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Andreas Kurz: Küss mich in der Werbepause 

Laura war anders als die Mädchen, die ich früher so kannte. Laura war nämlich wunderschön. Auch die anderen sahen nicht schlecht aus, nein, sie waren hübsch, süß, nett, das schon, aber Laura war von jenem Kaliber, der einem Mann wie mir augenblicklich die Fähigkeit raubte, zusammenhängende Sätze zu sprechen. Oder den Straßenverkehr zu beachten. Laura hatte langes schwarzes Haar und einen Körper, von dem ich mir wünschte, ich dürfe ihn mal in Ruhe ein ganzes Wochenende lang anknabbern. Laura schoss meine Libido zum Mond und trieb mich näher zum Infarkt.
Kennengelernt habe ich Laura im Büro. Wir sind ein moderner Laden, Software, da ist Duzen Pflicht. Und locker musst du sein, wenn du nicht locker bist, passt du nicht ins Team. Also waren alle so verdammt locker. Bis Laura auftauchte und ihr Fahrgestell die Flure brennen ließ. Sie begann als Marketingassistentin und ich weiß bis heute nicht, ob sie irgendetwas konnte. Vielleicht hatte sie ja Talent. Vielleicht machte sie ihre Sache richtig gut. Ich habe es nie mitbekommen.
Kam ich ihr näher als fünf Schritte, wurden meine eingeübten Reflexe gelöscht. Mein Körper erstarrte und mein Sprachzentrum schaltete in ein Notprogramm, dessen einziger noch verfügbarer Wortlaut aus einem ausatmend langweiligen "öh-hm" bestand. Den konnte ich allerdings beliebig oft wiederholen.
Ich bildete mir ein, einzig dazu geboren worden zu sein, um diese Frau anzustarren. Solange, bis irgendwann ein Überdruckventil in meinem Inneren versagt und meine Schädeldecke in der Stratosphäre verschwindet.
Bei der Weihnachtsfeier fragte ich Laura, ob sie mal zu mir zum Essen kommen würde. Zu mir nach Hause. In meine Wohnung. Nur wir zwei. Ich war also ziemlich betrunken. Eigentlich hatte ich nichts weiter gewollt, als mir endlich meine Abfuhr bei ihr abzuholen und dann das übliche Alles-Scheiße-Weihnachten bei meinen Eltern zu verbringen.
Laura sah mich an, lächelte und sagte: Ja, gerne.
Ich sagte: "Toll! - Wann?"
Sie sagte: "Morgen?"
Ich sagte: "Um Sieben?"
Sie sagte: "Schön, ich freue mich."
Ich sagte: "Öh-hm ..."

Als Laura am nächsten Abend leibhaftig vor meiner Tür stand und auf den Summer drückte, waren rund tausend lange Stunden durchs Land gekrochen. So empfand ich es. Stunden, in denen ich wenigstens Zeit hatte, mich um ein Abendessen zu kümmern, das in krassem Gegensatz zu meinen rudimentären Kochkenntnissen stehen sollte. Meine mütterliche Nachbarin Frau Schultze half mir. Denn sie kochte gerne und gut und ich bezahlte sie fürstlich dafür. Sie hängte sich rein und erklärte mir auch, wann ich welchen Topf auf welcher Platte mit welcher Gradzahl warm zu halten hätte. Ich schrieb es mir auf, selbst das hätte ich mir nie merken können.
Ich stellte jene Kerzen auf den Tisch, die ich zu meinem siebzehnten Geburtstag geschenkt bekommen hatte und der nun doch schon ein paar Jahre zurücklag. Die Farben waren bereits wieder modern. Natürlich gab es Champagner. Ich hatte geduscht, war neu eingekleidet, ich hatte getan, was alle Männer in meiner Situation tun würden. Aber ich glaubte nicht, was geschah. Ich war zutiefst davon überzeugt, dass mir Laura nicht zustand, das Schicksal diesen Irrtum bald bemerken und korrigieren würde. Ich öffnete die Tür und wäre nicht überrascht gewesen, wenn mir ein Taxifahrer mit einer Kippe im Maul wortlos einen Zettel in die Hand gedrückt hätte, auf dem mit Lippenstift "Sorry, L-Punkt" geschrieben steht. Auch über einen breitschultrigen Schläger wäre ich nicht erstaunt gewesen, der mich erst nach hinten gegen die Wand schubst und mir dann mit leisem Bariton aus einem Zentimeter Entfernung ins Gesicht murmelt: "Du lässt deine Scheiß Wurstfinger von diesem Klasse-Mädchen, kapiert?"
Was mich vollends aus dem Konzept brachte, war ihre tatsächliche Leibhaftigkeit. Ich öffnete die Tür und sie stand vor mir. Pünktlich und in allen drei Dimensionen.
"Hi", sagte sie und gab mir einen Kuss auf die Wange. Ich roch ihr Parfüm und die Seife, auch sie musste erst kürzlich geduscht haben. Sie trug ein dunkles, enganliegendes Kleid und ich sah im Moment des Kusses in ihrem Dekolleté ein wenig von der Spitzenverzierung ihrer Unterwäsche, edle Dessous in der Art, wie sie die Mädchen auf den Plakaten an den Bushaltestellen tragen.
Wie der Glöckner von Notre Dame schlurfte ich ihr ins Wohnzimmer hinterher.
"Nett hast du es hier", sagte sie.
Ich grunzte eine Antwort und zog den Champagner aus dem Eisfach.
Okay, Schicksal, dachte ich, du spielst also mit mir. Ich schenkte die Gläser voll, servierte das Essen, parlierte in netter Form über Musik und Literatur und drängte artig die Bilder in meinem Inneren zur Seite, die ausschließlich unser beider nackten, schwitzenden Leiber zeigten, wie sie kurz vor einem endgültigen, alles Leben löschenden Orgasmus zuckten.
Da nahmen die Dinge eine unerwartete Wendung. Denn sie sah mich plötzlich mit weit aufgerissenen Augen an und sagte: "Oh, mein Gott, welcher Tag ist heute? Samstag? Ist heute wirklich Samstag?"
Ich nickte.
"Weißt du, das ist mir schrecklich peinlich jetzt, aber heute zeigen sie Außer Atem von Jean-Luc Godard mit Belmondo und Seberg in der Hauptrolle."
Ich glotzte sie an wie ein Mann, der seine Hose gerade über einen Stuhl gefaltet hat und nun sieht, wie sich der Vorhang öffnet und er auf einer großen Bühne steht.
"Du willst fernsehen?" fragte ich.
"Na ja, natürlich nicht, ich bin ja jetzt hier bei dir und du hast dir schrecklich viel Mühe gegeben, mit dem Essen und dem allen, aber du ahnst sicher nicht, was Godard für mich bedeutet. Ich halte ihn für einen Gott und ich liebe seine Filme, verstehst du, ich kenne jedes Wort, jede Szene und Außer Atem ...kennst du Außer Atem?"
"Weiß nicht. Ist er schwarzweiß?"
"Oh ja. Ich wünschte mir, ihn noch nicht zu kennen. Ich beneide dich darum, Außer Atem noch nicht gesehen zu haben. Wow! Alle Szenen neu und überraschend, die vielen Kleinigkeiten noch nicht entdeckt. Wie muss das schön sein."
Zehn Minuten später saßen wir auf der Couch vor dem Fernseher. Vom ersten Abendessen bis zum gemeinsamen stummen Fernsehen in weniger als einer Stunde. Es soll Paare geben, die brauchen dazu mehr als drei Jahre. Wahrscheinlich gerät der gesamte Kosmos aus dem Gleichgewicht, wenn so ein Durchschnittstyp wie ich mal einen echten Engel poppt.
Ich nippte an meinem Rotwein, schob Erdnusslocken rein und sah einem Arschloch beim Kettenrauchen zu. Auf den Straßen parkten alte Citroens und Renaults. Ich verstand nicht mal, worum es überhaupt ging. Der junge Belmondo sah aus, als hätte er schon ein paar Mal mächtig eins auf die Fresse gekriegt. Wenn Laura solche Typen anmachen, bin ich ja genau der richtige.
Sie streifte ihre Schuhe ab und zog ihre Beine hoch auf die Couch. Dabei rutschte ihr Kleid ein wenig nach oben und ich saß fortan nur Zentimeter neben den wohl grandiosesten Beinen meines Lebens. In manchen Szenen murmelte sie die Dialoge mit. Ich überlegte, ob ich schnell mit dem Lift aufs Dach fahren sollte und dort den Mond anheulen. Mitten in diesen wenig ergiebigen Gedanken packte Laura mich, riss mich um auf ihren Schoß, drückte ihre Lippen gegen meine, küsste mich leidenschaftlich, fuhr mir mit einer Hand unter mein Hemd, öffnete mit der anderen die Knöpfe und seufzte wie ein Teddybär, der umfällt. Ich spürte ihre Zunge in meinem Mund, sah etwas Buntes flimmern - das war kein Schwarzweißfilm mehr, ein grünes Segelschiff neigte sich im Wind, Bierflaschen streckten sich ins Bild, mein Gott, es war die Werbepause!
Ich griff nach ihr, wollte mich aufrichten, doch sie ließ mich nicht, hielt mich unten, ihre Haare breiteten sich wie ein Vorhang um mein Gesicht, sie flüsterte, der junge Belmondo mache sie ungeheuer an und ich dachte: Scheiß Franzosenpack und knautschte ich an ihrem Kleid herum, doch nirgends ließ es sich öffnen, überall nur Nähte und Stoff ...
Mitten im Kuss verließ sie mich.
Ich fühlte ihre Gedanken forteilen wie eine Meute junger Hunde, die ein anderes Spielzeug entdeckt haben. Belmondo sagte "Hab dich nicht so". Laura setzte sich wieder kerzengerade hin und ihr autistischer Blick versank in meinem Fernseher. Nun geriet auch ich außer Atem. Ich fühlte mich wie eine Mondrakete beim Start, die man an der Rampe festgeschraubt hatte. Ich sollte mit dem Kettenrauchen beginnen. Drogen nehmen. An schwarzen Messen teilnehmen. Ich nahm mein Glas und schüttete den Champagner runter. Lauras Kleid war noch weiter nach oben gerutscht. Darunter schimmerte schwarze Spitze. Meine Hände begannen zu zittern. Bevor mir endgültig alle Sicherungen durchbrannten, verschwand ich im Bad, hielt mein Gesicht unter die Wasserleitung und starrte mich dann im Spiegel an. Ich hörte, wie das Schicksal über mich lachte.
Als ich zur Couch zurückkehrte, hatte sie sich ihr Kleid ausgezogen. Es lag neben ihr auf dem Boden. Ohne ihren Blick vom Fernseher zu nehmen, deutete sie mir, mich wieder neben sie zu setzen.
"Du hast eine wichtige Stelle verpasst," sagte sie leise, "jetzt schau, sie werden gleich miteinander schlafen, damals war das eine ungeheure Provokation. 1959, stell dir vor. Außer Atem ist seiner Zeit weit voraus."
Ich sah nicht hin, was interessierte mich der Blödsinn, mein Blick scannte ihren Körper. In hoher Auflösung. Ich hatte eine leibhaftige Dessouswerbung auf meiner Couch sitzen. Schwarze Spitze mit transparenten Seidenapplikationen. Ich hockte mich neben sie. Belmondo rauchte schon die Hinterher-Zigarette. Geht offensichtlich schnell bei dem. Ich wollte die Zeit nutzen und mich vorbereiten. Ich zog mein Hemd aus. Dann meine Hose. Sie schien keine Notiz davon zu nehmen. Belmondo cruiste in einem fetten Amischlitten durch Paris. Schnitt, eine Farbexplosion, ein paar Bierflaschen, "sail away", halleluja, die Werbung, endlich!
Laura wandte sich mir zu. "Oh, du trägst ja kein Hemd mehr, Chérie." Sie sagte wirklich Chérie und drückte mich zur Seite, dann warf sie sich flach auf mich, ich rubbelte ihren Rücken, immer nur diesen glatten blöden Rücken, ich versuchte den BH aufzufummeln, sie biss in mein Ohrläppchen, hauchte verstörende Worte, meine Hände versuchten es weiter unten, dieser göttliche Hintern, warum habe ich nicht längere Arme, ein Schimpanse müsste man sein.
Sie stöhnte und ich sah bereits das Himmelstor, seine Pforten öffneten sich mir, strahlend fiel Licht aus dem Inneren.
Da hörte ich die Ankündigung für eine neue Krimiserie. Bei so dämlichen alten Filmen kriegen sie ja die Werbeblöcke nicht voll. Ich bekam eine Panikattacke, da, das Bild wieder schwarzweiß, filterlose Zigaretten, sie richtete sich auf, starrte in den Kasten und ich war wieder stillgelegt.
Mit den dürren Worten, noch etwas Trinkbares aus dem Keller holen zu wollen, rannte ich raus. In meinem ältesten Jogginganzug schrie ich in der Tiefgarage die parkenden Autos an. Einem völlig unschuldigen Fiat trat ich einen Scheinwerfer ein und verletzte mich dabei am Fuß. Ich trommelte auf Motorhauben und brach Antennen ab. Dazu heulte ich wie ein Wolf und glaubte zu spüren, wie mir Krallen und Reißzähne wuchsen. Völlig verschwitzt und mit blutendem Fuß kehrte ich in die Wohnung zurück. Laura starrte in die Kiste, als hörte sie die Offenbarung. Ich ließ mich neben sie auf die Couch fallen. Fast wäre es mir gar nicht aufgefallen. Außer einem Piercing im Bauchnabel trug sie lediglich noch Nagellack. Kein Quadratzentimeter ihres Körpers schien Zufall zu sein. Keine Stelle war nicht von pflegender Hand aufbereitet worden. Kein Härchen wuchs noch einfach vor sich hin. Ich starrte sie von der Seite an. Ich hörte Stimmen, Menschen schrieen, Polizeiautos heulten, Belmondo schien Probleme zu kriegen, wann krepiert der Kerl endlich ...da! ...wieder das verdammte Bier, gleich geht's weiter, bleiben sie dran.
Laura sah mich an.
"Wie siehst du denn aus?" fragte sie.
Ich hatte noch immer den Jogginganzug an, die Haare pappten mir strähnig im verschwitztem Gesicht, mein Fuß blutete, meine Hände schmerzten und ich glaube, ich hatte auch jenen Blick drauf, der Frauen im allgemeinen in die nächste Polizeiwache stürzen lässt, um dort mitzuteilen, sie hätten gerade den Würger gesehen.
"Du blutest ja, schau nur, du machst den Teppich ganz schmutzig, ich hole dir ein Taschentuch."
Laura stand auf, holte aus dem Badezimmer ein paar Kleenex und tupfte das Blut von meinen Zehen. Obwohl sie nicht den Hauch von irgendwelchen Textilien trug, bewegte sie sich wie selbstverständlich. Ich merkte, wie mir Grunzlaute entwichen, die ich nicht mehr unter Kontrolle hatte. Schaum stand mir bald auf den Lippen. Ich begann zu zittern. Sie fühlte mir die Stirn.
"Du fieberst", meinte sie besorgt, "du gehörst ins Bett."
"Ja", röchelte ich, "genau da wollte ich eigentlich hin."
Sie führte mich hinüber in mein Schlafzimmer, aber es gelang mir nicht, sie zu packen und mit ins Bett zu ziehen, zu schwach war ich schon, zu wirr meine Sinne, zu trocken mein Hals. Ich konnte gerade noch erkennen, wie dieser nackte Engel mein Zimmer verließ und war mir sicher, jetzt sterben zu müssen.
Leider wachte ich am nächsten Morgen wieder auf. Fand ihren Zettel auf dem Küchentisch. Mach's gut, Laura.
Ich schlich am Montag wieder brav in die Firma, traf sie mittags in der Kantine, fragte sie nach einem nächsten Treffen, holte mir die erwartete Abfuhr, Gottseidank, denn so war ich wieder zurück in meiner Welt. Momentan läuft gerade eine Anzeige gegen mich, weil ich ein Kinoplakat angezündet haben soll. Die Nacht des französischen Films. Mal sehen, ob sie es beweisen können.