So langsam kam die ganze Sache ins Rollen. „Also es ist so: Sie können sich nicht einfach unabhängig erklären und eine Monarchie ausrufen.“

„Oh Pardon Herr Botschafter, aber genauso ist es in der Geschichte schon hunderte von Malen passiert.“ Ich hatte keine Ahnung ob das stimmte. Er aber offenbar auch nicht.

„Das mag ja sein, aber… verstehen Sie denn nicht, das alles hier gehört eigentlich nicht wirklich Ihnen, sondern dem Staat.“

Jetzt hatte ich ihn!

„Hah, und warum heißt es dann ‚Eigentumswohnung‘?“

Köppen wand sich unbehaglich im Sessel.

„Es heißt Eigentumswohnung weil… Das ist jetzt hier überhaupt nicht das Thema! Sie sind immer noch Bürger der Bundesrepublik Deutschland und nicht König von Libertien!“

Er begann den Boden unter den Füßen zu verlieren, das spürte ich ganz deutlich.

„Schämen Sie sich, Herr Botschafter, einem harmlosen kleinen Nachbarland und seinem Staatsoberhaupt so unverhohlen zu drohen – gerade bei dem historischen Hintergrund, vor dem ihr Deutschen euch bewegt. Ich frage mich, was die Vereinten Nationen wohl dazu sagen würden…“

„Ich habe Ihnen doch gar nicht gedr… Die Vereinten Nationen?“ Jetzt flackerte Köppens Blick unsicher. „Sind Sie dort etwa Mitglied?“

„Nun, noch nicht.“ antwortete ich genüsslich. „Aber man hat mir mitgeteilt, dass mein Aufnahmeantrag wohlwollend geprüft würde.“

„Wohlwollend geprüft.“ Wiederholte Köppen tonlos. Ich hatte sie diplomatisch ausmanövriert. Jetzt war es an der Zeit, das Ruder herumzureißen und der BRD eine Tür zu öffnen.

„Ich kann Sie ja sogar verstehen, Herr Botschafter.“

„Tatsächlich?“

„Selbstverständlich! Es ist doch ganz natürlich, dass der Unterschied in der Wirtschaftskraft unserer beiden Länder einen gewissen Neid Ihrerseits hervorruft.“

„Neid?“ Köppens Stimme war nur mehr ein Flüstern. Er warf einen nervösen Blick Richtung Flur.

„Natürlich. Bis vor wenigen Tagen war ich wie Sie lediglich Bürger eines Staates mit marodem Wirtschaftssystem, korrupten Politikern und Wirtschaftsbossen, einem undurchsichtigen Steuersystem und einer Schuldenlast von über fünfundzwanzigtausend Euro pro Kopf.“ Ich machte eine weit ausholende Geste, die das gesamte Staatsgebiet einschloss. „Und jetzt sehen Sie sich um!“

Köppen tat es und sah mich anschließen fragend an.

„Libertien ist unabhängig! Libertien hat eine Staatsverschuldung von Null, wir verfügen sogar über Rücklagen von umgerechnet zweihundertdreiundfünfzig Euro siebundsechzig pro Kopf.“ Ich hob beschwichtigend die Hände „Das ist nicht die Welt, ich weiß, aber es ist ein Anfang und mehr, als die meisten anderen Länder derzeit vorweisen können. Und am allerwichtigsten: Libertien hat Vollbeschäftigung, unsere Arbeitslosenquote beträgt null Komma null.“

„Also so habe ich das noch nie betrachtet.“ antwortete Köppen unverbindlich. Dann fiel sein Blick wieder auf die Unterlagen in seiner Hand. „Aber Ihnen muss doch klar sein, dass man Ihnen die Heizung abstellen wird, das Wasser und den Strom.“

Ich wedelte ungeduldig mit der Hand.

„Unbedeutende temporäre Engpässe. Ich habe eine Zisterne auf meinem Balkon eingerichtet, gleich daneben wächst ein Orangenbäumchen, das mir nicht nur heimische Früchte, sondern im Winter auch Brennholz liefern wird. Und was den Strom angeht…“

„Ja?“ Köppen sah mich zweifelnd an.

„Ich habe mir Hamster besorgt.“

„Hamster?“

„Ja, ein Männchen und ein Weibchen. Und einen ausreichende Vorrat an Laufrädern. Sie sehen, Libertien ist bestens vorbereitet, um schon bald eine autarke Energieversorgung sicherzustellen.“

„Laufräder.“ murmelte Köppen nachdenklich. Offenbar ging ihm endlich die Genialität meines Planes auf. Er sah mich lange nachdenklich an, dann straften sich seine dürren Schultern. „Nun Herr äh… eure Exzellenz, ich denke wir haben dann alles Notwendige besprochen. Wenn Sie erlauben, werde ich mich jetzt verabschieden.“

„Selbstverständlich. Ich bin sicher Ihre Pflichten und Aufgaben sind mindestens ebenso zahlreich wie die meinen, Herr Botschafter.“

Köppen wollte sich erheben, aber ich hielt ihn zurück.

„Wo wir gerade davon sprechen…“

„Ja?“ fragte er. Sein linkes Augenlied begann unkontrolliert zu zucken.

„Junger Mann, ich möchte nicht eingebildet erscheinen, aber ich habe eine recht gute Menschenkenntnis…“

Köppen erbleichte merklich und fragte flüsternd: „Wirklich?“

„…und ich kam nicht umhin zu bemerken, dass Sie ein Mann mit Ehrgeiz, Durchsetzungsvermögen und Zielen im Leben sind.“

Köppen wich noch weiter in die Sesselpolster zurück und sagte: „Hören Sie, ich wollte Ihnen wirklich nicht zu nahe… was?!“

„Menschen von solcher Integrität wie Sie sie heute gezeigt haben, findet man nicht mehr häufig und daher hatte ich mich gefragt, ob Sie sich vorstellen könnten, libertischer Botschafter in der Bundesrepublik Deutschland zu werden?“

Diese Ehre war offenbar zu viel für ihn, denn alles, was er hervor brachte war „Hrgs.“

„Sie müssen sich natürlich nicht jetzt entscheiden.“ sagte ich beschwichtigend. „Ich bin mir sicher, Ihre Dienste sind im diplomatischen Korps der Bundesrepublik derzeit unentbehrlich und Sie wollen niemanden im Stich lassen.“ Ich legte eine Hand auf seine, was ihn vor Ehrfurcht erzittern ließ. „Das respektiere ich natürlich.“

„Danke.“ stieß Köppen hervor und erhob sich plötzlich – vermutlich, damit er mein Angebot nicht doch noch aus einem Impuls heraus annahm. Er verneigte sich knapp.

„Eure Exzellenz, es war mir eine Ehre, aber ich muss nun wirklich gehen.“

„Natürlich, aber denken Sie über mein Angebot nach.“ antwortete ich, während ich ihn zur Staatsgrenze begleitete.

Alles in allem war dieser Empfang sehr gut verlaufen, dachte ich und war zufrieden mit den ersten Schritten Libertiens auf dem internationalen diplomatischen Parkett. Möglicherweise hatte ich mit der Abwerbung des Botschafters sogar die Einwohnerzahl meiner jungen Monarchie im Handstreich verdoppelt. Eine weitere Statistik, um die mich jede der westlichen Industrienationen beneiden würde.

Nachdem ich die Tür hinter Köppen geschlossen hatte und seine hastigen Schritte im Treppenhaus verklungen waren, griff ich zum Telefon. Ich wollte noch einmal versuchen, mich mit Königin Elizabeth der II. verbinden zu lassen. Gute Beziehungen zu den übrigen Königs- und Fürstenhäusern Europas konnten sich in der Zukunft noch als unschätzbar wertvoll erweisen.

Die Leitung war tot. Offenbar arbeitete die Telekom immer noch an der Einrichtung meiner Ländervorwahl. Also ließ ich stattdessen den ersten diplomatischen Empfang Libertiens im Geiste noch einmal Revue passieren. War tatsächlich alles glatt gegangen? Hatte Botschafter Köppen den richtigen Eindruck von meinem Königreich erhalten? Hatte ich bei der Demonstration militärischer Stärke (ein Baseballschläger neben der Haustür, zwei Schlagringe auf dem Beistelltisch und ein wie zufällig unter die belegten Brötchen geratenes Klappmesser) die Gratwanderung zwischen Subordination und Provokation gemeistert?

Möglicherweise stand ja eine Invasion bereits kurz bevor?

Aber auch darauf war ich vorbereitet. Vorräte waren beizeiten in die unzugänglichsten Winkel meines Schlafzimmerschrankes geschafft worden. In diesem Gebiet kannte ich mich aus wie kein zweiter und ich war zuversichtlich, von dort aus einen mehrjährigen Guerillakrieg führen zu können. Der libertische Winter konnte hart und gnadenlos sein. Er würde meine Feinde zermürben und ihnen letztlich den Kampfeswillen rauben.

Doch ich machte mir nichts vor. Bis dahin würde es ein hartes, entbehrungsreiches Leben werden. Aber schließlich zahlen wir für alles einen Preis, nicht wahr?

Es klopfte energisch an der Tür. Ich griff nach dem Klappmesser und zwei Brötchenhälften. Dann floh ich in den Wandschrank.