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Ralf Kratzert: Zanderballade 

Der Mann, der nicht wusste, dass er diese Nacht nicht überleben würde, entspannte den Bügel seiner Rolle und hielt die Schnur mit dem Zeigefinger. Dann legte er die Rute über seine rechte Schulter und ließ sie mit einem Zischen nach vorne sausen.

Fred sah dem roten Schwimmer nach, der wie in Zeitlupe über das spiegelglatte Wasser des Sees flog, sich langsam senkte und mit einem leisen Platschen genau unter den Weiden ins Wasser sank.

"Hast du gesehen!", rief der Mann. "So macht man das. Genau dort stehen sie, genau dort!"
"Ja, sicher.", machte Fred.
Der Mann setzte sich zufrieden grunzend in seinen Klappstuhl und öffnete mit einem Plopp eine Bierflasche.
"Auch eins?", fragte der Mann.
"Nein.", sagte Fred, "nein danke."

Fred beugte sich wieder über seine Rute. Bei seinem Versuch, unter die Weiden zu werfen, war er in den herabhängenden Ästen hängen geblieben und hatte sich die Schnur abgerissen. Jetzt musste er seine Angel neu aufbauen. Stopper für den Schwimmer, Laufkarabiner für das Blei, Knoten für den Karabiner, der das Vorfach hielt und dann das Vorfach. Er hatte eine 35er Schnur aufgezogen. Ein 28er Vorfach oder das 32er? Das 32er mit dem großen Drilling, man wusste ja nie.
Fred dachte an Lisa.

Der Mann grunzte und Fred sah wieder auf.
"Wind", sagte er verächtlich. Fred kannte diesen Tonfall nur zu gut. Er sah das gekräuselte Wasser des Sees und spürte einen leichten Luftzug. Ihn fröstelte. "Wind ist nicht gut für Zander."
"Vielleicht sollten wir auf Schleien...?"
"Ah," machte der Mann. "Wer will eine Schleie."

Fred schnitt ein kleines Stück aus der Seite einer toten Rotauge und drapierte es auf den Drilling. Dann blickte er auf den See. Die Sonne war nun fast untergegangen und warf einen rötlichen Schimmer in die Weiden. Fred konnte nicht auch noch unter die Weiden werfen, sonst würden sich die Schnüre der Angeln verheddern. Er legte das Messer wieder auf die Tasche und stand auf.

"Da hinten am Steg...", überlegte er laut.
"Viel zu offen.", brummte der Mann.
"Draußen, wo es tiefer ist?"
"Da ist das Wasser zu kalt." Der Mann riss ein Streichholz an und hielt es über seine Pfeife. Sofort stieg bläulicher Rauch auf. Fred stand dicht hinter dem Mann. Er machte die Augen zu und atmete langsam und tief ein. Plötzlich war ihm, als wäre er wieder klein, als wäre alles noch ein weißes Blatt Papier. Als wäre alles noch nicht geschehen.

"Da hinten an der alten Eiche, da habe ich schon mal einen rausgezogen."

Der Mann winkte gelangweilt mit seiner Pfeife in die Richtung der alten Eiche und setzte dann die Bierflasche an. Bei jedem Schluck wanderte sein Adamsapfel nach oben und unten.

"Ja, sicher. Bei der alten Eiche."
Fred entspannte den Bügel seiner Rolle und hielt die Schnur mit dem Zeigefinger. Dann legte er die Rute über seine rechte Schulter und ließ sie mit einem Zischen nach vorne sausen. Er hatte den Wurf zu steil angesetzt und sein Schwimmer, sein Blei und sein Drilling mit dem Stück Rotauge klatschten laut ins Wasser.

Der Mann drehte seinen Kopf.
"Danke, das haben sie bestimmt drüben im Dorf noch gehört."
"Entschuldigung", sagte Fred und ließ den Bügel der Rolle mit einem Klacken einrasten. Er legte die Rute in die Astgabel, die er vor sich in den Boden gerammt hat. "Es tut mir leid."

Langsam wurde es Nacht. Noch nicht ganz dunkel, nicht mehr hell. Das rötliche Licht in den Weiden wurde grau. Schatten der herabhängenden Äste verschwanden im Nichts. Die Stockenten, die vorher noch an den Schwimmern vorbeigeschwommen waren, waren längst in ihren Nestern. 

Der Mann saß still in seinem Klappstuhl, langsam stieg grauer Rauch aus seiner Pfeife, die Schwimmer standen ruhig wie Schilfrohre im See, ab und zu das Bellen eines Hundes aus dem nahen Dorf, das Schreien eines Käuzchens, dann kam die Stille, dann kam die Nacht.

Lisa war zu jung. Man hätte ihr das nicht sagen dürfen, dachte Fred. Alle haben sie damals gelacht, als er es gesagt hatte, auf dem Dorffest, am Biertisch. Sie waren betrunken. Aber nein, Lisa war doch noch so jung. Man hätte ihr das nicht sagen dürfen. Wer weiß schon, was man im Kopf eines jungen Mädchens mit so etwas anrichtet. Man hätte ihr das niemals sagen dürfen.

"Ha...!", macht der Mann, sein Klappstuhl knarzte, dann stand er hinter seiner Rute. "Hast du das gesehen?"

"Nein, was denn?"
"Der Schwimmer war fast weg, schau nur!"
"Ich seh' nichts.", sagte Fred.
"Da, der Schwimmer war fast ganz unten...!"

Fred sah den Schwimmer des Mannes unter den Weiden. Er wackelte. Im Wasser um den Schwimmer waren kreisförmige Wellen.
"Das war ein großer, der ist vorsichtig.", flüsterte der Mann. "Der kommt wieder."
"Soll ich den Kescher holen?", flüsterte Fred
"Ruhig.", sagte der Mann, "Sei jetzt ganz ruhig."

Der Mann nahm die Rute aus der Astgabel, das Endstück an die rechte Hüfte, die Hand an die Rolle. Er drehte die Schnurbremse etwas fester. Fred konnte ihn atmen hören. Er roch den Tabak und das Bier. Es war totenstill. Fred starrte auf den Schwimmer, der vom letzten Zupfen noch leicht nachwippte. Langsam verschwanden die Wellen um den Schwimmer. Er sah den Mann zittern, seine Hand an der Rolle zittern. Minuten vergingen, das Zittern des Mannes ließ nach und hörte schließlich ganz auf. Er legte die Rute zurück in die Astgabel und setzte sich murrend in seinen Klappstuhl.

"Vielleicht solltest du einholen und sehen, ob der Köder noch dran ist?"
"Setz dich wieder hin.", raunte der Mann und griff nach seiner Pfeife.

Der Schwimmer unter den Weiden stand nun wieder still wie ein Schilfrohr. Fred sah auf das schwarze Wasser. Stille. Ein Hund bellte. Dann wieder Stille. Fred versuchte zu ergründen, wie er sich fühlte. Aber da war nur Schwarz. Er dachte an sein erstes  Fußballtor und fühlte nichts. Er dachte an seinen ersten Lachs und fühlte nichts. Einmal war er mit einer 4 pfündigen Schleie nach Hause gekommen.  Das war an dem Tag von dem Dorffest. Nur Idioten würden Schleien fangen, lachte der Mann am Biertisch. Das war nicht schlimm. Dann sprach er über Lisas Mutter.

"Ha, jetzt!", zischte der Mann. "Schau!"
Fred zuckte.
"Was?"
"Da, der Schwimmer, sieh doch!"

Fred sah, wie der Schwimmer zuckte und dann nach links in Richtung der Seerosen wanderte.

"Hau an.", flüsterte Fred.
"Nein, sagte der Mann, ein Zander schnuppert erst, der trägt den Köder erst herum. Der spielt, bevor er zubeißt..."

Der Mann beugte sich herüber. Fred stand direkt neben dem Mann. Er spürte seine Wärme, sein Zittern, roch den Tabak und das Bier.

"Jetzt!", schrie der Mann. Er riss seine Rute nach hinten, der Schwimmer verschwand, die Rute bog sich nach vorne und sofort hörte man das Surren der Schnurbremse.

"Das ist ein Großer!", schrie der Mann.
"Ja!", schrie Fred. Er sprang auf und griff nach dem Kescher.

Die Rute des Mannes bog sich fast bis zum Wasser. Immer wieder surrte die Schnurbremse. Fred sah die angespannten Oberarme des Mannes unter seiner Weste. Wieder zitterte er. Seine Backen bewegten sich, als würde er kauen.

Das sieht seltsam aus, dachte sich Fred. Das ist mir noch nie aufgefallen. Fred legte den Kopf schief, beide Arme hingen schlaff am Körper herab, in der rechten Hand, der Kescher. Er betrachtete den Mann. Das erste, was ihm auffiel, war seine große rote Nase, die sich bei jedem Atemzug aufblähte. Dann seine abfallenden Schultern, seine großen fleischigen Ohren. Fred sah, dass die Glatze des Mannes im Mondlicht glänzte. Für einen kurzen Moment durchströmte ihn ein altes Gefühl von Wärme, von Zuneigung. Fred schüttelte sich.

"Das ist ein Mordsbrocken!", presste der Mann.
"Ja, bestimmt." machte Fred.
"Der wird nicht so schnell müde, das kann dauern!"
"Ich hab den Kescher.", sagte Fred leise.

"Pah!", machte der Mann. Wieder surrte die Schnurrbremse und der Mann verlor ein paar Meter, die er dem Fisch vorher abgerungen hatte. Der Mond schien auf den ruhigen See und Fred sah, wie die gespannte Schnur das Wasser durchschnitt und sich auf das Schilf zubewegte.

"Er will ins Schilf.", sagte Fred.
Der Mann riss seine Rute nach rechts und versuchte den Zander vom Schilf wegzuziehen. Er drehte die Schnurbremse fester.
"Nicht zu fest, sonst reißt er ab.", flüsterte Fred.
"Pah!", machte der Mann wieder.

Fred ging einen Schritt zurück und sah dem Mann zu, wie er den Zander drillte. Er hätte nicht über Lisas Mutter sprechen sollen. Alle im Dorf wussten, dass Lisas Mutter anders gewesen war, verrückt könnte man sagen. Aber es war nicht recht, das vor Lisa zu sagen. Sie war doch noch so jung. Und es war noch nicht lange her, dass man ihre Mutter tot am Fluss gefunden hatte. Außerdem war doch Dorffest. Da sollte man keine Menschen ausrichten. Vor allem keine Toten.

"Du sturer Hund!" keuchte der Mann. Er stemmte sich mit aller Kraft gegen den Zander, der immer noch in Richtung Schilf zog.

"Er darf nicht ins Schilf.", sagte Fred.
"Das weiß ich selbst!", zischte der Mann und atmete schwer.

Fred blickte auf die Rute des Mannes. Er hielt sie hoch in die Luft, die Spitze bog sich fast bis aufs Wasser. Die Rute ächzte. Langsam schob sich eine Wolke vor den Mond. Fred zündete sich eine Zigarette an.

"Soll ich das Gaff holen?", fragte Fred.
"Idiot!", presste der Mann, während er immer noch versuchte den Zander vom Schilf wegzuziehen. "Wie sieht der Fisch dann aus? Total ramponiert!"
"Ich dachte nur..." sagte Fred ruhig.
"Pah!", macht der Mann.

Wieder zischte die Schnurbremse. Der Zander hatte plötzlich  die Richtung gewechselt und zog jetzt auf den offenen See hinaus. Fred inhalierte den Rauch seiner Zigarette und blickte auf den ruhigen See. Dann stieß er langsam bläulichen Rauch aus.

Das ganze Dorf war damals zum Fluss heruntergelaufen. Lisas Mutter lag im Uferschlamm, ihre Kleider waren nass und verdreckt. Ihr ganzer Körper war seltsam aufgequollen, Ihr Gesicht war schneeweiß, ihre Zunge ganz blau. In Ihrem Gesicht war ein Ausdruck ungläubigen Erstaunens. Fred hatte noch nie zuvor einen toten Menschen gesehen. Dann kam Lisa angelaufen. Sie schrie. Man brachte sie weg.

Fred nahm einen tiefen Zug.
"Siehst du, siehst du?!"
Fred drehte langsam seinen Kopf.
"Was, was denn?"
"Da, langsam wird er müde!"
"Das ist gut.", flüsterte Fred. "Das ist sehr gut."
"Hast du den Kescher?", keuchte der Mann, der ebenfalls erschöpft wirkte.
"Ja, sicher.", antwortete Fred. "Hier in meiner Hand."

Der Zander hatte fast die ganze Schnur von der Rolle gezogen, er musste sehr weit draußen im See sein. Der Mann drillte ihn nun immer näher ans Ufer. Er zog die Rute weit nach hinten über die Schulter und beim Zurücklegen nach vorne spulte er Schnur zurück auf die Rolle. Zurück und vor, immer wieder.

"Wie viel Meter hat er noch?", fragte Fred.
"Vielleicht zwanzig, höchstens dreißig.", machte der Mann. "Er ist müde geworden."
"Irgendwann werden sie alle müde.", sagte Fred leise.
"Ja genau...", keuchte der Mann. "Irgendwann werden sie alle müde."

Lisa war nicht mehr dieselbe, nachdem sie ihre tote Mutter im Uferschlamm des Flusses gesehen hatte. Ihre glänzenden blonden Haare waren noch da, ihre hellblauen, fast durchsichtigen Augen waren noch da, ihre Sommersprossen auch. Aber ihr Lachen war weg. Fred hatte versucht, ihr das Lachen wiederzubringen, aber da waren nur Tränen. Und als keine Tränen mehr da waren, kam das Schweigen.

Plötzlich ein lautes Platschen draußen im See.
"Jesus, Maria und Joseph!", brüllte der Mann aufgeregt. "Hast du das gesehen, hast du ihn springen sehen!?"
"Nein, nein, habe ich nicht...", stotterte Fred. Er schluckte und nahm einen letzten Zug von seiner Zigarette und inhalierte tief. Mit einem Zischen ließ er den Rauch wieder aus seinen Lungen.

"Der hat über 6 Pfund!" Der Mann keuchte nun heftiger und war sehr aufgeregt. Er drillte den Zander immer näher an das Ufer.

"Da, da ist er wieder, fünf Meter links vom Steg!"

Fred sah auf. Und dann sah er ihn zum ersten Mal. Träge zog er drei Meter vom Ufer vorbei. Es war ein riesiger Zander, es sah aus, als könnte er auch einen Meter haben. Er war müde, er konnte nicht mehr, das sah man. Ein letztes Mal schlug er mit seiner großen Schanzflosse. Dann ließ er sich führen.

"Her mit dem Kescher, her damit!", brüllte der Mann heiser.
"Ja, hier bin ich, hier.", Fred ging mit dem Kescher ein paar Schritte zum Ufer. Er senkte den Kescher mit dem Kopf in das seichte Uferwasser, dass der Mann den Zander ganz leicht über den Rand ziehen können würde. Der Zander war nur noch zwei Meter vom Kescherrand entfernt.

"Ganz ruhig, hörst du, ganz ruhig.", zischte der Mann.
"Ja.", flüsterte Fred. "Natürlich, ganz ruhig."

Und dann kam das Dorffest. Fred war schon frühmorgens am See und kam gegen Mittag mit dieser 4pfündigen Schleie zurück. Später gingen sie alle an die Biertische. Fred sagte zu Lisa, dass sie kommen solle, dass das bestimmt gut für sie wäre. Sie kam und beide setzten sie sich an den Biertisch zu dem Mann und anderen. Der Mann hatte schon einen roten Kopf und rote fleischige Ohren. Er schlug mit der Faust auf den Tisch und hielt Reden, alle lachten. Fred und Lisa setzen sich. Der Mann blickte auf und sah Fred. Fred erzählte von seiner Schleie und der Mann brüllte lachend, dass es leicht wäre, eine Schleie zu fangen, jeder Idiot könnte das - aber einen Zander, ja, einen Zander fangen, das könnten nur wenige, das wäre die hohe Kunst. Alle lachten. Dann sah er Lisa. Und er brüllte einfach weiter. Dass das Dorf sich prächtig entwickle, brüllte er, weil ja nun eine Verrückte weniger hier wäre. Kurzes Schweigen. Dann lachten alle, schon, weil sie nicht wussten, was sie sonst hätten tun sollen. Sie lachten einfach weiter. Und Lisa lachte mit ihnen. Fred hört Lisas Lachen noch heute. Dann stand sie auf und lief weg. Fred rannte ihr hinterher, er konnte sie nicht einholen, er verlor sie im Getümmel des Dorffestes. Er konnte sie einfach nicht mehr einholen. Die ganze Nacht hat er sie gesucht. Am nächsten Morgen fand er sie. Unweit der Stelle, wo sie ihre Mutter gefunden hatten, tot.

"Gleich hab ich dich, gleich hab ich dich...", zischte der Mann.
Der Zander war jetzt genau vor dem Kescher.
 
"Ich zieh ihn jetzt rein!", zischte der Mann.
"Ja, zieh ihn rein.", flüsterte Fred.

Fred hob den Kescherkopf um ein paar Zentimeter, als der Zander gerade darüber streichen sollte. Der Kescherkopf berührte den Zander. Es gab einen Riesenplatscher, der Zander schlug plötzlich wie wild um sich und mit einem letzten Schlag nach links löste er sich vom Haken und verschwand mit ein paar schnellen Schwanzschlägen im Schwarz des Sees. Leise schwappten die letzten Wellen an das Ufer, dann war es still.

"Das, das, das...", stotterte der Mann. "Das kann doch wohl nicht wahr sein!", brüllte der Mann heiser. Er hörte sich verzweifelt an.

"Er ist weg.", sagte Fred ruhig. Er zündete sich eine Zigarette an.
"Das sehe ich auch, verdammt noch mal!", brüllte der Mann, "Was ist passiert?", keuchte er, "Hast du ihn berührt?"
"Nein, ich habe ihn nicht berührt.", sagte Fred leise. "Ich habe ihn ganz sicher nicht berührt."

Fred ging zur Tasche, bückte sich und nahm das Messer. Der Mann stand immer noch am Ufer und hielt seine Rute in der Hand. Er starrte auf den See. Fred stand wieder auf und blickte zum Mann. Seine Schultern zuckten. Er ging näher und hörte ihn leise, sehr leise schluchzen. Fred stand jetzt direkt hinter dem Mann. Wieder roch er ihn, Tabak und Bier, spürte seine Wärme. Fred nahm einen letzten Zug. Dann warf er die Zigarette fort. Er legte eine Hand auf die zuckende Schulter des Mannes.

"Gut.", sagte Fred leise. "Es ist gut."